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EUREKA

Eureka

Magischer Materialismus

| Jakob Dibold |
Reisen durch Raum und Zeit: „Eureka“, das nächste Kapitel im Werk von Lisandro Alonso.

 

Von vielen Kontexten aus lässt sich losdenken bei Lisandro Alonso. Vom Slow Cinema etwa, dieser Stilbezeichnung, die manche ihrer „Vertreter“ selbst nicht sonderlich mögen. Vorwiegend sind dies männliche Regisseure, quasi passend dazu hat sich Alonso zusätzlich, könnte man sagen, fünfzehn Jahre lang an der Figur des wortkargen Einzelgängers abgearbeitet. Oder man setzt beim Begriff des Nuevo Cine Argentino an, der mitunter immer noch lose den Umstand zu fassen versucht, dass seit den späten Neunzigern Filmschaffende wie Lucrecia Martel, Martín Rejtman, auch Mariano Llinás und Laura Citarella, Martín Piñeiro und einige mehr die Beschaffenheit des Landes und seiner Menschen neu durchleuchten. Alonso wird seit seinen Anfängen ebenfalls dazugezählt, mit seiner besonderen Handschrift, die an Fragen der Trennung von dokumentarischer und fiktiver Narration so gar nicht interessiert ist. Er wählt Orte aus, lernt Menschen kennen. Großteils bewegen sich und sprechen dann Menschen vor der Kamera, die eine Variation ihres eigenen Lebens spielen. Die Handlung entsteht erst richtig mit ihnen, eben dort, unweit ihres Zuhauses.

In seinem sechsten Langfilm ist Alonso diesen künstlerischen Grundprinzipien wieder ziemlich treu geblieben, wenngleich Eureka, gedreht auf der iberischen Halbinsel, im Mittleren Westen der USA und in den Wäldern Oaxacas in Mexiko, eine aufwendigere Produktion denn je geworden ist, und, in drei sich stark voneinander abhebende, durchweg in ihren Bann ziehende Teile gegliedert, sein meistschichtiges Werk. Dass das dauert, versteht sich von selbst. Tatsächlich ist es gut möglich, Alonsos Filmografie in zwei Abschnitte zu trennen, sieben Jahre nach Ende des Frühwerks erscheint 2014 mit Jauja ein beispielloser Kostümfilm, und nun fast ein Jahrzehnt danach ein daran anknüpfender filmischer Gestaltwandler. An und in beiden Filmen wirkt Viggo Mortensen zentral mit.

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THE SEARCHERS

Am Beginn des Wegs standen weitaus schlichtere Erkundungen. In Lisandro Alonsos Debütfilm La libertad (2001) sehen wir den jungen Holzarbeiter Misael, er fällt, hackt, zerlegt Bäume; verlädt, nachdem irgendwann dann doch noch ein zweiter Mensch ins Bild kommt, grobe Pfostenrohlinge auf einen Pick-up und fährt, um zu verkaufen. Nach Feierabend erlegt, zerlegt und brät er ein Gürteltier und isst es am schon nächtlichen Lagerfeuer. All dies als die Personifizierung einer individuellen Definition von Freiheit in den malerisch-abgeschiedenen Pampas, klar ist jedoch: Morgen wird er abermals hart arbeiten und Peso um Peso für das geschlagene Holz verhandeln müssen. Nächster Solitär ist der frisch aus dem Gefängnis entlassene Vargas in Los muertos (2004), dieser rudert ein Kanu durch Verästelungen des Flusses Paraná in der Provinz Corrientes. Einerseits, um der Tochter eines Mithäftlings eine Botschaft zu überbringen, andererseits um seine eigene zu besuchen. Die meditative Fahrt fördert Blutiges zutage, Vargas’ Absichten muten unangenehm an. Beide Filme fokussieren auf Daseinsformen jenseits urbaner Modernisierung, für Fantasma(2006) wendet Alonso daraufhin das Stadt-Land-Blatt und lässt seine beiden bis dato einzigen Hauptdarsteller Misael Saavedra und Argentino Vargas in den Räumlichkeiten des Kinos Teatro San Martín in Buenos Aires umherstreifen. Vargas ist der Protagonist, er sieht sich – eine Premiere? – den Film an, in dem er zuvor Protagonist war. Ein Ereignis, gleichermaßen seltsam komisch, komplex und einfach. Vargas war noch nie im Kino. Und nun ist er da, erschließt sich die gesamte Infrastruktur des Filmvorführgebäudes, nicht nur den Saal. Nach dieser Kinozusammenführung begibt sich Alonso mit Liverpool (2008) auf ein Frachtschiff und in die Provinz Tierra  de Fuego an der südlichen Spitze Südamerikas. Ein Crewmit-glied nutzt den Stopp, um seine kranke Mutter und seine Tochter aufzusuchen. Die Route dieses Mannes, Farrel – gespielt von Juan Fernández, einem hier ansässigen Schneepflugfahrer –, führt in eine verschlafene kleine Siedlung. Als er von dort wieder gen Hafen aufbricht, geht ihm der Film nicht nach, die Kamera bleibt bei seiner ihm entfremdeten Familie. Die Stolichnaya-Flasche dieses einsamen Cowboys, der zurückkehrt, bloß um neuerlich zu verschwinden, sitzt um ein Vielfaches lockerer als seine Zunge; die Tragikomik in Liverpool ist sehr rau. Einiges erinnert dennoch an die im Vergleich heitere Trinker-Melancholie von Aki Kaurismäki. Das ist insofern bemerkenswert, als Timo Salminen, Stamm-Kameramann von Kaurismäki, zwar nicht für Liverpool, aber seither auch für Alonso Bilder gestaltet: In Jauja gelingt den beiden eine wahnwitzig schöne Inszenierung der tiefen Landschaft Patagoniens. Die hip abgerundete Academy ratio und die auffälligen Kunstlichtwürfe kämen durchaus zu selbstgefällig rüber, würde der Blickachsen-Humor nicht so viel Freude bereiten, und würde Viggo Mortensen als wunderbar überforderter dänischer Kapitän auf der Suche nach – schon wieder – seiner Tochter nicht alsbald auf übernatürliche Irrwege geraten. Bevor er in „Jauja“ – sprichwörtlich ein Land des Überflusses, das alle verschluckt, die es finden wollen – verloren geht, nimmt seine Tochter mit einem jungen Soldaten, der ihr gefällt, Reißaus. Sie will sich von ihrem Vater eben nichts mehr verbieten lassen. Es scheint fast, als komme der Kapitän am Ende seiner Mühe, die sich demgemäß aus Bevormundungs-Bestreben speist, sogar selbst zu dieser Einsicht. Fast, denn zehn Jahre später schickt Alonso den Schauspieler, der ein Gros seiner Kindheit in Argentinien verbracht hat, ins erste Segment von Eureka weitersuchen.

VERORTUNGEN

Mortensen hält nun also als schießwütiger Rächer Murphy – in Jauja griff seine Figur noch etwas widerwillig, beinahe genervt zur Waffe – nach seiner Tochter Ausschau, beziehungsweise nach jenem Mann, den er für ihre Abwesenheit verantwortlich macht. Murphy kommt in einem hyperbrutalen Western an und begegnet bei einem Drink der mysteriösen El Coronel, verkörpert von Chiara Mastroianni, die ihn zunächst in die Schranken weist.

Des Abends dann „organisiert“ er sich ein Gästezimmer mit Blick auf die Straße, Geld wechselt dafür nicht den Besitzer. Alonso eröffnet seinen Film furios, mit einem perfekt orchestrierten Durcheinander, in dem Menschenleben nichts gelten, an jenem Set in der Wüste von Tabernas in Almería, das für Sergio Leones Once Upon a Time in the West (1968) gebaut wurde und sich heute erneut großer Beliebtheit erfreut (u. a. drehte Pedro Almodóvar seinen aktuellen Kurzfilm Strange Way of Life dort). Es kommt zu einem Stand-off wider Erwarten, woraufhin der Prolog in den Hauptteil des Films rutscht: In South Dakota, genauer im primär von Oglala-Lakota bewohnten
Pine Ridge Reservat, begleiten wir die Polizistin Alaina (gespielt von der Polizistin Alaina Clifford) in einen Nachtdienst, der ihr viel Kraft und viele Nerven abverlangt – was sie selbst kaum überrascht. Wiederholt bittet sie um Verstärkung, ahnend, dass wohl wieder einmal keine kommen wird; zu wenig Personal. Ein Schneesturm zieht auf. Ihre Nichte Sadie (Sadie LaPointe aus dem benachbarten Rosebud Reservat) kann ihr lediglich die Betreuung einer französischen Schauspielerin mit Autopanne abnehmen, zum Tatort einer tätlichen Auseinandersetzung in einem Casino kommt Alaina unweigerlich zu spät. Sadie, die als Basketballtrainerin arbeitet, scheint derweil als eine der wenigen hier Optimismus in sich zu tragen, fasst in dieser Nacht jedoch endgültig den Entschluss, auf unbestimmte Zeit fortzugehen. Nachdem sie ihren Großvater besucht, zieht der Film weiter, vermeintlich in den Regenwald des Brasiliens der siebziger Jahre. Jetzt wird die schon schleichend stets traumhaftere Atmosphäre leibhaftiges Sujet: Gedreht wurde in Mexiko mit Angehörigen des Chatino-Volkes, die einander noch von ihren Träumen der vorigen Nacht berichten, ehe einer von ihnen nach einem fatalen Streit die Gruppe verlässt. Der Flüchtige gerät an Goldsucher und hofft auf Glück, eher vergebens.

Es beeindruckt, wie Alonso und Editor Gonzalo de Val diese Fülle an auch für sich stehenden Geschichten und Ideen zu einem stimmigen Ganzen fügen. Bei aller Fluidität und Experimentierfreude ist Eureka wie ein relativ klassisches Triptychon konstruiert – zwei Flügel, gehalten von einer breiteren, gespenstischen Mitteltafel.

Der Prolog zelebriert die Schaulust aufs Töten als Leinwand-spektakel vorrangig anhand von Schießereien zwischen Weißen, „borgt“ sich allerdings Text aus Cormac McCarthys berühmtem Roman „Blood Meridian“, der die Verbrechen der berüchtigten Glanton-Gang – schuldig zahlloser Morde an Native Americans – aufgreift. Im letzten Teil des Films werden dann materielle Interessen der Kolonialisten als Grundlage für Unterdrückung und Gewalt gegen Indigene gezeigt, eine Stimme verortet das Geschehen in die Zeit der Militärdiktatur unter Präsident Ernesto Geisel. Zur Einordnung: Dessen Innenminister kündigte damals offiziell an, die Zahl der Indigenen im Land um 90 % verringern zu wollen. Tatsächlich sehen wir den Dschungel in Oaxaca, Mexiko, eine Szene mit einem durchfahrenden Zug könnte als Verweis aktueller nicht sein: Weiter östlich, auf Yucatán, wird zurzeit schließlich mit dem touristisch motivierten Bahnprojekt „Tren Maya“ eine Schienenverbindung durch den Wald gelegt. Der Bau ist in vollem Gange, Kostenpunkt sind mittlerweile um die 30 Milliarden US-Dollar, dazu Millionen gefällte Bäume und die Bedrohung der heiligen Wasserhöhlen, Cenotes, und damit des Grundwasservorkommens.

In Pine Ridge – wo Mauro Herce filmte, weil DoP Timo Salminen einen kältebedingten Kollaps erlitt und ausfiel – ist die materielle Realität der indigenen Bevölkerung in ein Lynch’sches Flair der Unheimlichkeit eingebettet, das stroboskopgleiche Flackern der Polizeiwagen-Sirene erleuchtet ähnlich hypnotisch die Nacht wie in Nicolas Winding Refns Too Old to Die Young (2019). Weil hier aber einfach nur eine Officer routiniert ihren Job macht, ist vielleicht ein Gedanke näher, den Deborah Stratman in der 2023 erschienenen Viennale-Publikation über Lisandro Alonso (Nummer sechs der Reihe „Textur“) geht: Sie schlägt eine Brücke von Los muertos zu Nina Menkes’ Queen of Diamonds (1991). Unter anderem Menkes’ Casino-Sequenzen und das Element mantra-artiger Sprechakte (dort am Roulettetisch, hier per Polizeifunk) lassen sich genauso gut als deutliche Parallele zu Eureka lesen. Die Hauptdarstellerinnen Alaina Clifford und Sadie LaPointe haben beide betont, wie positiv und respektvoll gegenüber ihnen als Person sowie den kulturellen Praktiken sie die Arbeit mit Alonso erlebten, unbedingt muss zudem der Casterin Eleonore Hendricks Credit gegeben werden: Sie hat in dieser Funktion bereits an zwei weltweit rezipierten Produktionen, die mit im Pine Ridge Reservat lebenden Personen arbeiten, mitgewirkt, Songs My Brother Taught Me (2015) der späteren Oscarpreisträgerin Chloé Zhao und War Pony (2022; R: Riley Keough und Gina Gammell). Zwei der Darsteller in Letzterem spielen ebenfalls in Eureka, wobei Stanley Good Voice Elk eine äußerst wichtige Rolle zukommt: Als Sadies Großvater ist er maßgeblich am für den Film zentralsten magischen Moment beteiligt und gibt seiner Enkelin einen mahnenden Rat, der vonseiten der Kritik mehrfach als essenziell nicht nur für diesen einen Film Lisandro Alonsos analysiert wurde: „Always remember: space, not time. Time is a fiction invented by men.“

ZEITRÄUME

Natürlich ist das ein Satz wie gemacht für ewig kreisende philosophische Diskussionen. Im Grunde beschreibt er, wieso in Eureka durch die Zeiten gesprungen wird. Der Film findet so in eine Art von Jetzt, direkt in die Gegebenheiten und Dinge. Außerdem ist er darauf bedacht, jenen Menschen Raum zu geben, die aus realen Räumen verdrängt werden. „Claim the space“ trifft hier auf einen Zeitbegriff, der keine Linie, keinen linearen Verlauf meint. Gleich ist man, wenn man so will, bei Film und Kino selbst, bei deren Eigenheit, die unterschiedlichsten Zeiträume behaupten zu können. Im 60-Minüter Fantasma erkunden die beiden ersten Hauptdarsteller Alonsos, Misael und Vargas, das Kino nicht nur als Raum, von dem sie und ihre Lebensweise repräsentiert werden – von den 35mm- und DVD-Kopien des Films werden sie wahrscheinlich überdies überlebt, überdauert werden –, sondern erschließen sich diesen Raum materiell, als physisches Gebäude. So gesehen fällt in diesem Film das ganze „fantasma“/„Trugbild“, das ganze Kartenhaus „Filmemachen“ schön in sich zusammen, und das ist kein Scheitern, sondern ein Zueinanderfinden.

Im Sinne des Klarwerdens, des Gestalt-Annehmens und des Von-sich-selbst-Ergebens könnte sich ein solches Fallen, also „to fall into place“, gut eignen, um Lisandro Alonsos künstlerische Praxis zu beschreiben: Der anreisende Regisseur, der erst vor Ort entscheidet, mit wem gemeinsam er einen Film erarbeiten will, der immer bereit ist, auf veränderte Parameter zu reagieren – seien es klirrende Minusgrade in South Dakota, besondere Charakteristika und Fähigkeiten seiner Mitmenschen oder pandemische Restriktionen. Auch Eureka funktioniert, bleibt man im Bereich der Worte, sicher stärker als fortlaufendes Suchen und Werden denn als der berühmte Ausruf „Ich habe (es) gefunden“, diese Entdeckung, Problemlösung oder Epiphanie. Freude am Zufall und große Offenheit tragen Eureka ebenso wie die Verweigerung solcher plötzlich und final gefundener Antworten. Hier regiert eine Traumlogik, in der sich, wenn, dann nur die Fragen vermehren. Und sich die Magie wie von selbst ergibt.

AUSRUFEZEICHEN

Nicht mit rettenden Lösungen zu prahlen, scheint aus der Perspektive von Besuchenden in indigenen Lebenswelten, wie Alonso einer ist, sehr richtig. Trotzdem ist Eureka alles andere als eine beliebige Fantasie, vielmehr, wie gesagt, ein ganz konkreter, gegenständlicher Film. Der Ausdruck „Eureka“ ist sehr wohl unvermittelt mit den Themen des Films verbunden, er belegt namentlich die grausame Landnahme der Weißen und deren Untrennbarkeit vom rauschhaften Run auf Bodenschätze: Viele Siedlungen und Städte in den USA sind nach eben diesem triumphalen Ausruf benannt, der oft als spontane Reaktion den Fund einer geeigneten Stelle für den Bau oder aber von Gold, Silber, Öl, Kohle etc. begleitete. „Noch unbewohnt“ waren diese Orte bekanntlich nicht: In Eureka, California, etwa verbrachen Weiße 1860 ein Massaker an bis zu 250 Kindern, Frauen und Älteren des Wiyot-Stammes. Aus dem Gebiet des heutigen Eureka Springs, Arkansas, wurden Osage, Delaware und Shawnee vertrieben. Die Liste ließe sich fortsetzen. Ein jüngerer bekannter Fall betrifft Eureka County, Nevada, wo die Shoshone-Aktivistinnen Mary und Carrie Dann bereits ab den Siebzigern einen Land-Rechtsstreit mit der US-Regierung führten. Der Dokumentarfilm American Outrage (2008) porträtiert die zwei Schwestern, die auch im Protest gegen Atomtests im Shoshone-Gebiet aktiv waren.

Eureka ist natürlich, obwohl Lisandro Alonso das nicht gerne benennt, auch ein politischer Film. Seinem bisherigen Werk hat der Regisseur mit ihm etwas Großes, Faszinierendes hinzugefügt, Kontemplation und Konfrontation gehen darin Hand in Hand wie von Zauberhand. Sein Gefährte Viggo Mortensen sagte über Jauja, dass er die Geschichte als einen Traum des Hundes deute, dem seine Figur gegen Ende hin begegnet. Wie schon das Filmplakat von Eureka verrät – dieser Text versuchte, es zu vermeiden –, träumt hier vielleicht ein Jabiru von einer gerechteren Welt.