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Dark Glasses
Ilenia Pastorelli als Diana in Dark Glasses

Dark Glasses

Meister des Schreckens

| Jörg Schiffauer |

In sattem Blutrot erstrahlt das Kleid von Diana (Ilenia Pastorelli), demselben unverwechselbaren Farbton, den sie zugleich als Lippenstift aufträgt. Diese Farbe sticht auch dann hervor, als sich Diana mitten in Rom das seltene Schauspiel einer totalen Sonnenfinsternis ansieht. Als durch dieses Naturereignis kurzzeitig eine ungewohnte Finsternis über die Ewige Stadt hereinbricht, ist die Dame im Roten Kleid gleichsam der einzige leuchtende Punkt inmitten all der schemenhaften Gestalten. Womit Dario Argento gleich zu Beginn von Occhiali neri (Dark Glasses) auf der Bildebene ein programmatisches Statement – blutrot wird bald im wahrsten Sinn des Wortes eine zentrale Rolle spielen – etabliert. Denn seine neue Regiearbeit erweist sich durch und durch als Reminiszenz an sein eigenes Œuvre und speziell an den „Giallo“, jenes Subgenre, das Argento ganz entscheidend geprägt hat.

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Kunstvoller Schrecken
Der Plot ist rasch subsumiert: Unmittelbar nach dem Bestaunen der Sonnenfinsternis widmet sich Protagonistin Diana wieder ihren glänzend laufenden Geschäften als Nobelprostituierte, die jedoch jäh unterbrochen werden, als sie ins Visier eines Serienmörders gerät, der schon mehrere von Dianas Berufskolleginnen auf dem Gewissen hat. Als der Killer Diana mit seinem Kastenwagen verfolgt, verliert sie im Zuge dieser Hetzjagd die Kontrolle über ihr Auto und verursacht einen Unfall, in dem auch das Fahrzeug einer chinesischen Familie involviert wird. Der Zusammenstoß hat katastrophale Folgen: Diana verliert durch den Aufprall ihr Sehvermögen, das chinesische Ehepaar stirbt an den Verletzungen, ihr kleiner Sohn namens Chin kommt in ein Pflegeheim. Diana findet sich nur schlecht mit ihrem Schicksal ab, Unterstützung bekommt sie dabei von Rita (Asia Argento), die für eine Organisation arbeitet, die sich um sehbehinderte Menschen kümmert und ihr die speziell ausgebildete Schäferhündin Nerea als Assistentin zur Bewältigung des Alltags vermittelt. Zudem plagt Diana wegen des Unfalls – für den sie als Opfer des unheimlichen Mörders ja eigentlich gar nichts kann – das schlechte Gewissen, also beschließt sie den kleinen Buben, der seine Eltern verloren hat, aufzusuchen. Das Treffen verläuft zunächst eher durchwachsen, doch als Chin aus dem Heim ausreißt und Unterschlupf bei Diana sucht, nimmt sie ihn ungeachtet anfänglicher Bedenken in ihrem luxuriösen Apartment, in dem sie zwischenzeitlich wieder begonnen hat, Kunden zu empfangen, auf. Doch der Killer zieht weiterhin seine Kreise um Diana. Es entwickelt sich ein mörderisches Katz-und-Maus-Spiel, bei dem die Lage für die blinde Frau und den Buben zunehmend ausweglos erscheint.

Das alles klingt vermutlich nicht nur für eingefleischte Genrefans nach einem bewährten und vielfach erprobten Sujet. Denn als fest in der Tradition des Giallo stehend, finden sich die Stärken von Occhiali neri nicht in raffiniert konstruierten Handlungssträngen. Besagter Giallo, der sich ab den sechziger Jahren als spezifische Spielart des italienischen Kinos zu entwickeln begann, leitet seinen Namen – dem italienischen Wort für gelb – von der eindringlichen Farbe des Einbands der sehr populären Romanhefte „Il Giallo Mondadori“ ab, die bereits seit den dreißiger Jahren publiziert wurden und als eine Art von Pulp Fiction Kriminalgeschichten abhandelten. Was Inhalte und in besonderer Weise die Form angeht, hat der Giallo einen Entwicklungsprozess durchlaufen, bei dem sich erst nach und nach anhand des Korpus an Filmen, die als Vertreter dieses Subgenres gelten, charakteristische Motive und stilbildende Elemente herauskristallisierten. Die Filmauswahl in der umfassenden Retrospektive „Giallo: Italiens Thriller-Moderne“ des Österreichischen Filmmuseums im Herbst 2019 demonstriert wiederum eine Vielfalt, die diese Spielart aufweisen kann – und so nebenbei die Frage der Definition eines Giallo als durchaus diffizile Angelegenheit erscheinen lässt.

Neben prototypisch anmutenden Arbeiten wie Mario Bavas Sei donne per l’assassino (Blutige Seide, 1964) oder Non si sevizia un paperino (Quäle nie ein Kind zum Scherz, 1972) – Lucio Fulci schlägt in Sachen Gewalt hier allerdings eine härtere Gangart ein – finden sich auch verstörende Thriller wie Chi l’ha vista morire? (The Child – Die Stadt wird zum Albtraum; Aldo Lado 1972), in dem die spezielle Atmosphäre des Schauplatzes Venedig einer Mordserie, der kleine Mädchen zum Opfer fallen, eine besonders morbide Stimmung verleiht. Luigi Comencini erweiterte das Giallo-Repertoire mit La donna della domenica (Die Sonntagsfrau, 1975) um eine ironische Note, Nelle pieghe della carne (In den Falten des Fleisches; Sergio Bergonzelli, 1970) wiederum schwelgt geradezu in seinem exzessiven Exploitation-Modus. Der vielleicht eigenwilligste Beitrag zu diesem Subgenre stammt von Elio Petri, der sich mit  L’assassino (Trauen Sie Alfredo einen Mord zu?), Indagine su un cittadino al di sopra di ogni sospetto (Ermittlungen gegen einen über jeden Verdacht erhabenen Bürger) und Todo Modo als einer der schärfsten und pointiertesten Kritiker der politischen und gesellschaftlichen Zustände des Nachkriegsitalien erwiesen hat.

Im Mittelpunkt von Un tranquillo posto di campagna (Das verfluchte Haus, 1968) steht ein von Franco Nero und Vanessa Redgrave gespieltes mondänes Paar, das sich eine Auszeit von ihrem urbanen Leben nehmen möchte und zu diesem Zweck in ein abgelegenes Landhaus zieht. Petri bedient sich einer extravaganten, von Flashbacks geprägten, Erzählstruktur, um einen gewagten Mix aus psychologischem Thriller und Spukgeschichte, bei dem Wahn und Wirklichkeit immer mehr verschwimmen in Szene zu setzen, der auf mehreren Ebenen auch die gegenkulturellen Umbrüche jener Tage widerspiegelt.

Ungeachtet solcher Grenzgänger wird jedoch kein Zweifel darüber bestehen, dass kein anderer Regisseur den Begriff „Giallo“ mehr geprägt hat als Dario Argento. Bereits sein Regiedebüt L’uccello dalle piume di cristallo (Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe, 1970) enthält einige jener Kernelemente, die üblicherweise mit dem Giallo assoziiert werden: eine Mordserie, Nachforschungen durch zumeist zufällig in die Sache verwickelte Charaktere, die schließlich in der finalen Konfrontation – oft verbunden mit einem gehörigen Twist – mit dem Killer münden. Doch vor allem zeigt Argento bereits hier einen Sinn für jene spezielle Ästhetik, die alle seine Filme auf ganz besondere Art prägt. Seine extravagante visuelle Stilistik mit dem Spiel von Licht und Schatten – für die Bildgestaltung von L’uccello dalle piume di cristallo zeichnete kein Geringerer als Vittorio Storaro verantwortlich –, Point-of-View-Einstellungen und extremen Nahaufnahmen sowie die expressiv anmutende Farbgebung – das angesprochene rote Kleid am Beginn von Occhiali neri dient als Querverweis – tragen wesentlich dazu bei, dass Dario Argentos erste Regiearbeit deutliche Alleinstellungsmerkmale aufweist. Regisseur Luigi Cozzi, als Assistent und Ko-Drehbuchautor ein langjähriger Kollaborateur Argentos, erinnert sich an seine erste Reaktion auf L’uccello dalle piume di cristallo: „Ich sah Dario Argentos ersten Film in einem Kino in Rom und war begeistert, für mich war er ein Genie. Seine Filme unterschieden sich so stark von allen anderen italienischen Regisseuren dieses Genres, auch von denen Mario Bavas. Argentos Filme waren modern, innovativer als US-amerikanische Filme dieser Zeit, das hat man auf der Leinwand richtig gespürt.“

Argento entwickelte seine ganz eigene Handschrift konsequent weiter, Il gatto a nove code (Die neunschwänzige Katze, 1971), Quattro mosche di velluto grigio (Vier Fliegen auf grauem Samt, 1971) und insbesondere Profondo rosso (Rosso – Farbe des Todes, 1975) wurden zu stilprägenden Arbeiten des Giallo. Raffiniert konstruierte Plots sind ohnehin nicht Spezialität dieses Subgenres, doch Dario Argento untergräbt ganz bewusst die im klassischen Hollywood-Kino bewährten Strukturen narrativer Logik und des Prinzips der Kausalität, die sich als dominierende Art des filmischen Erzählens etabliert hatten. Argentos Form des Erzählens zielt vielmehr über die Stilisierung auf der visuellen Ebene auf das Generieren einer bedrohlichen Atmosphäre und jener Angstmomente, die er selbst „Fluss der Dramatik“ nennt, ab. Es ist durchaus bezeichnend, dass Argento in der Dokumentation Dark Glamour: Aufstieg und Fall der Hammer Studios seine Affinität für den expressiven Stil von „Hammer-Horror“, der selbst in der Popkultur zu ikonischem Status gelangte, Ausdruck verleiht: „Mir gefiel, was sie erzählten, ihre Geschichten, mir gefiel ihr Stil, die Art, wie sie erzählten, schnell, fast kalligrafisch, stark aggressiv.“

Selbstzitate
All diese Parameter sollte man bei der Rezeption von Occhiali neri – der internationale Titel „Dark Glasses“ ist übrigens die Übersetzung des italienischen Originals und verweist schlicht und einfach auf die dunkle Sonnenbrille der Protagonistin Diana – im Hinterkopf behalten, um zum umfassenden Filmvergnügen zu kommen. Denn entlang des bereits geschilderten Plots, der entsprechend guter Giallo-Tradition nicht besonders verschlungen ist, dekliniert Dario Argento sein Œuvre gleichsam durch. Das beginnt etwa mit den zentralen Charakteren, der blinden Diana und dem chinesischen Buben, auf dessen Hilfe sie angewiesen ist. Die Ähnlichkeit dieser Konstellation mit jener von Il gatto a nove code, in der der von Karl Malden gespielte Charakter, der ebenfalls sein Augenlicht verloren hat und im Alltag Unterstützung von seiner kleinen Nichte erhält, ist offensichtlich. Der Blindenhund, der Diana führt, erinnert an jenes derartige Assistenz leistende Tier in Suspiria (1977), der zwar aufgrund seines phantastisch-übernatürlich anmutenden Plots nicht als Giallo gilt, von der Stilistik her jedoch ein Schlüsselwerk im Schaffen Argentos repräsentiert. Und die Art, wie das Schäferhündchen gegen Ende von Occhiali neri zuzupacken versteht, ist eine ganz besondere Reverenz in eigener Sache, die sich Dario Argento erweist.

Die im anschließenden Interview angesprochene Bedeutung, die der Farbe Weiß in Occhiali neri zuzuschreiben ist, verweist wiederum auf Tenebre (1982), eine der schönsten und komplexesten Arbeiten von Maestro Argento. Weiß, die Farbe der Unschuld, ist da nämlich der immer wiederkehrende visuelle Gegenpol zu den Umtrieben jenes Killers, der literarische Phantasien eines Kriminalschriftstellers in die Tat umzusetzen scheint. Tenebre erweist sich nicht nur als höchst formvollendeter Giallo, Argento versteht es auch, ein gehöriges Maß an Selbstreflexion zu integrieren. So wird besagter Autor wegen der gewalttätigen Inhalte seiner Bücher von einer Journalistin mit dem Vorwurf der Misogynie konfrontiert, eine Frage mit der sich auch Dario Argento im Verlauf seiner Karriere auseinandersetzen musste. Dass der Autor am Schluss selbst auch zum Täter wird, erscheint in diesem Kontext als selbstironische Pointe der besonderen Art.

Tenebre präsentiert sich überhaupt als geradezu emblematischer Repräsentant des Giallo, der die Balance zwischen drastischen Gewaltdarstellungen und Stilisierung – die als Genre-immanentes Element Gewalt entsprechend kontextualisiert – auf kongeniale Weise zu halten versteht. Dass es in einem Giallo recht heftig zur Sache gehen kann, macht Dario Argento übrigens gleich zu Beginn von Occhiali neri deutlich, als der Killer sein Opfer mit einem Draht erdrosselt und der Frau dabei fast den Kopf abtrennt.

Die Liebe zum Detail, mit der Argento in seiner neuen Regiearbeit auf seine bisherigen Filme verweist, lässt Occhiali neri als Pastiche in eigener Sache erscheinen. So setzt sich etwa das Ermittler-Duo aus einem Frau und einem Mann zusammen – genau wie dies auch in Tenebre der Fall ist. Zudem hat Arnaud Rebotini einen Score komponiert, der deutlich die Erinnerung an eingängige Soundtracks früherer Argento-Filme wach werden lässt. Neben Ennio Morricone, der dabei für die ersten drei Regiearbeiten Argentos (L’uccello dalle piume di cristallo, Il gatto a nove code, Quattro mosche di velluto grigio) verantwortlich zeichnet, sind dabei vor allem die Soundtracks der Progressive-Rockband Goblin (Profondo rosso, Tenebre) und jener von Inferno (1982, dem mittleren Teil der „Muttertrilogie“, die zudem auch von Suspiria und La terza Madra gebildet werden), den Keith Emerson geschrieben hat. Es sind in Occhiali neri also alle Ingredienzen vorhanden, um sich neben der Erinnerung an die vielen Höhepunkte in Dario Argentos Schaffen wieder einmal jenes rauschhaft anmutende Erlebnis zu gönnen, das nur ein Ausflug in das erzählerische Universum des Meisters der Angst bietet.