Tanz-Welturaufführung und Filmretrospektive – die vielschichtige Arbeit des mehrfach preisgekrönten Choreografen Lloyd Newson, zu erleben beim diesjährigen ImPulsTanz-Festival.
Das DV8 Physical Theatre – der Name beinhaltet „Dance and Video 8“, evoziert aber auch das englische „deviate“ (abseitig, abweichend) – wurde 1986 in Großbritannien vom australischen Tänzer Lloyd Newson gegründet und verbindet zwei visuelle Künste mit dem Ziel, physische und ästhetische Grenzen auszuweiten. Zwei Jahre nach ihrer Gründung nannten die „New York Times“ DV8, ob ihrer Risikofreude und gesellschaftskritischen Haltung, die „Sex Pistols of Dance“. Leisertreten ist fast drei Jahrzehnte später aber keineswegs angesagt. „Can We Talk About This“, die bislang letzte Arbeit, die vom Magazin „Tanz“ zur „Produktion des Jahres 2012“ gewählt wurde, behandelt ein hochbrisantes, politisches Thema: Islam, Multikulturalismus und Redefreiheit. Der Titel bezieht sich auf jene Frage, die der niederländische Filmemacher Theo van Gogh – schon angesichts des Todes – seinem Mörder Mohammed Bouyeri gestellt haben soll. Antwort darauf erhielt er nicht: Der islamkritische Film Submission wurde, in den Augen radikaler Islamisten, zu seinem „Todesurteil“. Seit „Can We Talk About This“ ist auch Lloyd Newson vorsichtiger geworden, was den Umgang mit der öffentlichen Präsenz anbelangt, er zeigt sich nur noch mit Sonnenbrillen und Kappe und achtet darauf, dass keine Fotos von ihm im Netz zu finden sind.
Interviews
Lloyd Newson erzählt beim frühmorgendlichen, samstäglichen Telefoninterview von erhitztem Austausch und zahlreichen Rückmeldungen nach den Aufführungen des Stücks: „Das ist genau das, was wir wollen. Egal, welches kontroverse Thema angesprochen wird, sei es Abtreibung, Atomkraft, Verbleib von Großbritannien in der EU, alles was wichtig ist, wird immer Befürworter und Gegner haben, die ihre Positionen argumentieren können – und das ist wichtig! Viele Leute sind frustriert von Tanz, weil sich viele Choreografen hinter Abstraktion verste-
cken und vage in ihren Aussagen bleiben, anstatt spezifisch zu werden und Bedeutung zu generieren.“ Newson will mit seiner Arbeit einen Diskurs eröffnen: „Es sollte möglich sein, über schwierige Themen zu reden. Sonst erlauben wir, dass mit der Aussage ‚Das ist meine Religion‘ nichts mehr hinterfragt werden darf. Frauen würden noch immer als Hexen verbrannt und Homosexuelle mit dem Tode bestraft, weil Homosexualität gemäß der Bibel als sündhaft verstanden wird.“
Im August kommt Lloyd Newsons neue Arbeit „John“ bei ImPuls-Tanz in Wien zur Welturaufführung. Es ist die außergewöhnliche Lebensgeschichte eines Mannes, der aus sehr schwierigen, von Gewalt geprägten Familienverhältnissen stammt und im Laufe seines Lebens mehrmals straffällig wird. „Wie geht jemand mit negativen Erfahrungen um? Wie lernt jemand, mit den widrigen Umständen seines Lebens fertig zu werden? Wie versucht er, die schlechten Erfahrungen hinter sich zu lassen, um zu überleben und positiv zu bleiben? Vier, fünf Jahre war John obdachlos. Wie ist es möglich, sich wieder zu resozialisieren, sich aufzurichten, ein konstruktives Leben zu führen und Liebe zu finden? Liebe ist ein wichtiges Element in der Geschichte.“ Ein überraschender Twist in Johns Lebensgeschichte wird ihn in eine andere Richtung führen. Mehr verrät der in London lebende Choreograf nicht: „Bei einem Agatha-Christie-Roman erzählt man auch nicht, wer der Mörder ist. Jedenfalls hat John ein sehr außergewöhnliches Detail in seiner Lebensgeschichte.“
Für „John“ wurden zunächst Interviews mit Männern zu den Themen Liebe, Sex und Alter durchgeführt, aber die Geschichte dieses einen speziellen Mannes war für Newson besonders faszinierend. Als Choreograf beinahe dokumentarisch, mit Interviews zu arbeiten, hat seine Ursprünge wohl in seiner Studienzeit: Er studierte Psychologie und Sozialarbeit an der Melbourne University, bevor er mit Tanz in Berührung kam. Daher rührt sein Interesse für choreografische und filmische Arbeiten, „in denen es wirklich um etwas geht – um mehr als nur um abstrakte Ästhetik.“ Ein Stipendium an der London Contemporary Dance School ermöglichte ihm, seiner Faszination für Tanz Raum zu geben. 2007 sollte es zu einem bedeutenden Einschnitt in seinem choreografischen Schaffen kommen: „Meine früheren Arbeiten waren konzentriert auf Bewegung. Als ich älter wurde – jetzt bin ich 57 –, kam ich an den Punkt, an dem ich mit meiner choreografischen Arbeit nicht mehr über die komplexe Welt um mich herum reflektieren konnte, ohne auch Worte dafür zu verwenden. Es war mir nicht länger möglich.“
Das schmutzige zeigen
Einen einfachen Satz wie „Das ist meine Schwester“ nur mit Bewegungen auszudrücken, wäre sehr kompliziert, so Newson. Er hat deshalb eine künstlerische Form entwickelt, die er „Verbatim Dance-Theatre“ nennt: Zahlreiche Interviews bilden dafür die Grundlage, Newson macht reale Erfahrungen aus erster Hand zur Basis seines Schaffens. „Für die vergangenen Arbeiten interviewten wir viele Menschen zu einem Thema, das Material wurde zur Grundlage der bis zu fünf Monate lang dauernden Probenarbeit. Wenn man einen Film macht, braucht es Jahre. Warum also nicht? Manche machen in sechs oder sieben Wochen ein Tanzstück. Wenn man etwas Komplexes machen will, dann braucht man dafür mehr Zeit.“ Nach den Interviews wird das Material gesichtet, eine Auswahl getroffen und das Set festgelegt. Newsons besonderes Interesse liegt in der Interrelation zwischen Text und Bewegung. „Stimmt man diese beiden Komponenten aufeinander ab, muss man dafür Sorge tragen, dass die Bewegungen nicht einfach verdoppeln, was schon der Text ausdrückt. „Zwischen den zwei Formen – Bewegung und Text – gibt es ein Zwischenspiel, wo Subtext entsteht. Beispielsweise kann etwas gesagt werden, und durch Gestik oder Mimik kann das Gegenteil zum Ausdruck gebracht werden. Setzt man diese zwei Gestaltungselemente ein, wird Komplexität möglich.“
Vier seiner Stücke, („The Cost of Living“ (2004), „Enter Achilles“ (1995), „Strange Fish“ (1992) und „Dead Dreams of Monochrome Men“ (1990), realisierte Newson auch als eigenständige, mehrfach ausgezeichnete Filmarbeiten, weil Film seiner Arbeitsweise sehr nahe ist: „Film arbeitet im Gegensatz zu Tanz nicht in einer hochstilisierten Bewegungswelt und kann das Unbequeme, das Unschöne, das Ungeklärte und das Schmutzige zeigen. Das Problem ist, dass viele Choreografen Sklaven der Schönheit bleiben, anstatt an wirklichen Themen zu arbeiten.“