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Lichtspiele – Orgien aus Licht und Schatten

Orgien aus Licht und Schatten

| Barbara Wurm |

Die Retrospektive „lichtspiele“ versammelte in Leipzig mehrere Jahrzehnte deutscher Avantgarde- und Experimentalfilmgeschichte.

Die klassische Filmavantgarde ist in. Im Wiener MUMOK wird sie gerade offiziell musealisiert, als Bestandteil des Erbes der experimentierfreudigen und zumeist abstrakten Kunst zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts. Aber draußen bleibt die Zeit nicht stehen, und so haben auch die Jüngeren unter den Wilden manchmal die Chance, zu Klassikern zu werden. Das war – neben der obligatorischen Aufgabenstellung einer späten Parallel- oder gar Zusammenführung gesamtdeutscher Entwicklungsstränge – der kuratorische Ausgangspunkt für die diesjährige Retrospektive „lichtspiele“ des deutschen Bundesarchiv-Filmarchivs im Rahmen des 49. Internationalen Leipziger Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm.

Kegel, Streifen, Klötze

Es gibt, beginnend mit den 1920er Jahren, kein Jahrzehnt, das hier nicht mit zumindest einem Film vertreten gewesen
wäre. Für die klassische Avantgarde der 20er und (frühen) 30er Jahre, die – naturgemäß, möchte man sagen – den Kern der Schau bildete und deren Wieder-Sehen nicht nur aufgrund der großartig restaurierten Kopien, sondern durchaus in Folge origineller Programmierung auch für Auf-Sehen sorgte, mag das wenig überraschend sein. Ganze Namens-Cluster haben sich historisch festgesetzt: Hans Richter und Walther Ruttmann zum Beispiel, Viking Eggeling und Oskar Fischinger. Richters Rhythmus 23 (1923) und Vormittags-Spuk (1928) sowie Eggelings Symphonie diagonale (1923/24) sind Standardwerke, Ruttmanns ebenfalls in der ersten Hälfte der 20er Jahre gestaltete Serie Lichtspiel opus II-IV wurde für die Schau sogar titelgebend (op. I fehlte, aus welchem Grund auch immer). Was sich hier als Typologie der geometrischen Formen ins Bild schiebt, um gleich wieder zu verschwinden – die Klötze und Spiralen, diagonalen Streifen und Kegel –, tes-tet sämtliche Pole der reinen Existenz aus: zwischen starkem und schwachem Kontrast, Geschliffenheit und konstitutiver Unschärfe, Symmetrie und Chaos, zwischen Ratio und Poesie, Ruhe und Furor, Medium und Form. Alles bekannt, in Zeiten der Nicht-Nur-Transzendentalen-Obdachlosigkeit dennoch immer wieder Garant für die kostbare Ware „Erlebnis als Erfahrung“.

Apropos Ware. Gleich zu Beginn, im Jahr 1921/22 nämlich, findet sich der Beleg für die nüchterne Wahrheit von der Uneinholbarkeit des Mediums. Und dieses Medium ist, man staunt ja sogar beim ersten Mal, der schnöde Mammon. Der Sieger – Ein Film in Farben nennt sich Ruttmanns Werbestreifen, in dem aus den „reinen“ roten Punkten und weißen Flecken irgendwann so tolle Excelsior-Reifen werden, dass sogar Mond und Sonne beeindruckt sind und kleine Dreiecksmännchen eifersüchtig werden. Eine ähnliche Kapital-Transfiguration dann auch in seiner Reklamerolle für die Kölnische Illustrierte Zeitung Dort wo der Rhein … (1927): Schlagzeilengeschrei in Form von grünen und roten Wellen, Zeitungsstapel, die vogelgleich die Kunde von „Industrie, Handel und Gewerbe“ oder „Nationaler und Liberaler Politik“ in die Welt tragen: „Das Blatt für Sie!“ Oder schließlich, ein Jahr früher, Spiel der Wellen, in dem die Detektoren und 5-Röhren der neuesten AEG Rundfunk-Geräte beworben werden, und das von putzigen „Negermännchen“ mit großen roten Lippen – denn gegen den elektromagnetischen Funk-Trommelwirbel aus Afrika ist selbst die Polizei machtlos.

In den Filmen aus den 30er Jahren baut der angeblich content-freie Avantgardefilm ganz offensichtlich um – gegen McLuhan könnte man sagen: die Message ist nun die Message. Während Wolfgang Kaskeline in Zwei Farben (1933) noch Rot und Hellblau zur ultima ratio macht – die wenigen noch verbliebenen Raucher/innen vermuten es: Muratti is the taste –, und „Deutschlands vornehmste anerkannte Zigarette“ in ein symmetrisches, stellenweise gar Jung’sches Urformen-Spektakel integriert (inkl. Richard-Wagner-Triumphen), hat es sich in Erwerbslose kochen für Erwerbslose (1932), Ella Bergmann-Michels sozialistisch-hochdokumentarischem Spenden- und Arbeitsaufruf, ausgetanzt. „Alle müssen helfen“, skandieren die Zwischentitel, und am Ende formiert sich das Licht auf dem Filmstreifen nicht zu zweckfreiem Interesse, sondern zu handfesten Zahlen, der Postcheckkonto-Nummer Frankfurt 6404 des Vereins Erwerbslosen-Küche nämlich.

Repräsentative Klassiker

Die meisten Avantgardeklassiker waren im ersten und vierten von insgesamt fünf Programmen untergebracht – jeweils konterkariert durch spätere Arbeiten. Im einen Fall wurde da – neben Helmut Herbsts eher biederer Rahmen-und-Biografien-Doku Deutschland-DADA (1968/69) – in einer kongenialen „DEFA-Dokumentarfilmproduktion“ von 1987 eine ganz neue Dimension der „lichtspiele“ erfasst: Die Leuchtkraft der Ziege – Eine Naturerscheinung (Regie: Jochen Kraußer) ist eine Art „Ionesco/Jandl/Morgenstern-Go-To-GDR and meet Amateurfilmers from Thüringen“. Diese drehen um die Wette und um den „Goldenen Ernst“, Gewinnerin wird die Hauptdarstellerin, eine Ziege. Irgendwie muss man sich ja beschäftigen im Land der Defizitkultur, dachte man sich vermutlich in diesem surrealistisch verschrobenen Subversiv-Film über das Drehen eines Amateurfilms über eine Amateurfilmgruppe, und so berief man als musikalisches Ensemble die Gruppe „Heureka“ ein, um enthusiastisch von einer sozialrealistisch motivierten Abstrusität zur nächsten zu gelangen („An diesem Morgen war die Zugverspätung früher als der Zug“ zum Beispiel, oder: „Die Leuchtkraft der Vorderradspeichen steht in genau umgekehrtem Verhältnis zur Schweigepflicht des Sattels, allerdings nur während der Fahrt.“)

Der zweite Fall der Klassiker-Flankierung verlief weniger kontrapunktisch als vielmehr Traditionen fortschreibend. Aber auch er handelt von Nerds – im besten Sinne dieses ohnehin schon guten Ausdrucks. Nummer eins: Franz Schömbs. Als gäbe es in der auslaufenden Nachkriegszeit (der BRD wohlgemerkt) nichts Besseres zu tun, macht er sich 1957 daran, ein filmtechnisches Instrument namens „Integrator“ zu entwi-ckeln, das auf der Basis hochkomplexer mathematischer Formeln eine neue Schau von Raum und Zeit ermöglichte. Für die monatelangen Dreharbeiten zu Die Geburt des Lichts bastelte Schömbs nicht nur dieses monumentale Gerät, sondern verfertigte 9000 Einzelbilder, zerlegte diese in acht Einzelbänder, um sie letztlich via Integrator wieder optisch zusammenzufügen. Was genau auf der Mittelachse der Trickanlage passiert, liefert dieser Film im ersten off-Kommentarteil ebenso mit wie das Ergebnis im zweiten: Ein „Film-Experiment“ in bräunlichem Rot und Blau, kubistisch anmutende, metamorphotische Rotationen, lose aber intensiv in Bezug auf den Sound von „Marc Roland mit seinem Electroniumorchester“.

… und selektive Experimente

Crazyness, die Zweite: Herbert Seggelke (dem in Leipzig bereits im Jahr zuvor eine kleine Nebenschau gewidmet war). Zunächst unter- und versuchte er 1943 den handgezeichneten Film und damit visuelle Formgebung (und -nehmung) ohne Kamera. Das Strich-Punkt-Ballett, ein Zauberwerk an Farbaquarellen auf Weiß, steht einerseits ganz in der Tradi-
tion der tänzerisch-musikalischen Genreformen des abstrakten Films und seiner Ertestung des Nicht-Figurativen. Andererseits trägt dieser Tanz, ähnlich wie bei Schömbs, die durchaus retardierenden Züge des Kulturfilms: Da erklärt mit dem würdevollen Ernst eines (unbedingt lutheranischen!) Pfarrers eine Stimme aus dem Off, dass es sich bei dem nun Folgenden um einen „Film ohne Kamera“ handle, welcher „mit Farbstiften direkt auf ein leeres Filmband zeichnete, wie Cutter ihre Arbeitszeichen auf dem Film markieren“. Drunter mit einer wunderbaren Helligkeit fröhliche farbige Flecken, drüber cooler Jazz vom Feinsten, und dazwischen die (eher) betont (als) witzige Abhandlung aus dem Lehrbuch der Geschichte des Films zum Kapitel „Absoluter Film“. Herzerfrischend befreiendes handpainting cum Didaxe auch in Eine Melodie – vier Maler, Seggelkes 1954 entstandenes Porträt von Jean Cocteau, Gino Severini, Ernst Wilhelm Nay und Hans Erni.

Die Parodie dieser süßen, aber antiquierten Off-Kommentar-Unkultur hört man am besten in einem der wahrlich aberwitzigsten Film(en)-über-Film: Klaus Partzsch’ Anfang. Wer hätte geahnt, welch Ironiepotenzial im Hannover des Jahres 1965 steckte, angesichts des Zusammenpralls des „Körpers des Menschen“ mit der Kinomisere der Zeit: „Gegen den Widerstand der Filmbranche, die das alles [Godard et al.] für hinausgeschmissenes Geld ansah, wurden überall in der Welt, mit Ausnahme Chinas und der BRD, neue und ungewohnte Filme in die Kinos geschleust.“ Das sich dem dargebotenen Programm ganz überlassende anatomische Gehirn managt hier kombinatorisch die Potenz von immer größer werdenden Busen und immer breiter werdenden Leinwänden. Dazu gab es im absoluten Höhepunkt-Programm Nr. III noch: Vlado Kristls (von A.J. Riedl so wunderbar intonierten) Zeichenfilm Die Utopen (1967) sowie ein DDR-Double – Jürgen Böttchers Übermalungsorgie Venus nach Giorgione (1981) und Lutz Dammbecks selten gezeigten kritisch-surrealistischen Animationsfilm Einmart (1980/81).

Was repräsentative Klassiker und selektive Experimente an immer wieder neuer Hinterfragung der Möglichkeiten von Figuration leisten können, blitzte am Ende noch einmal auf, in Edgar Reitz’ Geschwindigkeits-Phantasma von 1963, Werner Nekes Gurtrug Nr. 1 (1967) – zehn Minuten Menschen in der grünen Landschaft über einen Hügel verteilt, tanzend, tollend und im Loop-Stillstand – sowie im Brasilia-Porträt Vacancy von Matthias Müller (1998). Hier erreicht das Lichtspiel jenen Grad an Ekstase, den der vermutlich erste, jedenfalls aber mächtigste, unüberbietbare Metafilm der Filmgeschichte, Guido Seebers Film (1925), anvisiert und der Medien-Allrounder László Moholy-Nagy vollendet hat. Nicht umsonst nannte er seine 1930 zelebrierte Orgie an Sehwahn schlicht und ergreifend Lichtspiel schwarz-weiss-grau.