Über Autorschaft und das Schreiben im Kino – eine Neuerscheinung widmet sich auf über vierhundert Seiten „literarhistorischen Filmbiographien“.
Truman Capote, Jane Austen, Sylvia Plath oder die Brüder Grimm: Die Welle biografischer Kinoproduktionen der letzten Jahre, die sich primär mit der Vita von Forschern und Musikern, Erfindern, Pionieren und bildenden Künstlern befasst, hat eine bemerkenswerte Unterabteilung: die Dichter und Schriftsteller. Nun unternimmt die Literaturwissenschafterin Sigrid Nieberle in ihrer umfassenden Studie Literarhistorische Filmbiographien den Versuch, diese biografischen Erzählungen unter bestimmten Prämissen zu sichten: etwa mit dem Interesse für die „Konstruktion“ dieser Autorschaft oder für das „filmische Gedächtnis“ der Literaturgeschichte. Eine prominente Gruppe bilden dabei die „sozial inkommensurablen Figuren“ – Außenseiter, charakterisiert durch Rebellion, Labilität, Kriminalität und Leidensdruck. Sie liefern als lebensabgewandte Genies („Genie und Wahnsinn“) jene Künstlerlegenden, die sie für die visuelle biografische Gestaltung und für die Erfindung von Ausnahme-Lebensläufen so interessant machen – und wiederum als Legende bestätigen.
Abstieg vom Olymp
Nun muss das Kino als Institution der Literaturvermittlung jedoch keineswegs Bildungsfernsehen nach Arte-Ästhetik sein, einschließlich all seiner unerträglich konfektioniert-sensiblen und höchst absichtsvollen Nachstellungen, seiner atmosphärischen Einsprengseln und Einfühlbarkeitstricks sowie der bemühten Suche nach dem point of view der Persönlichkeit. Jenes Kino sollte vielmehr auf Bildungsvoraussetzungen vertrauen, die einen kenntnisreichen Leser bzw. Zuschauer nicht zwingend nötig machen, denn es vermag – ein bescheidenes, aber wesentliches Ziel – allenfalls zur Lektüre zu stimulieren. Das heißt auch, dass eine Autorenfigur ein Image besitzt und biografisch genrekompatibel ist. Die „literarhistorische Filmbiografie“ gibt somit ein hybrides Genre ab, das je nach Werk und Vita zusammengesetzt ist.
So hatte bereits 1930 der Filmkritiker Siegfried Kracauer unter dem Titel Die Biographie als neubürgerliche Kunstform die inflationäre Biografik der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg als einen „Bildersaal, in dem sich die Erinnerung ergehen kann“ beschrieben, als Symptom von Eskapismus und Ausflucht in ein historisches Bewusstsein. Helden aus dem Olymp wurden zu Menschen „wie du und ich“ auf Augenhöhe gebracht und subjektiv ausgestaltet. Für das gegenwärtige biografische Schreiben gelte, so Nieberle, jedoch die „Flucht vor Lacan und Foucault“, gleichermaßen Indiz für die Krise des lesenden Subjekts. Die Autonomie des Subjekts, die man eigentlich schon verabschiedet hatte, kehrt so wider besseres Wissen über die erzählte Biografie zurück.
Die literarische Filmbiografie liefert nachgerade eine Pop-Version von Episoden einer Literaturgeschichte, die sich ebenso gut auf die biografische Deutung der Werke wie auf das Erspüren nicht zusammenhängender Anteile des Autorensubjekts versteht. Bestes Beispiel Kafka: „Kafka-Atmosphären“ und „Kafka-Figuren“ erscheinen im „Kafka“-Kino wie eine visionäre Verkettung von Traumsituationen, die sich im Universum des „Kafka-Geistes“ all das aufscheinen lassen, was im kollektiven Gedächtnis dazu abrufbar ist. Verschwimmen die Grenzen zwischen Fakten und Fiktion für den biografischen Text, so erst recht für die Filminszenierung: Die Konstruktion des erzählten Lebens rückt in den Vordergrund, und für die moderne Biografie werden Kriterien definiert – wie etwa die Rückblende –, die in der Tradition der Filmerzählung seit der Frühzeit gültig sind.
Helden mit Erbe
Theodor Körner. Von der Wiege bis zur Bahre (1912, Franz Porten, Gerhard Dammann), ein „historisches Lebensbild“, gehört zu den frühesten und ganz seltenen Beispielen, die seinem Untertitel gerecht werden wollen. Allein die Totenbahre ist zum heroischen Denkmal stilisiert, und das Ganze ein vaterländisches Heldenlied aus der Zeit der Befreiungskriege. Dem „heroischen Narrativ“ (Nieberle) des frühen literarhistorischen Biopics der Vorkriegszeit folgt die Beschwörung des genialischen Künstlers, der höherem Auftrag gehorchen und konventionellen Lebensformen und leidenschaftlicher Liebe entsagen muss – so dass allein das Opfer fürs große Ganze zum ewigen Ruhm verhilft. Nach den beiden Weltkriegen schließlich nahm das Interesse der Filmbiografie am Schriftsteller als „deviantem Subjekt“ zu: Dessen Kennzeichen sind die Abweichung von Normen bis zur Verhaltensauffälligkeit und Missbrauch von Stimulantien im Dienst der Kunst – so als würde der Status „Genius“ immer den Preis der physischen Selbstaufopferung fordern.
Waren die Autoren-Helden des patriotischen Kinos fürs ewige Vaterland tätig, beschworen in der Folge die NS-Künstlerbiografien die Dichter des nationalen Kanons als Führerfiguren des Geistes: Dichterfilme wie Komödianten (1941, G.W. Pabst) um Gotthold Lessing und Karoline Neuber oder Friedrich Schiller. Der Triumph eines Genies (1940, Herbert Maisch) versuchten den romantischen Gegensatz zwischen anzustrebender Kunst und defizienter Wirklichkeit mit einem unbedingtem Durchhaltewillen zugunsten des Ideals aufzuheben.
In der Produktionsepoche der DEFA (1946 bis 1993) hingegen war das Verhältnis des klassischen und romantischen Dichters zur Revolution und die Opfer, die er für die Befreiung der Gesellschaft aufzubringen bereit war, ausschlaggebendes Kriterium in der Erbe-Diskussion, etwa in den Filmen über Georg Büchner, Georg Forster, Friedrich Hölderlin und Novalis – für Autoren wie Hans Fallada war es die Haltung zum Antifaschismus.
Seit den Neunziger Jahren dominiert schließlich die Entdeckung bzw. Vorstellung des Privaten in der filmischen Dichterbiografik, etwa für Tucholsky (Gripsholm, 2000, Xavier Koller), Schwarzenbach (Die Reise nach Kafiristan, 2001, Fosco und Donatello Dubini) oder Brecht (Abschied. Brechts letzter Sommer, 2000, Jan Schütte).
Cinerama und Morphing
Die populäre Filmbiografie verbindet dabei ihre Erzählung mit Bekanntem, den sogenannten kanonischen Texten und einem popularisierten Wissen über die Lebenslinien. So entstehen, abweichend von gesicherter biografischer Forschung, populärgeschichtliche Versionen, die viel über das mediale Wissen der Zeit ihrer Verbreitung aussagen: „Demnach hätte Dreyfus seine Rehabilitierung allein Zola zu verdanken, Hölderlin wäre über seiner Liebe zu Susette Gontard irre geworden, und Brecht ist Opfer seines ,Harems’ geworden, der ihn den letzten Lebensfunken kostete.“ (Nieberle) So könnte man auch von der Erfindung einer jeweils medientechnisch wie ästhetisch-ideologisch neuen Autorenfigur Goethe, Schiller oder Hölderlin sprechen. Auch hinsichtlich der Verfilmung der Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm (1962 und 2005) hat zum einen das Cinerama-Format, zum anderen das Morphing-Verfahren die Richtung hin zum Abenteuer bzw. Fantasy-Charakter vorgegeben. In Umschreibung eines Hegelsatzes: Wenn die Fakten den Fiktionen widersprechen, umso schlimmer für die Fakten.
Leben nach dem Tod
In der Folge von D.W. Griffiths Filmerzählung The Raven (1909) über Edgar Allan Poe – Griffith konzipiert die Entstehung des gleichnamigen Versepos neben der Ehetragödie als Doppelplot – war das klassische Hollywood-Kino, empirisch bestätigt von David Bordwell, stets darum bemüht, fortwährend Fakten der Fiktion anzupassen. Parallelhandlungen zwischen räumlichen Distanzen und eine psychologische Motivierung wurden „narrativ homologisiert“, zudem zählten entscheidende Episoden: erste Liebe, Initiationen, letzte Begegnungen, Ferientage … Das Ergebnis ist eine Rückprojektion der Autoren in ihre Texte, eine autobiografische Interpretation des Werks, das scheinbar biografische Information liefert, die den Texten entnommen werden. Somit stellt sich eine unwillkürliche Suche des Rezipienten nach dem Autorenleben ein, nach seinen Eigenarten und Intimitäten. Mit jedem literarhistorischen Biopic ist man mit Tod und Wiedergeburt konfrontiert: Der Autor stirbt jedes Mal aufs Neue und wird in allen verfügbaren Erzählungen wieder belebt. Eine Wiedergänger-Figur tritt auf, die dem Künstlernamen seine Gestalt gibt, eine illusionäre Nähe herstellt und damit immer schon Vorhandenes bestätigt. Steht bereits das Werk stellvertretend für den Autor, gibt es fortan ein stellvertretendes Bild von ihm, ein erzähltes Autorenporträt, das einen „imaginären Überschuss“ der Lebensgeschichte an der Trennungslinie zwischen Buch und Autor erfindet. Der Historiker Hayden White prägte 1988 das Wort „Historiophotie“ für diesen Überschuss aus der Verbindung von Visuellem mit Sprache, einer
„Antithese“ zur geschriebenen Geschichte.
Dichterdilemma
„Die Filmbiographie ist ein fiktionales Genre, das auf Fakten referiert und nicht ohne die narrativen und ästhetischen
Mittel des ,Authentischen‘ auskommen will“, schreibt Nieberle. „Erinnert sei nur an die großen autobiografisch interpretierten Erzählungen wie The Great Sinner (1949, Robert Siodmak), Lawrence of Arabia (1962, David Lean), Doctor Zhivago (1965, David Lean), Out of Africa (1985, Sydney Pollack), oder auch an Filme, die literarischen Plot und Autor-Biografie vollends übereinander blenden, wie z.B. Kafka (1991, Steven Soderbergh), Shakespeare in Love (1998, John Madden) oder Gripsholm. Mit solchen Verfahren, die eine ohnehin schwer zu bestimmende Grenze zwischen Biografie und Fiktion verwischen, liegt jedoch eine doppelte Fiktionalisierung vor, die umso deutlicher den autonomen Status der filmischen Erzählung einfordert. Deshalb gilt es, die zahlreichen Produktionen darauf hin zu untersuchen, welche Erzählungen der Literaturgeschichte und Literaturgenese sie konstruieren und wie sie dies tun.“
Das Biopic ist ein Hybridwesen, das mit Konzepten aus diversen Genres spielt. Filme über Lenz (1971, George
Moorse) und Hölderlin (1984, Hermann Zschoche) setzen Traumsequenzen und Visionen in Szene, visualisieren Zustände der Entgrenzung, Landschaftstotalen, in denen der Körper des Dichters sich einschreibt und verschwindet. Insbesondere Lenz – eng an Georg Büchners Vorlage angelehnt und Stadien zunehmenden Wahns nachzeichnend – konzentriert sich auf die Erzählbarkeit der Pathografie, besonders im Spiegel der Landschaft, und stellt einen Paradigmensprung der Gattung dar. Dem alten Gerichtsfilm-Genre dagegen lassen sich jene Szenen zurechnen, in denen der Autor als Angeklagter auftritt, zum Beispiel Emile Zola in Dreyfus von Richard Oswald (1931) und The Life of Emile Zola von William Dieterle (1937) oder Oscar Wilde etwa in Oscar Wilde von Gregory Ratoff (1960) oder Wilde von Brian Gilbert (1997). Cyrano de Bergerac – filmisch bekannt vor allem durch die Adaption von Jean-Paul Rappeneau aus dem Jahr 1990 – ist jene allegorische Autorenfigur, die für das Verleihen ihrer Stimme einsteht. Sie repräsentiert für Nieberle geheimnisvoll die „Schattenwelt des unglücklich Liebenden“. Das Leben Cyranos ist seit 1900 achtmal für den Film inszeniert worden und liegt damit, was die Häufigkeit der „Verfilmung“ angeht, hinter Biopics über George Sand und François Villon – jeweils zehn – auf Platz drei.
Als „Revolutionäre der DEFA“ sind Novalis (Novalis – Die blaue Blume, 1993, Herwig Kipping), Büchner (Addio, piccola mia, Lothar Warnecke, 1979) und Hölderlin (Hälfte des Lebens, 1984, Hermann Zschoche) neben dem Georg-Forster–Film Leitbilder für kritische Haltungen im Zeichen der Umwälzung, die jedoch immer einen doppelten, romantisch-liebesökonomischen Boden hatten – symbolische Wanderer auf einsamer Höhe. Kippings Novalis-Film zitiert mit seiner Ballonfahrt Tarkowskis Künstlerfilm Andrej Rubljow (1966–1969) und symbolisiert damit zugleich die Faszination der Literatur und die Fortschrittsgeschichte der Maschine, welche zudem die Assoziation mit der Fliehkraft, literarisch wie physikalisch, aus der abgeriegelten DDR nahe legt. Feuerreiter (1998, Nina Grosse) um Hölderlin und seine Geliebte, Susette Gontard, sowie Requiem für eine romantische Frau (1998, Dagmar Knöpfel nach Hans Magnus Enzensberger) über Clemens von Brentano und Auguste Bußmann reflektieren wechselnde Liebeskonstellationen und erweiterte Dreiecke. Die Unfähigkeit des Dichters, romantische Liebe und Leben zu vereinen, wird von Nieberle verblüffend logisch auf den Punkt gebracht als Dilemma des Entscheidungszwangs zwischen Frau und Schreiben, das den Autor zu spalten droht. Wer das Schreiben liebt, muss es auch fürchten.
Sigrid Nieberle: Literarhistorische Filmbiographien. Autorschaft und Literaturgeschichte im Kino. Mit einer Filmographie 1909 – 2007.