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Gangs of London

Serie | Interview

Mit eigener Handschrift

| Pamela Jahn |
Mit der britischen Krimiserie „Gangs of London“ setzt Sky in diesem Sommer auf kompromisslose Action und organisiertes Verbrechen im großen Stil. Ein Gespräch mit Regisseur und Drehbuchautor Gareth Evans über die Drehbedingungen in der britischen Metropole, den Vorteil von TV-Formaten und darüber, warum Gangster-Geschichten zeitlos sind.

Machen wir uns nichts vor: Es mangelt nicht gerade an britischen Krimiserien im derzeitigen TV- und Streaming-Angebot. Doch wenn sich jemand wie Gareth Evans eines modernen Großstadt-Gangster-Epos im Episodenformat annimmt, hält man trotzdem kurz die Luft an. Vor neun Jahren katapultierte sich der gebürtige Waliser mit dem indonesischen Martial-Arts-Thriller The Raid und einem ziemlich harten Handkantenschlag in das Bewusstsein der internationalen Actionfilm-Fangemeinde. Prämisse und Handlung waren geradlinig und simpel, die Kampfszenen beeindruckend und verstörend zugleich. Was The Raid jedoch von anderen Exemplaren des Genres in besonderer Weise unterschied, war eine perfekt choreografierte Bildsprache, die nicht nur durch gutes Handwerk Eindruck machte, sondern durch ein kluges Konzept. 2014 erschien das Sequel, und auch die Fortsetzung ließ in Sachen rohe, aber gekonnt inszenierte Gewalt nichts zu wünschen übrig. Mittlerweile ist Evans aus Jakarta zurück, hat zwischendurch einen historischen Horrorfilm für Netflix gedreht und macht neuerdings die britische Hauptstadt unsicher.

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Gangs of London basiert lose auf dem gleichnamigen Videospiel, hat aber bis auf den Titel weniger damit zu tun, als man vielleicht vermuten könnte. Der Elfenbeinturm der heimischen Gangster-Elite kommt ins Wanken, als ihr lange Zeit mächtigster Mann, Finn Wallace (Colm Meaney), eines Nachts unerwartet ermordet wird. Sein ältester Sohn Sean (Joe Cole) soll sich anschließend mit Hilfe des engsten Vertrauten seines Vaters, Ed Dumani (Lucian Msamati), um die Geschäfte kümmern. Doch die Trauer sitzt tief und so nimmt die Jagd nach den Auftraggebern der Tat rasch überhand. Theoretisch hatte jeder einzelne, der Wallace kannte, ein Motiv, was die Suche erschwert und die ohnehin angespannte Stimmung unter den internationalen Geschäftspartnern zum Kippen zu bringen droht. Davon ganz abgesehen ist auch die Polizei nicht untätig, wenn es darum geht, im Zuge ihrer Ermittlungen das organisierte Verbrechen in der britischen Metropole zu untergraben. Die besten Voraussetzungen also für Evans und seinen Langzeit-Kameramann Matt Flannery, der diesmal auch am Drehbuch mitgearbeitet hat, um dem dramatischen Kern der Handlung die entsprechende Action einzuhauchen, sich im Genre-Zick-Zack auszutoben und dem Londoner Großstadtdschungel die angemessene düstere Atmosphäre einzuhauchen.

 


Interview mit Gareth Evans

Mr. Evans, wie der Titel bereits verrät, spielt London in der Serie eine besondere Rolle. Worin lag für Sie der größere Reiz: eine Gangster-Story zu erzählen oder die Stadt nicht nur als Schauplatz zu nutzen, sondern ihr in der Geschichte einen eigenen Charakter zukommen zu lassen?
Gareth Evans:
Ehrlich gesagt, beides. Pulse Films kam mit der Idee auf mich zu, aus dem gleichnamigen Videospiel, für das sie die Rechte erworben hatten, ein Spielfilm-Franchise zu machen. Die Idee war es, mit einer Art Sandkasten-Verspieltheit an die Sache heranzugehen, ohne genau festzulegen, welchen Ansatz, Stil oder Look das Ganze letztendlich haben sollte. Ebenso freie Hand ließ man uns in Bezug auf die Geschichte. Doch je mehr Matt Flannery und ich uns des Stoffes annahmen, umso deutlicher wurde, dass Film nicht wirklich das richtige Format für das war, was wir uns vorstellten. Wir hatten Bedenken, dass wir dem Material und einer Stadt wie London in der Kürze der Zeit nicht gerecht werden könnten. Und ich muss dazu sagen, dass Matt und ich Touristen sind, wenn es um London geht. Wir hatten, bevor wir mit der Arbeit an der Serie anfingen, nie dort gelebt. Aber eine Sache, die mich schon immer fasziniert hat, ist, dass London nicht nur multikulturell ist, sondern eine globale Metropole, deren Einfluss und Beziehungen sich weit über die Stadtgrenzen hinaus erstrecken. Aus diesem Grund fanden wir ein Serienformat passender als Kino, weil es uns die Möglichkeit gab, die verschiedenen Figuren, Kulturen und Sprachen in den einzelnen Episoden herauszustellen. Im Film hätten wir dafür maximal zehn, fünfzehn Minuten pro Charakter oder Storyline gehabt, um nicht zu sehr von der Haupthandlung abzulenken. Andererseits hat mich an dem Projekt auch die Aussicht gereizt, eine Geschichte zu erzählen, die im elitären Gangster-Milieu spielt, und London ist der perfekte Ort dafür: ein internationaler Umschlagplatz für Waren, zwielichtige Geschäfte und geheime Informationen aller Art. Der Handel damit erstreckt sich über den gesamten Globus. Dabei entsteht eine Art Welleneffekt mit einer sich allmählich ausbreitenden Wirkung. Die Folgen davon bekommt man noch am anderen Ende der Welt zu spüren, zum Beispiel in Nigeria. Aber irgendwann schlägt die Welle auch wieder nach London zurück. Das ist ein Grundgedanke, der uns beim Schreiben motiviert und inspiriert hat.

„The Raid“ war ein extrem actionreiches Martial-Arts-Kammerspiel, in dem es darum ging, einen Hochhausblock im Herzen Jakartas unter Kontrolle zu bringen. Diesmal verteilt sich ein Großteil der Action über die ganze Stadt. Das muss drehtechnisch ein Albtraum gewesen sein.
Gareth Evans: In London zu drehen war tatsächlich eine Herausforderung. Man kommt einfach nicht von A nach B. An einem Tag die Location zu wechseln, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Das kann man sofort vergessen. Aber ganz egal, wo man ist, ob in London, Jakarta oder Cardiff, an einem öffentlichen Schauplatz zu filmen, ist immer anstrengender, weil man nicht nur den Verkehr zum Feind hat, sondern außerdem auf das Wetter angewiesen ist, sich um die Schaulustigen kümmern muss, was weiß ich. Ich bevorzuge es, im Studio zu drehen, weil ich dort genau abschätzen kann, mit wem und womit ich es zu tun habe. Trotzdem möchte ich die Drehzeit, die wir in London verbrachten, nicht missen. Es war ein Abenteuer, und zumindest komme ich mir jetzt nicht mehr wie ein Urlauber vor, wenn ich in der Stadt bin.

Der Einblick, den Sie in die Stadt gewähren, hat nichts mit Ansichtskarten-Bildern gemein. Welche Location fanden Sie persönlich am spannendsten?
Gareth Evans: Uns hat vor allem das Londoner East End fasziniert, allein schon visuell, weil sich dort alles immer permanent im Wandel zu befinden scheint. London an sich ist eine große Baustelle. Hinter jeder Ecke lauert eine aufgerissene Straße oder ein Baugerüst für den nächsten Büro- oder Wohnkomplex. Aber im Osten kann man bis heute die Überreste vergangener Zeiten neben der neuen Architektur aus Stahl und Beton finden. Und dieses Zusammenspiel von Alt und Neu ergibt auch filmisch eine interessante Textur. Wir haben insbesondere in der ersten Episode viel dort gedreht. In Petticoat Lane beispielsweise hatten wir die perfekte Kombination aus roten Backsteinbauten, und über den Dächern erstreckte sich die Skyline der City aus Chrom und Glas.

Dazu kommt, dass das East End in der Vergangenheit natürlich auch ein erstaunliches Aufgebot an Verbrechern hervorbrachte. Man denke nur an die Kray-Brüder oder Jack the Ripper.
Gareth Evans: Auf jeden Fall. Und natürlich bringt ein Titel wie Gangs of London es mit sich, dass die Erwartungen des Publikums automatisch in die Richtung einer klassischen Krimi-Saga à la Krays und Cockney-Gangster hochgeschraubt werden. Aber genau das wollten wir vermeiden und stattdessen eine Handlung kreieren, die mehr mit dem zu tun hat, was London heute ist. Das heißt nicht, dass nicht auch bei uns Prügeleien und Action-Szenen in Pubs stattfinden. Der Unterschied besteht allerdings in den Hilfsmitteln, zu denen im Eifer des Gefechts zum Teil gegriffen wird sowie in der Choreografie, die mitunter ziemlich wild sein kann.

Was mich zum Stil bringt, der sich nur schwer beschreiben lässt. Es gibt Leute, die haben Ihre Version der Stadt mit Gotham City verglichen, aber damit allein lässt sich der Ton und Look der Serie nicht greifen. Sie haben in der Hinsicht tatsächlich ungeniert aus dem Vollen geschöpft.
Gareth Evans: Ja. Gotham City ist gar kein so schlechter Vergleich, aber leider denken die Leute dabei sofort nur an Comic-Bücher und sonst nichts. Wir wollten dagegen etwas mehr Mythos sowie ein Gefühl von Fremdheit und Unwirklichkeit miteinfließen lassen. Uns war es wichtig, dass der Stil, wie die Stadt selbst, nicht stagniert, sondern sogar innerhalb einer Episode die Genres wechselt, wenn es die Handlung hergibt. Um noch einmal auf die erste Episode zurückzukommen: Die hat extremes Action-Potenzial, aber zum Ende hin eskaliert das Ganze in einem
Horror-Szenario, wodurch sich auch die Atmosphäre und Dynamik komplett verändern.

Gleichzeitig hat die Serie etwas sehr Britisches an sich, und an erstklassigen Krimiserien von der Insel mangelt es ja im Moment nicht. Denken Sie, dass „Gangs of London“ trotzdem eine Lücke im überfüllten Markt des derzeitigen Serienangebots füllt?
Gareth Evans: Ich weiß was Sie meinen. Ich bin mir der aktuellen Flut an Serien und Internet-Content bewusst. Aber ich glaube, dass wir mit unserer extrem gesteigerten, fast opernhaften Version einer modernen Krimi-Saga etwas geschaffen haben, dass so eigentümlich wie unkonventionell ist. Wir hatten von Anfang an kein Interesse daran, mit Serien wie Top Boy oder Peaky Blinders zu konkurrieren, weil das sowieso unmöglich gewesen wäre. Die Serien haben ihre Version eines Gangster-Plots erzählt, und wir erzählen unsere. Platz ist für alles und jeden, solange man inhaltlich und bei der Umsetzung einen frischen Ansatz parat hat.

Worin liegt die Faszination von Gangster-Geschichten? Was macht das Genre so zeitlos?
Gareth Evans: Realitätsflucht. Wir sind froh, dass wir den Lebensstil eines Verbrechers nicht teilen, aber wir sind gefesselt von der Welt, die wir auf dem Bildschirm oder im Kino sehen, weil sie uns fremd ist und in Angst und Spannung versetzt. Dazu kommt, dass die Figuren in außergewöhnliche Situationen getrieben werden und dabei die Kontrolle über ihr eigenes Schicksal verlieren. Am Ende fällt meistens alles wie ein Kartenhaus zusammen, dann heißt es nicht mehr „Einer für alle und alle für einen“, sondern nur noch jeder gegen jeden. Und das ist etwas, das mich persönlich im Hinblick auf die Charakterentwicklung von Figuren immer schon sehr begeistert hat.

Gibt es einen ultimativen Gangster-Klassiker, den Sie jederzeit und immer wieder gerne anschauen?
Gareth Evans:
Goodfellas, keine Frage. Der Film ist unschlagbar. Auch weil Scorsese darin zum ersten Mal mit der Romantik des Gangsterdaseins gebrochen hat. Darüber hinaus habe ich auch eine Leidenschaft für Yakuza-Filme, vor allem für die von Fukasaku Kinji und Miike Takashi, weil sie dem Genre etwas entgegensetzen, das es aus seinen traditionellen Angeln hebt. Graveyard of Honor, das Original von Fukasaku und das Remake von Miike, ist zum Beispiel so ein Film – der ist einfach großartig.

„Gangs of London“ verbindet verschiedene Elemente und Impulse, die Sie bereits in „The Raid“ sowie unlängst in dem Netflix-Horrorfilm „Apostle“ aufgegriffen haben. Sehen Sie in der Hinsicht eine Art roten Faden, der sich durch alle Ihre bisherigen Arbeiten zieht?
Gareth Evans: Die Ähnlichkeiten liegen insofern auf der Hand, als dass ich auch für Gangs of London erneut mit Matt Flannery kollaboriert habe. Unsere Zusammenarbeit basiert auf gemeinsamen thematischen und genrespezifischen Vorlieben und einem Prinzip gegenseitigen Vertrauens im Hinblick auf die Dinge, die wir bei einem Projekt inhaltlich wie stilistisch für passend und sinnvoll halten. Und deshalb ist es auch ganz natürlich, dass das, was wir damals in Jakarta gemacht haben oder in Apostle und jetzt hier, bestimmte Affinitäten zum Vorschein kommen lässt. Was mich persönlich und meine Arbeit als Regisseur betrifft, wird einem selbst ja meistens erst viel später bewusst, dass man zum Beispiel bestimmte Einstellungen, Schnitte oder Kamerabewegungen favorisiert. Aber dass dem so ist, ist auch gut so. Ich finde es richtig und wichtig, als Regisseur eine Handschrift zu haben. Wie sie diesmal beim Publikum ankommt, wird sich zeigen.