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Literatur und Film – Daniel Woodrell über „Ride with the Devil“ und „Winter’s Bone“

Missouri man

| Andreas Ungerböck :: Gunnar Landsgesell |

Dass Daniel Woodrell ausgerechnet zur Kriminacht nach Wien kam, ist ein wenig absurd, da seine Bücher eben keine Krimis sind. Macht aber nichts. Ein Gespräch über den US-Literaturbetrieb, über das Leben in Missouri und über das Glück, von Ang Lee bzw. Debra Granik verfilmt zu werden.

Wenn es um Daniel Woodrells Bücher geht, fehlen pejorative Töne nicht. Vom „Bodensatz der Gesellschaft“ („taz“) ist da die Rede und vom „White Trash“, der seine Bücher bevölkert. Dagegen verwehrt sich der 1953 in Springfield, Missouri, geborene Autor von „Winter’s Bone“, wie im folgenden Interview zu lesen ist. Elf Jahre nachdem Woodrell „The Death of Sweet Mister“ verfasste, wurde dieses bis aufs Äußerste verknappte, zugleich an drastischen Schilderungen reiche Werk nun ins Deutsche übersetzt.

Milieu und Handlungsort, die Ozark Mountains in Missouri, stecken wie im später erschienenen „Winter’s Bone“ den äußeren Erzählrahmen ab. Die Geschichte ist zwar kaum optimistischer, aber dennoch eine andere: Shuggie, ein Junge, der mit einer ebenso vergnügten wie desolaten Trinkerin und einem durch und durch verrohten Einbrecher als Eltern aufwächst, muss sich in „The Death of Sweet Mister“ schließlich neu erfinden – um so die Erfahrung einer still erduldeten Abwertung irgendwie durchzureißen. Woodrell verwendet viel Augenmerk auf seinen jugendlichen Protagonisten, dem er einerseits unerhörte Gewalt, zugleich aber auch ein – für die Leser, insbesondere die in den USA – sehr provokant konstruiertes Glücksversprechen angedeihen lässt.

Der Befund einer großen Depression, in der die familiäre Keimzelle stellvertretend für ein ganzes Milieu krimineller Lebenskünstler dumpf vor sich hinbrütet, ist im Falle Woodrells aber nur die halbe Wahrheit. Man müsste noch diese gewaltige Unordnung anführen, die auch andere Bücher des Autors kennzeichnet. Leute, die ihr Leben nicht auf die Reihe kriegen, dafür aber eine Menge schräger Dinge erleben, vor denen sich ein gerader Lebensentwurf hüten würde – oder die dieser eben auch in Büchern wie jenen von Woodrell zu finden hofft. In „Sweet Mister“, so wird Shuggie von seiner Mutter genannt, brodelt eine Art Überlebenstrieb, der zwar nicht an die Verbesserung der Lebensverhältnisse glaubt, jedenfalls aber alles macht, um seine Lebensverhältnisse erträglich zu halten. Und das erinnert dann doch an „Winter’s Bone“, einen ebenso herb gestalteten Roman, in dem Woodrell eine junge Frau auf die Suche nach ihrem verschollenen Vater, einem Drogenproduzenten, schickt, um die drohende Enteignung der familiären Blockhütte abzuwenden. Debra Granik hat diese Geschichte vor zwei Jahren in nüchterne, harte und sehr realistische Bilder übersetzt, die die kernig auftretende Schauspielerin Jennifer Lawrence danach zum Star aufstiegen ließen.

Debra Granik zeigte – ebenso wie Ang Lee, der Woodrells damals bereits elf Jahre alten Roman „Woe to Live On“ 1999 unter dem Titel Ride with the Devil zu einem großartigen Eben-nicht-Bürgerkriegs-Epos adaptiert hatte – auch auf, wie sehr sich Woodrells Bücher für Verfilmungen eignen, sofern deren dürrer, teilnahmsloser Tonfall und deren ganze Präzision der Beschreibung in eine visuelle Entsprechung hinübergerettet werden kann. Ähnlich wie dem vor 25 Jahren verstorbenen Raymond Carver – einem erklärten Vorbild des Autors – gelingt es auch ihm, mit nur wenigen Sätzen, mit ein paar lapidaren Pinselstrichen, soziale Räume herzustellen und seine Protagonisten darin lebendig erstehen zu lassen. Die Wirkung des schmalen Bandes von „The Death of Sweet Mister“ ist, als hätte man über Monate einen dicken Dostojewski gelesen. Erstaunlich.

Zwei Ihrer Romane wurden auf ganz hervorragende Weise verfilmt – „Woe to Live On“ von Ang Lee unter dem Titel Ride with the Devil und „Winter’s Bone“ von Debra Granik. War Ang Lees Film der Grund, dass Granik an sie herantrat?
Nein, sie hatte ihn gar nicht gesehen. Jemand gab ihr „Winter’s Bone“ zu lesen. Sie war sehr angetan, und so wurde ich kontaktiert. Im Gegenzug hat man mir ihren ersten Film Down to the Bone geschickt, den ich sehr mochte. Ich fand, dass sie sehr mutig ist und die richtigen künstlerischen Entscheidungen trifft. Mir war schon klar, dass Winter’s Bone kein Blockbuster werden würde, schon vom Material her. Dafür hat Debra aber sehr viel herausgeholt, bis hin zu den vier Oscar-Nominierungen. Ride with the Devil kostete 44 Millionen Dollar und bekam nicht halb so viel Aufmerksamkeit.

Den hat aber das Studio ganz bewusst „versenkt“.
Ja. Ich war bei diesen Besprechungen nicht dabei, aber die waren ganz schön nervös …

Haben Sie eine Vermutung, warum? Zu viel Gewalt?
Auf jeden Fall, denke ich, lag es an den politischen Akzenten des Buches, an der kaum bekannten Tatsache, dass es tatsächlich Afroamerikaner gab, die im Bürgerkrieg für den Süden kämpften, weil sie persönliche Beziehungen zu jemandem hatten, gar nicht so sehr aus politischen Gründen. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass das Studio erst 44 Millionen investiert und dann den Bach hinuntergehen lässt, aber jemand meinte, das sei doch keine Summe für Hollywood …

Stimmt es, dass die Verfilmung einem Zufall zu verdanken ist? Dass jemand Ang Lee das Buch gab, als er gerade nach einem Stoff suchte?
Ja, ich glaube, es war Anne Terry. Das Buch war elf Jahre alt und hatte keinen Erfolg gehabt. Sie hatte noch ein Exemplar und gab es Ang Lee. Schon am nächsten Tag rief man mich an, so begeistert war er. Ein wahrhaft glücklicher Zufall, bei beiden Filmen. Ich bin sehr glücklich mit beiden. Mir ist klar, dass ein Film nie 1:1 das Buch transportieren kann, aber sie blieben sehr nahe an den Vorlagen. Und dass der Titel „Woe to Live On“ nicht halten würde, war mir auch klar.

Ride with the Devil beginnt mit einer Hochzeit, das Buch mit einem brutalen Akt der Lynchjustiz an zwei Zivilisten.
Das wurde heftig diskutiert. Ang Lee wollte das so haben wie im Buch, aber das Studio war dagegen. Es hieß: Wenn ihr den Film so anfangt, sind nach zehn Minuten keine Leute mehr im Saal.

Ihr Schreibstil ist sehr effizient. Sie packen viel Information und vor allem Emotion in relativ wenige Worte.
Ja, der Akt des Komprimierens macht mir Freude, übrigens auch beim Lesen. Und ich mag Dialoge. Es gibt zwar phantastische Schriftsteller, die ich sehr schätze, die so gut wie keine schreiben. Aber wenn einmal Atmosphäre und Tonfall etabliert sind, dann schreibe ich gerne Dialoge.

Die Effizienz Ihres Schreibens korreliert irgendwie mit den harschen Inhalten. Sie scheint das perfekte Gefäß für diese harten Geschichten zu sein.
Ja, das musste ich aber auch erst lernen. Das war nicht immer so. Film hat mir dabei geholfen. Als ich studierte, habe ich auch Filmvorlesungen belegt und viele Filme gesehen. Der Regisseur, der mich als erster nachhaltig begeistert hat, war John Huston. Ich begann, mich näher mit ihm zu beschäftigen und mir wurde klar, dass er ein großartiger Geschichtenerzähler war. Er war der erste, aber viele andere folgten, und ich habe viel daraus gelernt – eine Idee hier, ein Ansatz dort, eine tolle Schule. Als Debra Granik das erste Mal bei mir zu Hause war, studierten sie und ihr Kameramann mein Bücherregal, in dem auch die Filmbücher und DVDs stehen, und der DP sagte: „Schau mal, was er alles hat, die Dardennes, Tarkowskij …“ Und so kamen wir ins Gespräch. Umgekehrt, als ich Down to the Bone zum ersten Mal sah, dachte ich: „Wow, das ist fast wie ein Dardenne-Film“.

Es ist unglaublich, wie genau Granik den Ton des Buches getroffen hat, vor allem wohl durch die Reduktion, durch die Konzentration auf das Wesentliche.
Ja, sie ist beeindruckend akribisch. Das geht so weit, dass viele von den Kleidungsstücken, die im Film auftauchen, von wirklichen Leuten stammen. Debra stand tatsächlich vor dem größten Supermarkt in unserer Gegend und beobachtete die Leute. Und sie bot ihnen an, ihnen neue Klamotten zu kaufen, wenn sie ihr die, die sie tragen, geben würden. Sie sagte, solche Kleidungsstücke könne sich eine Kostümbildnerin nie ausdenken. Und das ging bis zu den Gesichtern: Viele der Leute, die man im Film sieht, stammen aus der Gegend, das sind Gesichter, die von hier stammen, das war für Debra wichtig.

Was glauben Sie, braucht man, um aus Ihren Büchern Filme machen zu können?
Vor allem braucht man Leute, die die Bücher so mögen, dass sie alles daran setzen, dass sie verfilmt werden. In der geplanten Verfilmung von „The Death of Sweet Mister“ sollte eine sehr bekannte Schauspielerin die Hauptrolle spielen, eine Dame, die das Buch sehr mochte und deren Name die Finanzierung gewährleistet hätte. Aber sie hielt uns hin, weil sie noch andere Verpflichtungen hatte, und nach 18 Monaten – nach 18 Monaten! – stellte sie fest, dass sie doch nicht mehr so scharf darauf war. Daraufhin verlor auch der Regisseur seinen Enthusiasmus. Nach sieben Jahren, in denen er immer wieder an dem Projekt gearbeitet hatte. Das war sehr schade.

Ist es nicht seltsam, mit einem Buch durch Europa zu touren, das mehr als zehn Jahre alt ist? Können Sie sich überhaupt noch daran erinnern, wie das war, als Sie es schrieben?
An „The Death of Sweet Mister“ erinnere ich mich gut und auch gerne. Ich mag das Buch sehr. Voriges Jahr bekam ich einen Preis für die beste Wiederentdeckung. Das ist ein bisschen traurig, weil es bis dahin keinen Erfolg gehabt hatte, zugleich ist es natürlich schön, wenn es dann doch noch entdeckt wird. Und, hey, was gibt es Besseres als eine Gratisreise durch Europa?

Wenn man Ihre Bücher liest, fühlt man sich an Raymond Carver erinnert, in der Knappheit und Direktheit der Sprache. Können Sie damit leben?
Absolut! Carver war mein Held, als ich aufs College ging, und nicht nur meiner. Wir haben seine Bücher verschlungen, uns viel mit ihm beschäftigt. Er hat viele Leute beeinflusst. Wie er mag ich es, Dinge nicht überdeutlich auszuformulieren.

Zurück zu „Winter’s Bone“. Sie zeichnen die Leute ja nicht unbedingt in einem sympathischen Licht. Wie hat man in Missouri, in den Ozark Mountains, auf das Buch reagiert?
Es gibt eine Familie, die vieles von dem repräsentiert, was ich im Buch beschreibe. Da bin ich nicht weit weg von der Realität. Aber ich habe sehr darauf geachtet, niemals ihren Namen zu erwähnen oder sie kenntlich zu machen. Ich habe gehört, dass diese Familie kein Problem mit meiner Geschichte hatte. Sie haben sie zwar nicht gelesen, aber sie wussten von dem Film. Vielleicht liegt es daran, dass mein Vater viele der älteren Familienangehörigen schon seit seiner Volksschulzeit kennt. Jedenfalls haben sie sich nie bei mir beklagt.

Was an „Sweet Mister“ im Vergleich zu  „Winter’s Bone“ auffällt, ist, dass es sich zwar um dasselbe Milieu handelt, dass aber die Protagonisten, vor allem die beiden Jugendlichen, hier der Junge, dort das Mädchen, sehr unterschiedlich sind. Wie waren da Ihre Überlegungen?
Nun, ich bin mit einigen Kids, die aus ähnlichen Verhältnissen stammten, aufgewachsen bzw. zur Schule gegangen. Wir waren zwar auch nicht reich, aber nicht so arm wie diese Familien. Für mich waren und sind das Menschen, keine Wesen von einem anderen Planeten. Ich muss sie mir nicht herbeiphantasieren, sie leben in meiner Straße, ich habe mit ihnen Kickball gespielt, als wir Kids waren. Als ich zu schreiben begann, schien es mir natürlich und logisch, über solche Menschen auf eine menschliche Weise zu schreiben, sie nicht wie Objekte zu behandeln. Meine eigene Großmutter war Magd und sie konnte kaum lesen und schreiben. Viele männliche Mitglieder meiner Familie hatten ein Alkoholproblem. Wir waren also nicht so weit entfernt von diesen anderen Leuten. Jedenfalls fühlte ich mich nie in einer Position, andere um mich herum zu bewerten und zu verurteilen.

Haben oder hatten Sie literarische Vorbilder in diesem Ansatz, über eine spezifische soziale Schicht zu schreiben?
Ich mag die Literatur der Depressionszeit sehr. „Thieves Like Us“ von Edward Anderson, das später von Nicholas Ray [als They Live By Night, Anm.] und Robert Altman verfilmt wurde, hat mich sehr beeindruckt. Es ist heute wenig bekannt, viel weniger als „Grapes of Wrath“, aber ein tolles Buch. Viele meiner Freunde und Kollegen meinen ja, mit solchen Themen könne man nicht erfolgreich sein, aber mich fasziniert das. Und inzwischen gibt es sehr wohl Autoren, die sich auch damit beschäftigen. Vor ein paar Jahren fühlte ich mich noch ziemlich allein.

Dass Sie das Milieu kennen, liegt auf der Hand. Aber woher kommen die kriminellen Plots? Was fasziniert sie daran?
Sowohl mein Vater als auch meine Mutter haben viel gelesen. Meine Mutter mehr klassische Mystery, also Agatha Christie, Dorothy L. Sayers, mein Vater mehr die Hardboiled-Literatur. Und er ging aufs College, während ich aufwuchs, in die Abendschule. Bücher lagen bei uns immer herum, darunter viel Crime-Literatur. Chandler, das war mir als Jugendlicher zu anspruchsvoll, ich konnte damit wenig anfangen, das lernte ich erst später zu schätzen, aber James M. Cain, Dashiell Hammett, das las ich gerne, genauso wie Faulkner oder Hemingway.

Sind Sie nun ein Sozialrealist oder ein Krimiautor? Was halten Sie überhaupt von solchen Schubladisierungen?
Ich habe sicher kein Buch geschrieben, in dem das Verbrechen den wichtigeren Aspekt ausmacht, auch wenn ich über Leute schreibe, die dazu neigen. In Amerika bekommt man schnell ein Label aufgeklebt. Man ist hier ziemlich strikt, was diese Kategorien betrifft. Ich wollte einmal ein Buch schreiben über junge Männer beim Militär, die auf ihren Einsatz in Vietnam warten, aber dann ist der Krieg zu Ende. Man hat mir davon abgeraten: Dafür sei ich nicht bekannt, das sei nicht „mein Metier“. Erst jetzt, da ich bekannter bin, hat man mir gesagt, ich „könne“ das schreiben. Diese Erfahrung hat mir gezeigt, dass es nicht gut ist, wenn man auf ein bestimmtes Genre festgelegt ist.

Im Internet hat man Sie unter anderem den „poet of the white trash“ genannt. Können Sie damit etwas anfangen?
Im Prinzip habe ich nichts dagegen. Aber: In Amerika muss man mit dem Begriff vorsichtig sein, vor allem bei Leuten, die sich davon angesprochen fühlen könnten. Ich wohne unter solchen Leuten und hatte nie Schwierigkeiten. Wenn die wüssten, dass ich sie öffentlich als White Trash bezeichne, würde sich das bestimmt ändern. Und ich könnte es ihnen nicht verübeln.

Es gibt den Begriff „culture of poverty“, wonach sich solche Lebensumstände von Generation zu Generation fortschreiben, ohne dass die Menschen etwas daran ändern können. Glauben Sie, dass das stimmt?
Ich fürchte, es stimmt. Es gibt Familien bei uns, da hat seit drei Generationen niemand, und ich meine wirklich niemand, einen Vollzeitjob gehabt, sie leben von öffentlicher Unterstützung, und ich weiß nicht, wovon noch. Das Problem mit der Armut hier ist leider, dass man sich selbst helfen muss, man kann sich nicht auf einen Sozialarbeiter oder die Fürsorge verlassen. Wenn man es nicht selbst tut, kommt man nie aus diesem Kreislauf heraus. Und leider gibt es viele Leute, die keine Ambitionen in der Hinsicht haben, weil sie auch so irgendwie durchkommen.

Ree in „Winter’s Bone“ ist jedenfalls nicht so eine Person.
Nein, sie hat den Drive, sie wird es wahrscheinlich irgendwann schaffen, aus dem Milieu hinauszukommen. Sie hat einen Willen, der sie vorantreibt. Wenn ich sage, die Leute haben keinen Ehrgeiz, dann ist das ein bisschen ungerecht, denn es gibt Leute, die sind seit zehn Jahren arbeitslos, die hatten Fähigkeiten, die man bis dahin sehr gut brauchen konnte. Ich spreche etwa von der Holzindustrie. Plötzlich gab es Maschinen, die konnten 20 kräftige Männer ersetzen. Das waren gefährliche, aber gut bezahlte Jobs. Irgendwie sind diese Männer in die Mühlen der Geschichte geraten. Und dann bietet man ihnen Umschulungen an, man bezahlt sie dafür, dass sie irgendetwas lernen, womit sie erst recht nichts anfangen können – kein Wunder, wenn manche sich mit dem Wohlfahrtsscheck zufriedengeben und auf die Umschulung pfeifen.

Wie ist das mit Shuggie in „Sweet Mister“? Sein Vater ist ein unbelehrbarer Kleinkrimineller. Was wird aus Shuggie?
Ich fürchte, am Ende des Buches neigt er bereits zur Kriminalität. Er arbeitet, zumindest gelegentlich, und er hat auch den Willen dazu. Aber wie gesagt, er ist schon ziemlich tough, und um da rauszukommen, braucht es Anstrengung. Als ich so alt war, kannte ich viele Kids, die in die Erziehungsanstalt kamen. Bei manchen hat es genützt, bei den meisten aber nicht.

Dieser Aspekt des Inzests, der sich durch das Buch zieht, war das ein Problem für die Kritiker in den USA?
Ja, es gab Ärger deswegen, aber ehrlich gesagt, das ist ein Phänomen, das es in unseren ländlichen Regionen gar nicht so selten gibt. Viele Frauen sind sehr jung, wenn sie ihr erstes Kind bekommen, und wenn sie dann so um die 30 sind, sind die Söhne oft schon 14 oder 15, die Männer sind weg oder im Gefängnis, die Häuser sind oft sehr weit auseinander, es gibt kaum Kontakt zu den Nachbarn. Also so an den Haaren herbeigezogen ist das nicht.

Wurde Winter’s Bone in der Region gezeigt?
Natürlich! Er lief über ein Jahr lang in Kansas City im Kino, und auch in meiner Heimatstadt wurde er mehrmals gezeigt. Die Leute sind stolz darauf, und man darf nicht vergessen, viele von ihnen haben dabei mitgemacht.

Kennen Sie andere US-Filme, die man im weitesten Sinne als „neorealistisch“ bezeichnen könnte, die vom Setting und vom Tonfall her ähnlich sind? Sagen Ihnen Namen wie Ramin Bahrani, Kelly Reichardt oder Courtney Hunt etwas?
Ja, doch. Ich muss allerdings warten, bis die Filme auf DVD rauskommen, weil bei uns im Kino läuft das nicht. Einer der Produzenten von Winter’s Bone hat auch an Chop Shop mitgearbeitet, und Hunts Frozen River habe ich gesehen. „Neorealistisch“ – ich hätte nichts dagegen, wenn meine Arbeit so bezeichnet würde, das wäre ein Sammelbegriff, mit dem ich gut leben könnte. Als ich auf der Filmschule war, habe ich mich sehr damit beschäftigt. Mit Ladri di biciclette konnte ich zunächst nichts anfangen, erst später begriff ich die ungeheure Dimension dieses Films. Und Umberto D. ist einer meiner Lieblingsfilme.

Landschaft spielt in diesen neuen „neorealistischen“ Filmen eine sehr große Rolle, wie ja auch in Ihren Büchern.
Ja. Erst als ich begann, mich auf die Landschaft um mich herum zu konzentrieren, auf die Szenerie, die ich kannte, die Dinge, die ich täglich sehe, hatte ich das Gefühl, ich könnte kompetent über etwas schreiben. Dazu gehört übrigens auch das Essen von Eichhörnchen, das ist bei uns ganz normal. Überall, wo ich hinkomme, ist das ein Thema, weil es in „Winter’s Bone“ vorkommt. Dabei habe ich verschwiegen, dass sie leider wie Ratten aussehen, wenn man ihnen das Fell abzieht.

Kommen wir noch einmal zu „Woe to Live On“. Es scheint sehr viel Recherche darin zu stecken, über die Jayhawkers und Bushwhackers, also diesen Guerilla-Krieg abseits des „offiziellen“ Bürgerkriegs. Es scheint, dass das alles nicht sehr bekannt ist, auch in den USA nicht.
Das stimmt. Das war das Problem mit dem Film. Darum gibt es zu Beginn diese langen Rolltitel, die erklären müssen, was überhaupt Sache ist. Bei den Testscreenings stellte sich heraus, dass viele Leute nicht wussten, wann und wo das überhaupt passierte. Ja, ich habe ziemlich viel recherchiert. An der University of Missouri gibt es eine Research Library, wo es sehr viel Material dazu gibt, auch handschriftliche Berichte von Überlebenden. Das war alles sehr interessant, aber ich habe dann aufgehört. Mir ging es um das Setting, nicht um präzise historische Fakten. Deshalb habe ich auch auf Daten und Jahreszahlen verzichtet, weil das nicht das Thema ist.

Um das richtig zu verstehen: Als der Guerilla-Krieg anfing, war der Bürgerkrieg für den Süden schon verloren, oder?
Unterschiedlich. In der Gegend, wo ich lebe, war er noch nicht ganz entschieden. Das war eine Art Niemandsland. Reguläre Soldaten, Briganten, Guerilla, alle bewegten sich da vor und zurück. Und wenn man ihnen in die Quere kam, wurde man getötet. Ich schrieb das Buch unter dem Eindruck des Bürgerkriegs in Jugoslawien, wo es ja ähnlich chaotisch zuging, und letztlich unter dem Eindruck meiner Erfahrungen in Vietnam. Damals war ich jung und verstand die politische Dimension überhaupt nicht. Für uns war das wie ein Kriegsspiel. Erst später wurde mir das alles klar, die Interessen, die dahinterstanden, usw. Und ich wusste auch nichts von Protesten, das heißt, ich sah das in den Medien, aber da, wo ich herkam, gab es keine Proteste. Erst so um 1971, 1972 herum, da wurden auch die Leute bei uns unruhig und fragten sich, ob das Ganze noch gerechtfertigt war.

Es scheint, dass umso mehr Flaggen im Garten gehisst werden, je niedriger die soziale Schicht ist – so auch in „Winter’s Bone“. Und Dolly will sich ja freiwillig zur Army melden.
Ich kann das nicht belegen, aber ich nehme an, dass die meisten der jungen Leute, die jetzt in Afghanistan sind, aus solchen Milieus stammen. Junge weiße Leute aus dem Süden sind überdurchschnittlich repräsentiert in der Army. Man darf nicht vergessen, dass sie dort ziemlich gut bezahlt werden, verglichen mit den Perspektiven, die sie zu Hause haben. Und dafür, dass sie zunächst ungelernte Kräfte sind, werden sie auch recht gut ausgebildet. Wenn man das eine Ausbildung nennen kann.

Was wurde eigentlich aus der amerikanischen Linken?
Tot. Aufgerieben. Und in der herrschenden Diskussion ist es gar nicht mehr möglich, linke Positionen zu vertreten. Nur ein Beispiel: In unserer Region unterstützen die Arbeiter die Gewerkschaften nicht mehr. Warum? Man hat ihnen eingetrichtert, dass starke, unabhängige Amerikaner sich alleine durchsetzen. In der Gewerkschaft zu sein, sich auf andere zu verlassen, das sei etwas für sissies. Jetzt bekommen sie immer weniger Stundenlohn, aber es gibt keine Unions mehr, die ihnen helfen. Dafür hat man ihnen verkauft: Hey, ihr seid jetzt unabhängig.

Dank an Susanne Fink vom Liebeskind Verlag.