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Berlinale: Peter_von_Kant

Berlinale 2022 | Interview

Mit halber Kraft voraus

| Pamela Jahn |
Trotz aller Bedenken beginnen die 72. Internationalen Filmfestspiele Berlin als Präsenzveranstaltung: mit Premieren, Publikum und Testpflicht im 24-Stunden-Takt.

Man muss es der Berlinale lassen: Die Entschlossenheit, mit der sie ihre diesjährige Präsenzveranstaltung verteidigt, ist bewundernswert. Es geht darum, Filme auf der Leinwand mit Publikum zu zeigen. Das ist richtig und wichtig. Aber der Preis ist hoch. Mit einem siebentägigen Kinomarathon bei vollem Programm, einer Kinoauslastung von lediglich fünfzig Prozent und täglichen Tests für akkreditierte Journalisten und Filmfachleute will man Omikron trotzen und stattdessen Filme in der Form feiern, soweit es in Pandemiezeiten mit konsequent steigenden Inzidenzzahlen möglich ist. Und vielleicht ist es trotz aller Umstände der beste und sicherste Ansatz, auch wenn angesichts der verschärften 2G-Plus Maßnahmen in diesem Jahr ein Großteil vor allem der internationalen Teilnehmer abgesagt hat.

Für das Rennen um den Goldenen Bären zumindest bedeutet ein Festival als Live-Event, dass alle 18 von Carlo Chatrian und seinem Team ausgesuchten Wettbewerbsfilme ihre Premiere wie gewohnt im Berlinale Palast feiern können, darunter aktuelle Werke von Claire Denis (Both Sides of the Blade), Hong Sang-soo (The Novelist’s Film) und Rithy Panh (Everything Will Be OK). Auch Ulrich Seidl ist mit seinem neuen Film Rimini dabei, ebenso die Schweizer Regisseurin Ursula Meier mit The Line, in dem Valeria Bruni Tedeschi zu sehen ist. Nicole Krebitz lässt derweil in A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe die immer großartige Sophie Rois und den stets unberechenbaren Udo Kier zusammen spielen, und es ist schön zu wissen, dass sowohl alle drei letztgenannten Titel als auch Andreas Dresens Wettbewerbsbeitrag Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush bereits einen österreichischen Verleih gefunden haben und demnächst auch in den hiesigen Kinos zu sehen sein werden.

Was fehlt, sind auch in diesem Jahr die großen amerikanischen Produktionen, wobei mit Call Jane von Phyllis Nagy mit Elizabeth Banks und Sigourney Weaver in den Hauptrollen zumindest ein Film etwas Hollywood Glamour in den Wettbewerb bringen dürfte. Die zweite Regiearbeit der Carol-Drehbuchautorin über eine Gruppe von Frauen, die in den sechziger Jahren in Chicago ein Netzwerk aufbauten, um Schwangeren trotz strafrechtlichen Verbots bei Abtreibungen zu helfen, ist jedoch nicht ganz neu, sondern feierte seine Weltpremiere bereits beim Sundance Film Festival, das im Januar kurzfristig online stattfand.

Zur Eröffnung kann man dafür mit Peter von Kant auftrumpfen, in dem François Ozon vor seinem Idol Rainer Werner Fassbinder den Hut zieht, in dem er dessen meisterliches Drama Die bitteren Tränen der Petra von Kant mit Denis Menochet, Isabelle Adjani und Hanna Schygulla in verdrehten Geschlechterrollen neu inszeniert. Und mit dem Regiedebüt The Outfit von Graham Moore (bekannt für sein Drehbuch zu The Imitation Game), in dem Mark Rylance die Hauptrolle spielt, sowie dem Netflix-Überlebensthriller Against the Ice von Peter Flinth mit Charles Dance sind zumindest außer Konkurrenz noch zwei größere Studioproduktionen vertreten.

Darüber hinaus lassen sich weitere Programm-Highlights in der noch jungen Sektion Encounters finden, darunter Peter Stricklands neuer Film Flux Gourmet mit Asa Butterfield und Game of Thrones-Star Gwendoline Christi sowie Gastón Solnickis in Wien spielende Filmkomödie A Little Love Package und Mutzenbacher, eine neue Dokumentation von Ruth Beckermann. Auch die im Irak geborene Wahlwienerin Kurdwin Ayub stellt in der Sektion ihr Langfilmdebüt Sonne vor.

Mit dem Ehrenpreis der Berlinale wird in diesem Jahr Isabelle Huppert ausgezeichnet, die außerdem in dem Berlinale-Spezial-Beitrag À propos de Joan gemeinsam mit Lars Eidinger zu sehen sein wird, während Emma Thompson in Good Luck to You, Leo Grande (einem weiteren Sundance-Highlight) käuflichen Sex mit Daryl McCormack hat. Freuen darf man sich außerdem auf Incredible But True, den neuesten Streich des französischen DJs und Regisseurs Quentin Dupieux, in dessen Filmen stets das Surreale der Status Quo ist. Und Dario Argento hat mit Dark Glasses zudem einen neuen Horrorfilm parat, in dem seine Tochter Asia Argento die Hauptrolle übernommen hat.

Rundum ist es trotz aller widrigen Umstände ein spannendes Programm geworden und man wünscht der Berlinale, wie jedem Festival, das in diesen Zeiten eine Präsenzveranstaltung durchführt, alles Gute und keine unangenehmen Überraschungen oder gar coronabedingte Ausfälle. Die nächsten Tage werden in jedem Fall intensiv und ein Fest für Filme im Kino, wie es sich gehört.

 


 

Die Zukunft von Festivals ist nicht online

Carlo Chatrian, der künstlerische Direktor der Berlinale, über das Festival in Corona-Zeiten.

Interview – Dieter Oßwald

 

Berlinale: Carlo ChatrianVor drei Jahren musste der langjährige Berlinale-Direktor Dieter Kosslick eher unfreiwillig das Feld räumen. Als Nachfolger für die Leitung des weltweit größten Publikumsfestivals wurde eine Doppelspitze berufen. Der einstige Locarno-Chef Carlo Chatrion übernahm die künstlerische Leitung, die ehemaligen Film-Lobbyistin Mariette Rissenbeek kümmert sich als kaufmännische Geschäftsführerin um Finanzen und Organisation. Im Vorjahr fand das Festival zunächst nur online statt, wurde im Sommer für das Publikum nachgeholt. Diesmal gibt es die Berlinale als Präsenz-Veranstaltung, was nicht ganz unumstritten ist

 

Signor Chatrian, vor drei Jahren haben Sie Ihr Domizil in einem idyllischen Bergdorf aufgegeben. Wohl kaum jemand wird Sie in diesem Jahr um diesen Job beneiden. Gleichwohl die Frage: Fühlen Sie sich mittlerweile angekommen in Berlin?
Carlo Chatrian: Durch die Pandemie hat sich natürlich auch Berlin in den letzten beiden Jahren verändert. Das soziale Leben findet nicht mehr so statt, wie es früher einmal war. Dennoch fühle ich mich gut angekommen in dieser großartigen Stadt.

Im diesjährigen Programm geht es viel um Liebe. Zudem gibt es reichlich Wald. Sind solche roten Fäden eher Zufall oder halten Sie danach Ausschau?
Carlo Chatrian: Es gibt viel Liebe und viel Wald auf dieser Berlinale. Allerdings halten wir bei der Auswahl nicht Ausschau nach Themenschwerpunkten. Erst beim fertigen Programm stellen sich Zusammenhänge unter Filmen heraus. Wenn man ein ganzes Jahr lang sichtet, wäre es völlig unmöglich, dabei einen roten Faden vorzugeben. Gutes Kino kommt ohnehin ohne Zeigefinger aus.

Ergibt sich ein Frauenanteil von selbst oder wird er proaktiv gefördert?
Carlo Chatrian: Für die Berlinale gibt es keine Quote. Wenn ich einen Film anschaue, ist mir die sexuelle Identität von Filmschaffenden gleichgültig. Mir geht es bei der Auswahl um die Stärke, die Originalität und die Überraschungskraft. In einigen Jahren wir haben viele Frauen im Programm, und das gefällt mir gut. Auch dieser Jahrgang ist ziemlich stark, wenngleich durchaus mehr möglich wäre.

Schauspielerin Bai Ling sorgte 2006 als „Berlinackte“ auf dem Roten Teppich für Furore. In diesem Jahr zieht sich Oscar-Preisträgerin Emma Thompson auf der Leinwand aus. Rechnen Sie mit einem Skandälchen?
Carlo Chatrian: Nein, da erwarte ich keinen Skandal, sondern großen Applaus! In Good Luck to You, Leo Grande geht es zwar um Sex, noch viel mehr jedoch geht es um das Abschütteln von selbst auferlegten Fesseln. Als Witwe begegnet Emma Thompson einem charmantem Gigolo, der ihr die Augen für das Leben öffnet. Am Ende zeigt sich Emma vollkommen nackt und präsentiert mit Stolz den schönen Körper einer älteren Frau.

Um Sex und Schönheit geht es bei Rainer Werner Fassbinder und François Ozon gleichermaßen. Welche Bedeutung hat es, wenn zur Eröffnung ein Fassbinder-Film vom Franzosen Ozon adaptiert wird?
Carlo Chatrian: Peter von Kant ist eine schöne Verneigung Ozons vor seinem Idol Fassbinder. Sein Film bietet viel Humor, schließlich nahm Fassbinder sich selbst nie besonders ernst. Es geht um Liebe, Leidenschaft und Lügen. Sowie um große Gefühle und Glamour. Also genau all das, was Kino ausmacht. Komik, Charme und Leichtigkeit machen daraus einen perfekten Eröffnungsfilm.

Charme besitzt allemal Sigourney Weaver. Ihr Film „Call Jane” hat jedoch den Makel, dass er beim Festival-Rivalen Sundance seine Premiere feierte. Exklusivität galt stets als Muss für A-Festivals. Nimmt man nun Abschied von solch angestaubten Eitelkeiten?
Carlo Chatrian: Für Boyhood bekam Richard Linklater 2014 den Silbernen Bären, obwohl der Film zuvor in Sundance lief. Das ist das beste Beispiel dafür, dass man mit guten Filmen ein gutes Festival unterstützten kann – und umgekehrt. Call Jane passt mit seinem feministischen Blick auf die Politik perfekt in unser Programm. Ich habe absolut kein Problem mit der Exklusivität.

Wäre solch italienische Leichtigkeit nicht auch angezeigt im Umgang mit Netflix und Co? Cannes blockiert stur die Streamer. Venedig fährt bestens damit. In Toronto, Zürich oder London spielte das Thema gar keine Rolle mehr.
Carlo Chatrian: Wenn Streaming-Anbieter ihre Produktion für eine Kinoauswertung planen, gibt es keine Berührungsängste. Im Vorjahr hatten wir einen Film von Netflix im Wettbewerb. Diesmal läuft mit Against the Ice eine Produktion in der „Gala“. Wir sind in guten Gesprächen mit Netflix, Apple und Amazon. Die Berlinale bietet Platz für jeden guten Film.

Überkommt Sie bisweilen die Angst, etwas verpasst zu haben? Ihr Vorgänger hatte das Potenzial von „Das Leben der anderen“ nicht erkannt. Ganz konkret: Weshalb findet sich „Die Wannseekonferenz“ nicht im Programm, die unisono in höchsten Tönen gefeiert wurde?
Carlo Chatrian: Die Wannseekonferenz wurde für die Berlinale nicht eingereicht. Bei anderen deutschen Produktionen stellte sich das Problem, dass sie einfach noch nicht fertig waren. Corona hatte auch hier einige Striche durch die Rechnung gemacht. Es gab mehrere Kandidaten mit dem Potenzial für den Wettbewerb oder Berlinale Special Gala, aber die waren einfach noch nicht fertig. Klar machen Festivalleiter ihre Fehler – wir sind schließlich auch nur Menschen.

Manche behaupten, es sei ein Fehler, die Berlinale in Pandemie-Zeiten überhaupt als Präsenz-Festival stattfinden zu lassen …
Carlo Chatrian: Ich verstehe die Bedenken. Wir haben mit den Behörden ein sehr umfangreiches Hygiene- und Sicherkeitskonzept besprochen, das auch in Pandemiezeiten ein möglichst sicheres Festival erlaubt. Wir möchten Filme auf der Leinwand mit Publikum zeigen. Die dynamische Entwicklung der Pandemie stellte uns ständig vor neue Fragen. Dabei stand immer fest, dass die Filmemacher und Produzenten unbedingt mit ihren Filmen in die Kinos wollten. Als Online-Ausgabe wie im Vorjahr hätten wir die Hälfte der Wettbewerbsfilme verloren. Wir werden mit diesem Virus noch lange leben müssen. Und die Zukunft von Filmfestivals kann nicht eine Online-Version sein. Festivals brauchen den Austausch von Zuschauern und Künstlern.

Die Berlinale möchte mit einem Paukenschlag zeigen, dass Kino wieder machbar ist. Und die Ansteckungsgefahr in Lichtspielhäusern schon immer gering war. Weshalb machen Sie dann dennoch den Filmmarkt nur online? Weshalb sollen dreifach geimpfte Journalisten täglich einen Test vorlegen – ein verheerenderes Signal kann es kaum geben?
Carlo Chatrian: Für uns war es keine leichte Entscheidung, den Filmmarkt nur online zu veranstalten. Nach Rücksprache mit den Behörden haben wir auf eine Präsenzveranstaltung verzichtet, weil zu viele Menschen in die Stadt gekommen wären und sich unkontrollierbar in einem riesigen Messegebäude getroffen hätten. Der verpflichtende Test für Journalisten wurde von unserer Sicherheitsabteilung so beschlossen. Dies gilt nicht nur für Medienvertreter, sondern auch für Gäste und Mitarbeiter des Festivals.

Das Filmfest Göteborg will das Publikum in Hypnose versetzen – wäre das für die Berlinale keine Überlegung wert?
Carlo Chatrian: Davon habe ich noch gar nichts gehört – aber es klingt nicht uninteressant!