Kelly Reichardt wurde diese Woche auf dem International Filmfestival Rotterdam (IFFR) mit dem Robby Müller-Preis ausgezeichnet. Gelegenheit für ein Gespräch mit der US-amerikanischen Regisseurin über trainierte Kühe, unprominente Schauspieler und ihre Art von Actionfilmen.
2020 war nicht nur das Jahr der Covid-Pandemie, sondern auch ein besonderes Jahr für Kelly Reichardt. Seit ihr neuestes Werk First Cow auf der vergangenen Berlinale im Wettbewerb lief und dort zwar bärenlos ausging, aber von Kritik und Publikum gleichermaßen zum Gewinner der Herzen gewählt wurde, ging es Schlag auf Schlag für die sympathisch-bodenständige Regisseurin, die zu den wichtigsten Auteurinnen im amerikanischen Independent-Kino zählt. Melbourne, Deauville, Hamburg, Busan, Thessaloniki, Gijón und Singapore sind nur einige Stationen der Festivalroute, die sie anschließend mit ihrem untypischen Western über zwei Männer, die im Wilden Westen Kekse backen, absolvierte. Derzeit ist Reichardt, wenn auch nur virtuell, beim IFFR in Rotterdam zu Gast, wo sie nach dem mexikanischen Kameramann Diego García heuer als zweite Preisträgerin überhaupt mit dem 2019 initiierten Robby Müller Award gewürdigt wird. Die Auszeichnung ist für Künstlerinnen und Künstler bestimmt, die mit einer authentischen und herausragenden visuellen Sprache überzeugen – was Reichardt für diese Ehrung geradezu prädestiniert.
Seit ihrem Debüt River of Grass (1994) versucht Reichardt in ihren Filmen, dem Mythos Amerika mit präzisen Beobachtungen, einem klugen Einfühlungsvermögen und viel Menschlichkeit auf die Schliche zu kommen. Immer wieder findet sie dafür neue, mal männliche, mal weibliche, immer aber spannende Perspektiven, die sie mit viel schlichter Eleganz und wenig Eile in verschiedensten dramatischen Formen zu inszenieren versteht. Mit Meek’s Cutoff drehte sie 2010 erstmals die Variation eines Western. Und auch First Cow ist im Genre verwurzelt und im quadratischen Academy-Format gefilmt, um von der ungewöhnlichen Freundschaft zweier Außenseiter im Wilden Westen des frühen 19. Jahrhunderts zu erzählen, und von einer Kuh, die Möglichkeiten schafft.
Ms Reichardt, „First Cow“ basiert auf Jonathan Raymonds Roman „The Half-Life“, einer komplexen Parabel über Freundschaft, gesellschaftliche Ausgrenzung und kapitalistische Fallstricke. Eine Kuh kommt darin allerdings nicht vor. Wie hat es Evie in Ihrer Verfilmung zur Titelheldin geschafft?
Kelly Reichardt: Die Kuh war für mich der Schlüssel zu der Geschichte. Jonathan und ich haben lange nach einem Weg gesucht, den Roman in einer Weise auf die Leinwand zu übertragen, die mir und meiner Arbeitsweise entspricht. Das Problem war, das die Handlung im Buch vier Jahrzehnte umspannt, und meine Filme für gewöhnlich nicht mehr als ein paar Wochen in Leben meiner Protagonisten beschreiben. Und ich konnte mir nicht vorstellen, wie das funktionieren sollte. Die Kuh war die Erleuchtung. Mit ihr war es uns möglich, die Figuren, Themen und Motive aus der literarischen Vorlage zu übernehmen, und gleichzeitig eine Geschichte zu erzählen, die in einem zeitlich abgesteckten Rahmen abläuft, der meiner Art des Filmemachens entspricht. Ich weiß nicht mehr genau, wann die Kuh konkret ins Spiel kam, aber ich glaube, wir sind quasi rückwärts darauf gekommen. Wir hatten eine Verfolgungsszene für King-Lu und Cookie im Kopf, nur fehlte uns das Motiv, das Ding, vor dem sie weglaufen würden. Und eines Tages kam Jonathan mit der Kuh-Idee. Und das war es.
Es ist nicht das erste Mal, dass Sie im Film zwei Männer und ein Tier in den Vordergrund der Handlung stellen. In „Old Joy“ erzählten Sie auf einfühlsame Weise von den Irritationen einer Männerfreundschaft. Damals war Ihr Hund Lucy dabei. Was reizt Sie an dem Thema?
Kelly Reichardt: Es sind immer die Figuren selbst, so wie Jonathan sie schreibt. Old Joy basiert ebenfalls auf einer Novelle von ihm. Vielleicht liegt darin die größte Gemeinsamkeit. Aber darüber habe ich nicht nachgedacht, als ich mir den Stoff vornahm. Erst als wir begannen, für First Cow nach Drehplätzen zu suchen, kam mir einmal der Gedanke, dass ich plötzlich wieder im Wald stand, genauso wie in Old Joy. Daniel London und Will Oldham, die in dem Film die Hauptrollen spielen, waren damals praktisch auf einem Camping-Trip in der Natur unterwegs, während wir drehten. Es war wirklich so, wie man es im Film sieht: Je tiefer wir in den Wald eindrangen, um so intensiver wurde diese männliche Verbundenheit zwischen ihnen. Aber letztendlich geht es in Old Joy um zwei alte Freunde, die sich auseinandergelebt haben. Und in First Cow ist das Gegenteil der Fall. Da treffen zwei Fremde aufeinander, die zu engen Freunden werden. Trotzdem habe ich beim Drehen schon ein paar Mal gedacht, dass irgendwie von allen meinen Filmen etwas in First Cow steckt und ich vielleicht unbewusst ein Best-of inszenieren würde. (Lacht.)
Ihre Filme haben stets einen wunderbar eigenwilligen Rhythmus. Sind Sie sich darüber eigentlich bewusst, während Sie an dem jeweiligen Projekt arbeiten? Oder blenden Sie solche Gedanken komplett aus und folgen einfach Ihrem Instinkt?
Kelly Reichardt: Ich denke, jeder Mensch hat seinen natürlichen Rhythmus. Ich merke das bei mir, weil ich meine Filme selbst schneide, und das bestimmt, wie ich manche Szenen filme, weil ich meinen eigenen Rhythmus kenne. Viele Szenen in First Cow sind so gedreht, dass sie unmittelbar verbunden sind mit der Szene oder der Einstellung, die darauf folgt. Das heißt, ich kann mir eigentlich keine Patzer erlauben, weil alles darauf aufgebaut ist, das die einzelnen Szenen ineinandergreifen. Heute fällt mir diese Art des Arbeitens leichter, weil ich mehr Erfahrung habe und mein Kameramann Christopher Blauvelt und ich mittlerweile ein perfekt eingespieltes Team sind. Aber es ist schon witzig, dass Sie das Thema Rhythmus ansprechen, weil ich jedes Mal denke: Also jetzt hast du endlich mal einen Actionfilm gemacht. Und dann sitze ich in den ersten Pressegesprächen, und alle reden wieder nur darüber, wie langsam das Tempo ist. Erst wenn ich mir andere zeitgenössische Filme anschaue, wird mir bewusst, warum meine Arbeiten so viel langsamer erscheinen. Wenn ich bei der Sache bin, kommt mir das nie so vor.
Wieso spielen Tiere in Ihren Filmen immer eine große Rolle? Was können Sie zur Dynamik zwischen den Figuren beitragen?
Kelly Reichardt: Ich liebe Tiere. Ich bin mit Hunden aufgewachsen, aber ich meine das ganz allgemein. Tiere sind unheimlich ausdrucksstark und spontan, und am Set sorgen sie dafür, dass auch die Schauspieler spontan bleiben. Ich habe bei dem Film versucht, mit trainierten Tieren zu arbeiten, aber das gefiel mir gar nicht. Abgesehen von Evie, die musste trainiert sein, sonst hätte es nicht funktioniert. Aber bei Hunden ist das etwas anderes. Es kann zwar auch manchmal frustrierend sein, wenn ein Hund nicht macht, was man will. Aber es bedeutet auch, dass die Schauspieler reagieren müssen und dadurch eine ganz andere Energie entsteht. Ich habe definitiv bessere Erfahrungen mit untrainierten Tieren gemacht.
Und warum stellt die Kuh in der Hinsicht eine Ausnahme dar?
Kelly Reichardt: Die Kuh musste trainiert sein, allein um sie auf die Fähre zu bekommen, zumal Kühe nicht schwimmen können. Das war der Hauptgrund. Und auch, dass sie an so viele Menschen gewöhnt sein musste. Aber mehr nicht. Sie war beispielsweise nicht trainiert, ihren Kopf in die eine oder andere Richtung zu drehen oder sonst irgendwelche Tricks zu machen. Es war eine Herausforderung, mit ihr zu drehen. Alle mussten sich mehr oder weniger auch an die Kuh gewöhnen, die Schauspieler, die Crew. Manchmal musste wegen ihr alles wie in Slow-Motion ablaufen. Jeder musste auf jeden Rücksicht nehmen – Menschen auf Tiere und umgekehrt.
Sie haben in früheren Filmen bereits mehrfach mit Hollywood-Schauspielern gedreht. Weshalb haben Sie in „First Cow“ lieber auf weniger prominente Darsteller gesetzt?
Kelly Reichardt: Ich wollte unbedingt, dass John Magaro die Hauptrolle spielt. Er ist einfach phantastisch. Und wenn ein Schauspieler nicht sofort vom Publikum erkannt wird, kann das ein großer Vorteil sein. Es nimmt einem als Regisseurin auch eine gewisse Arbeit ab. Wobei Magaro ja kein komplett Unbekannter ist, zumindest wenn man sich auch für Theater interessiert. Aber es war toll, ihn und Orion Lee in ihrem Zusammenspiel zu beobachten und einfach nur Cookie und King-Lu zu sehen.
Seit Ihrem Debüt 1994 haben Sie sich langsam, aber sicher nach ganz vorne gearbeitet. Dabei hatten Sie es nicht immer leicht. Vor allem bis zu Ihrem zweiten Spielfilm „Old Joy“ sollten zwölf Jahre vergehen. Wie haben Sie die Zeit damals erlebt? Und wie blicken Sie heute auf Ihre bisherige Karriere zurück?
Kelly Reichardt: Ich war sehr wütend in der Zeit, in der ich keine Filme drehen konnte. Ich war frustriert und hatte stets das Gefühl, ich müsste um alles kämpfen. Es hat eine Weile gedauert, bis ich realisiert habe, dass ich meine Fäuste auch mal runternehmen kann und nicht immer alles mit so viel Misstrauen und Vorsicht angehen muss. Aber es ist keine Gewohnheit, die sich leicht brechen lässt. Der Kampfmodus liegt mir näher. (Lacht.) Als ich auf der Kunsthochschule war, habe ich Jim Jarmuschs Stranger Than Paradise gesehen und gedacht, aha, da geht’s lang. Solche Filme will ich auch drehen. Und ich bin sicher nicht die einzige, der das so ging. Aber weil es bei mir nicht gleich auf Anhieb funktionierte mit der Regie-Karriere, hatte ich eine Zeit lang innerlich schon fast aufgegeben. Ich drehte jedoch weiterhin kleine Filme mit Freunden, und irgendwann klappte es dann. Es ist schon komisch, weil es am Anfang so ein Krampf war, und plötzlich hat man Glück, und es geht vorwärts. Heute frage ich mich, ob ich Dinge anders gemacht hatte, wenn ich nach meinem Debüt direkt weitergemacht hätte. Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich hätte ich vieles nicht entdeckt, wie meine Leidenschaft fürs Unterrichten. Und ich glaube nach wie vor, dass ich eigentlich nicht für die Filmindustrie gemacht bin, um darin mehr involviert zu sein. Vor allem aber weiß ich nicht, ob es mir möglich gewesen wäre, so eine tolle Gemeinschaft von Leuten um mich herum aufzubauen, wie die, mit denen ich heute meine Filme mache. Wahrscheinlich nicht, und dafür, dass ich diese Menschen gefunden habe und die Filme machen kann, die ich machen will, bin ich unendlich dankbar.
Aber haben Sie heute das Gefühl, dass Sie sich als Regisseurin etabliert haben?
Kelly Reichardt: Ich weiß ehrlich gesagt nicht genau, was das bedeutet. Wie fühlt sich das an? Ich hatte immer ein großes Sturm-und-Drang-Empfinden nach dem Motto: Ich muss diesen Film drehen, auch wenn es das letzte ist, was ich tue. So denke ich heute nicht mehr. Aber ich liebe meine Arbeit. Ich möchte morgens aufwachen und mich in etwas hineinstürzen können, dass mich komplett einnimmt. Aber ob Filmemachen oder Unterrichten, das Schöne an beiden Tätigkeiten ist, dass man sie ein Leben lang betreiben kann, ohne sie jemals zu perfektionieren. Man lernt nie aus. Und Sie müssen wissen, ich lebe die meiste Zeit über ein ziemlich unspektakuläres Leben. Nur wenn ich einen Film mache, wird es für eine Weile aufregend. Und das genügt mir. Mehr brauche ich nicht, um glücklich zu sein.
Das 2021 International Film Festival Rotterdam fand von 1. bis 7. Februar in digitaler Form statt. Vom 1.-6. Juni ist zudem eine Präsenzveranstaltung in Rotterdam geplant.
iffr.com/en