Selten, ganz selten gibt es diese Momente in einem Festival, die niemand erwartet und die später als „historisch“ oder als eine „Geburtsstunde“ in die Filmgeschichte eingehen. Am Dienstag war so ein Moment. Um 19:30 Uhr lief ein Film mit dem Titel Sivas – von einem türkischen Filmemacher mit dem Namen Kaan Müjdeci, den bis dahin kaum einer kannte und dessen Debüt plötzlich im Wettbewerb des renommiertesten Festivals der Welt läuft. Ein ebenso authentisches wie brutales Drama um einen Jungen, der seinen verletzten Kampfhund aufpäppelt und bald Wettkämpfe mit ihm gewinnt. Beim Interview am Tag danach die nächste Überraschung. „Sprichst du Deutsch? Ich bin Kreuzberger!“, begrüßt er mich mit einem kräftigen Händedruck. Der 33-jährige betreibt in Berlin eine meiner Lieblingsbars, das Luzia auf der Oranienstraße, und erzählt, dass er den Laden vor sieben Jahren eröffnet hat, um das Geld für sein Spielfilmdebüt zu sammeln. 2003 kam er mit seinem Bruder von Ankara nach Berlin, zuerst machten sie zusammen die Bar auf, danach einen Conceptstore für Designerklamotten. Nebenbei bewarb er sich an Filmhochschulen, wurde überall abgelehnt, machte einen Kurs an der New York Film Academy, das war’s. Keine deutsche Filmförderung wollte ihm Geld geben, also sparte er sich das Budget für sein Debüt selbst zusammen. Und tritt damit nun, wie aus dem Nichts, auf die Bühne des Weltkinos. Man wird sich diesen 2. September 2014 merken müssen. Und den Namen: Kaan Müjdeci.
Wirklich berührt haben auf dem Lido heuer nur wenige Filme. Le dernier coup de marteau von Alix Delaporte ist einer von ihnen. Hauptfigur ist ein 13-jähriger Junge, der sich gleich mehreren Herausforderungen seiner eh schon komplizierten Pubertät stellen muss: Seine Mutter ist krebskrank, er steht kurz vor einem Auswahlverfahren für Fußballtalente und plötzlich taucht auch noch sein Vater auf, den er früher nie kennengelernt hat. Als gefeierter Dirigent gibt dieser an der hiesigen Oper ein Gastspiel mit Mahlers sechster Sinfonie. Wie Delaporte die Entstehungsgeschichte dieser Sinfonie mit der im Grunde simplen Geschichte verbindet, ist ebenso subtil wie umwerfend.
Eine Enttäuschung war dagegen Pasolini von Abel Ferrara. Brav inszeniert er die letzten Tage im Leben des legendären katholisch-kommunistischen schwulen Filmemachers, ohne auch nur im Entferntesten an das Wesen oder den Kern dieser schillernden Künstlerfigur heranzukommen. Vertane Zeit, auch wenn Willem Dafoe in der Titelrolle eine kongeniale Besetzung ist.
Das Festival steuert auf sein Finale zu, ein Großteil der Akkreditierten ist bereits nach Toronto weitergezogen. Vor der Preisverleihung am Samstagabend erwartet uns noch, unter anderem, eine neue William Faulkner-Verfilmung von James Franco (The Sound and the Fury), Andrew Niccols Dronendrama Good Kill und Ann Huis Abschlussfilm Huangjin shidai (The Golden Era). Und vielleicht ja noch die eine oder andere Überraschung.