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Liebe und Anarchie im Norden

| Daniela Sulz |

Wenn es Herbst wird in Helsinki, verkriechen sich die Leute gerne dort, wo’s warm und unterhaltsam ist: im Kino zum Beispiel. Und das Helsinki International Film Festival ist dafür perfekt geeignet.

Finnische Filme sind immer wieder für Überraschungen gut: Da stirbt, wer von Hollywood nie sterben gelassen würde; da gibt es Happy Ends, wo man keine erwartet hätte. „Rakkautta & Anarkiaa“, Liebe und Anarchie, passen selten so gut zusammen wie im finnischen Kino. Kein Wunder also, dass das der Name ist, unter dem das Helsinki International Film Festival jedes Jahr läuft.

Von Anarchie ist bei der Festival-Organisation selbst nichts zu bemerken: In seinem 28. Jahr läuft es wie geschmiert. In elf Tagen, vom 17. bis 27. September, wurden über 190 Spielfilme und 180 Kurzfilme gezeigt. Mehr als 50 Filmemacher gaben sich die Klinke in die Hand – und das alles in gelassener und familiärer Atmosphäre. Jeder weiß, was er zu tun hat, jeder liebt, was er tut, aber keiner macht groß Aufhebens darum: Mit finnischer Bodenständigkeit schafft man vielleicht nicht das glamourösete, locker aber ein wunderbar organisiertes und gemütliches Event. Ein Event, das auf jeden Fall filmisch viel zu bieten hatte: Von estnischen Weltkriegsblockbustern wie 1944 über den apokalyptischen, in Äthiopien gedrehten Sci-Fi-Film Crumbs, bis hin zu berührend nachvollziehbaren Beziehungstudien wie dem finnischen Onnesta (On Happiness).

Überhaupt, Onnesta: Zu schade, dass dieses Kleinod nur schwerlich seinen Weg aus Finnland heraus finden wird. Dabei ist das Thema – das Ende einer langjährigen Beziehung – ja universal und wurde auch selten treffender und ehrlicher dargestellt. Über den Kunstgriff des Monologs, mit dem die Hauptdarsteller Irma und Jarmo immer wieder ihre Sicht der Dinge darlegen, schaffen die Drehbuchschreiber und Regisseure Dave Berg und Elina Reinikka es, einem die Charaktere und ihre Probleme miteinander wirklich nahezubringen und zu zeigen, wie viele Kleinigkeiten (wie die Frage, mit wessen Eltern man mehr Zeit verbringt) Gräben aufreißen können. Gedreht wurde der Film mit einem Budget von dreitausened Euro – „worauf man nicht stolz sein sollte“, wie Dave Berg meint, denn das bedeute auch, dass keiner der Beteiligten für seine Arbeit bezahlt werden konnte.

Ein ganz anderes Budget, eine ganz andere Storyline – generell ist alles ganz anders bei Mænd og høns (Men & Chicken), einem dänischen Film von Anders Thomas Jensen. Zwei Brüder erfahren nach dem Tod ihres Vaters, dass dieser nicht ihr biologischer Erzeuger war – und machen sich daraufhin auf die Suche nach ihrer Familie. Soweit, so bekannt. Doch dass es keine „normale“ Familie sein kann, ist offensichtlich, noch bevor die beiden ihre drei ebenfalls mit Hasenscharten gestraften Halbbrüder treffen: Ein phantastisches, surreales Setting, Mads Mikkelsen so gut wie unkenntlich als Elias, der weder seinen Sexualtrieb noch sein Temperament (in diesem Punkt unterscheidet er sich nicht von drei seiner Halbbrüder) unter Kontrolle hat. Und dann ist da auch noch das aufgelassene, verfallene Sanatorium, das dem Film seinen Stempel aufdrückt. Massenhaft schwarzer Humor, gepaart mit feiner Sozialkritik und -satire, ganz und gar nicht politisch korrekt.

Sozialkritik in allen möglichen Formen war in großen Teilen des Festivalprogramms zu spüren – von historisch wie in Aferim!, einem Film, der sich mit der Versklavung von Zigeunern, die in Rumänien bis Mitte des 19. Jahrhunderts praktiziert wurde, auseinandersetzt, über zeitgenössische Flüchtlingsstudien. Und es scheint, als ob auch die Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg in diesem Jahr wieder an Gewicht gewinnt. Besonders in Finnland und Estland ist dieser komplizierte und schmerzhafte Teil der Geschichte präsent. Risttuules (In the Crosswind) zum Beispiel zeigt, visuell sehr spannend umgesetzt, die tragischen Folgen der Deportations- und Liquidationspolitik Stalins für die estnische Bevölkerung.

Wie die Jahre zuvor spannte das Festivalprogramm einen großen Bogen. Natürlich liegt ein großer Schwerpunkt auf dem nordischen Film, aber auch internationale Filme und Filmemacher kamen nicht zu kurz. Selbst ein Generalstreik am ersten Festivaltag (der erste dieser Größenordnung in Helsinki seit den fünfziger Jahren) tat dem Erfolg keinen Abbruch: Insgesamt wurden über 61 000 Tickets für fast 500 Vorstellungen verkauft.