Estland ist – kinematografisch betrachtet – für die meisten Europäer wohl eher ein unbeschriebenes Blatt. Doch auch ein Land mit 1,3 Millionen Einwohnern, in dem Schauspieler ihren Lebensunterhalt großteils am Theater verdienen, kann filmisch für Aufsehen sorgen.
Knapp zwei Millionen Euro. So viel hat der (momentan) teuerste estnische Film aller Zeiten gekostet. 1944 (alternativer Titel auf Deutsch: Brüder – Feinde) ist ein Kriegsfilm, der die ausweglose Situation der Esten im Zweiten Weltkrieg beleuchtet: Auf der einen Seite die Deutschen, auf der anderen die Russen; Invasion und Gegen-Invasion. Esten kämpfen auf beiden Seiten, kämpfen gegeneinander, obwohl längst nicht jeder der Ideologie der gewählten Seite zustimmt. Oft ist einfach die vergebliche Hoffnung, durch eine Allianz mit dem „geringeren Übel“ ihr Land und ihre Unabhängigkeit zu beschützen, ausschlaggebend. Ein moralischer Zwiespalt, den 1944 nüchtern, aber vielleicht gerade deshalb umso eindrucksvoller ausleuchtet.
Wachstum
In Estland war der Film ein riesiger Erfolg, der zahlreiche Rekorde gebrochen hat. Er wurde auch als estnischer Beitrag für den Oscar für den besten fremdsprachigen Film 2016 ausgewählt. In Österreich hatte 1944 am Let’s CEE Film Festival im Oktober 2015 Premiere. Knapp zwei Millionen Euro für einen Kriegsfilm mit vielen (sehr gut gemachten) Schlachten und Kampfszenen ist – international gesehen –nicht viel, und zeugt daher davon, wie viel zum einen heute technisch möglich ist, zum anderen, wie wichtig Zusammenarbeit und Organisation sind.
Der wichtigste Partner für Zusammenarbeit ist für Estland wohl Finnland. Die zwei Länder verbindet nicht nur ihre geografische Nähe (Helsinki und Tallinn liegen ca. 80 Kilometer voneinander entfernt an gegenüberliegenden Seiten der Ostsee) und ihre verwandten Sprachen, sie haben in vielerlei Hinsicht ein brüderliches Verhältnis. Auch bei 1944 gibt es finnische Beteiligung: Die Produzenten Kristian Taska und sein finnischer Kollege Ilkka Matila sind ein eingespieltes Team. Die beiden haben bereits den vor 1944 größten estnischen Filmhit – Nimed marmortahvlil (Names in Marble) – zusammen produziert. Dieser Film handelt vom Estnischen Freiheitskrieg in den Jahren 1918 bis 1920. Das nächste gemeinsame Projekt steht ebenfalls schon in den Startlöchern und bleibt dem geschichtlichen Schwerpunkt treu: eine filmische Aufarbeitung der Geschichte der amerikanischen Sozialisten, die in den dreißiger Jahren in die Sowjetunion ausgewandert sind und von denen viele unter Stalin spurlos verschwanden. Mit einem Budget von drei Millionen Euro wird das wird wohl der nächste „teuerste estnische Film“ sein. „Bisher gab es zwischen Estland und Finnland vier Kooperationen bei Spielfilmen pro Jahr, aber es werden immer mehr. Schritt für Schritt wächst die Filmszene in Estland – allerdings die Begeisterung schneller als die Förderung“, sagt Kristian Taska.
Diese Begeisterung zeigen auch die Schauspieler. Für Maiken Schmidt und Kristjan Üksküla, zwei der Hauptdarsteller, war es der erste „große Film“. Die beiden sind, so wie eigentlich alle, die von der Schauspielerei in Estland leben können, Theaterschauspieler und, wie auch der dritte Hauptdarsteller Kaspar Velberg, am Tallinner Stadttheater engagiert. „Wir sind ein kleines Land, aber sehr theaterbegeistert. Bei 1,3 Millionen Einwohnern gibt es rund eine Million Theaterbesucher pro Jahr“, erzählt Schmidt. Als Theaterschauspielerin engagiert zu werden, sei nicht so schwer, meint sie, aber Filmangebote seien eher „ein großes Ding“, etwas, das nicht so häufig passiere. Aber das sei gerade dabei, sich zu ändern: „Dass ein estnischer Film [Tangerines, Anm.] 2015 unter den besten fünf für den Oscar für den besten fremdsprachigen Film war, hat sicher geholfen“, findet Üksküla.
Regie führte bei den beiden großen Hitfilmen 1944 und Names in Marble Elmo Nüganen, den die Schauspieler sehr gut kennen: Er ist auch der Intendant des Tallinner Stadttheaters. „Wir haben hier nicht dieses System, dass Schauspieler Agenten haben, die diese Dinge für sie arrangieren, hier wird man zu Castings eingeladen“, sagt Schmidt, und erzählt, dass auch sie ihre Rolle dadurch erhalten habe. Beide hoffen auf mehr Filmangebote in der Zukunft.
Das Heer als Partner
Dass Estland ein kleines Land ist und man sich untereinander kennt, hat Vor- und Nachteile. Das kann zum Beispiel zu weniger Auswahlmöglichkeiten und weniger Budget führen, zu einer langsameren Entwicklung der Filmlandschaft, aber auf der anderen Seite kann es auch hilfreich sein. Denn mit knapp zwei Millionen Euro einen Kriegsfilm zu drehen, das geht – trotz Technik – nur mit Unterstützung. Und wer könnte sich mit der Materie besser auskennen als das Militär? „Der Drehbuchautor für 1944 ist Historiker und war Berufssoldat“, sagt Produzent Taska. Leo Kunnas war als Oberstleutnant in drei bewaffneten Konflikten eingesetzt und ist zusätzlich ein bekannter Autor. Dass die Fakten und die Optik stimmen, war ihm ein besonderes Anliegen. Dafür kam das Heer ins Spiel. „Das Militär war der einzige Partner, der uns mit den komplizierten Dingen helfen konnte, war aber auch sehr darauf bedacht, den Inhalt ja nicht zu beeinflussen“, sagt Matila. „Komplizierte Dinge“, das umfasst ein weites Spektrum. Von den zahlreichen Statisten, die für manche Szenen notwendig waren, über Transportaufgaben bis hin zu den Panzern, die für die Dreharbeiten gebraucht wurden. Deren Transport sei ja schon nicht einfach gewesen, aber noch herausfordernder sei es gewesen, Panzer aus dieser Zeit überhaupt zu bekommen – die meisten noch existierenden seien einfach nicht mehr fahrbereit, so Matila. Schlussendlich fanden sie vier, einer davon aus der Privatsammlung eines Finnen.
All der Aufwand war nötig, um den Film möglichst realistisch machen zu können. Die Kriegsveteranen sollten sich mit dem Film identifizieren können und nach Möglichkeit keine Fehler in der Handlung finden. Die Figuren sind fiktiv, die Geschehnisse nicht. Außerdem ging es um „ein realistisches Gefühl des Todes“, meint Matila. Zeitlupe und Ähnliches sucht man in 1944 vergeblich. Darum gab es auch Test-Vorführungen speziell für Veteranen, die sich zufrieden zeigten. Im Kino reagierte dann eine andere Zielgruppe noch stärker: Frauen. „Von Frauen haben wir das meiste Feedback erhalten“, sagt Tanska. Und das, obwohl der Film zu einem großen Teil an der Front, in Schützengräben und Gefechten spielt.
Kriegsfilme scheinen für Estland generell ein großes Thema zu sein. Es gibt ja auch viel aufzuarbeiten. Erst 1991 wurde das Land nach jahrzehntelanger Sowjet-Herrschaft wieder ein souveräner Staat. Davon zeugt neben dem letztjährigen Oscar-Anwärter Tangerines zum Beispiel auch Risttuules – In the Crosswind, der kürzlich mit dem Stadtkino sogar einen Verleih in Österreich gefunden hat. Regisseur Martti Helde erzählt mit außergewöhnlicher Bildkraft (er lässt die Schauspieler als Tableaux vivants quasi einfrieren, während die Kamera verschiedene Aspekte einfängt) von den ethnischen Säuberungen im Baltikum unter der Stalin-Diktatur. „Die kleinen Nationen müssen ihre Geschichte erzählen“, sagt Matila. „Und die estnische Geschichte ist – leider – voller Material für Kriegsfilme.“