Mark Rylance ist auf der Theaterbühne ebenso zu Hause wie auf dem Filmset. Der grandiose Charakterdarsteller im Gespräch über seine Rolle in Luca Guadagninos „Bones and All“.
Wenn Mark Rylance überlegt, steht die Welt für einen Moment still. Nur das Räderwerk in seinem Kopf rumort weiter, dreht sich, schuftet, leistet Schwerstarbeit. Dann, ganz langsam, löst sich der Gedanke wie ein Knoten im Hals, die rechte Hand noch an der Stirn reibend, wie es sich für einen großen Theatervirtuosen wie ihn gehört. Erst in dem Augenblick tastet sich die Antwort vorsichtig nach vorn, sanft, aber gleichzeitig mit Nachdruck, als müsse er die Worte, die er am Ende wählt, immer auch sich selbst gegenüber rechtfertigen.
So geht es einem mit Rylance, ganz gleich worüber man mit ihm spricht. Das Hinterfragen, die Analyse, die Entzauberung seiner Figuren, davon hält der britische Schauspieler wenig. Und jetzt soll er ausgerechnet über den menschenfressenden Sully reden, den er in Luca Guadagninos Bones and All verkörpert. Sully, ein seltsamer, bisweilen gruseliger Typ, stellt im Film der jungen Maren (Taylor Russell) nach, weil sie dem gleichen Schicksal unterliegt. Auch sie verspürt manchmal eine solche Fleischeslust, dass sie kaum weiß, wie ihr geschieht. Bis vor kurzem hatte sie noch ihr eigener Vater beschützt. Aber dann hielt er es nicht mehr aus, machte sich aus dem Staub und ließ ihr lediglich eine Tonbandaufnahme zurück. Seitdem ist Maren auf der Suche nach ihrer Mutter, die sie nie gekannt hat, um Antworten zu finden und nicht zuletzt auch sich selbst.
Das Kunststück, das Guadagnino in Bones and All vollbringt, ist jedoch viel weniger grausam als der Titel vermuten lässt. Ähnlich wie in seinem wunderbar gefühlvollen schwulen Liebesfilm Call Me by Your Name zeugt die Geschichte von einer bewundernswerten Sinnlichkeit. Erst geht es noch ein bisschen düster zu, weil der italienische Regisseur gerne mal ins Genre wechselt und Mark Rylance seine Rolle als mysteriöser Alt-Kannibale, der Maren buchstäblich mit der Nase aufspürt, ganz hervorragend spielt. Doch kaum rückt Timothée Chalamets verschlossener Drifter Lee ins Bild, entdeckt Maren in ihm einen Seelengefährten, der mindestens genauso mit seinem Anderssein kämpft wie sie. Die zarte Romanze, die sich zwischen ihr und Lee entwickelt, ist das Herzstück dieses Films, der, verpackt als Roadmovie im Achtziger-Jahre-Flair, so behutsam mit seinen Figuren umgeht, dass er sich von vornherein geschickt jeder offensichtlichen Kategorisierung entzieht.
Für Rylance ist die Filmarbeit mittlerweile zur einer dem Theater gleichwertigen Beschäftigung geworden – Routine aber ist sie für ihn bis heute nicht. Bereits 1987 wollte Steven Spielberg ihn für eine bedeutende Nebenrolle in Empire of the Sun vor die Kamera holen, aber Rylance lehnte damals dankend ab. Ein Theaterstück hatte das Interesse des großen Shakespeare-Liebhabers geweckt. Und auch wenn er heute für Regisseure wie Terrence Malick – in dessen noch in Arbeit befindlichem Film The Way of the Wind verkörpert Mark Rylance Satan –, Aaron Sorkin, Christopher Nolan oder eben Spielberg das Filmset immer häufiger gegen die Bühne eintauscht, holt ihn die Rolle seines Lebens, der Dropout und Kleindealer Rooster Byron in Jez Butterworths Welterfolg „Jerusalem“, seit 2011 weiterhin regelmäßig ins Londoner West End oder an den Broadway zurück. Sein Herz schlägt für gute Geschichten, sagt Rylance selbst, und solange er spielen kann, ist ihm egal wo das ist.
Das Interview mit Mark Rylance lesen Sie in unserer Printausgabe 11/22
Herr Rylance, das ist eine seltsame Weste, die Sie im Film tragen. Was steckt dahinter?
Mark Rylance: Die Weste war Lucas Idee. Das war am Anfang ein ziemliches Problem für mich. Aber oft ist das größte Hindernis am Ende die Tür, die in den Raum führt, in den man hineinzugelangen versucht. Ich konnte erst nicht verstehen, worauf er hinauswollte. Ich habe ihm gesagt: „Das mit der Weste geht so nicht. Die Leute werden denken, was ist das für ein Typ, der aussieht wie ein Europäer auf Angelausflug.“ Ich fand eher, dass ich mich jedes Mal umziehen sollte, wenn ich in eine neue Stadt kam. Und Luca sagte: „Nein, das sieht gut aus.“ Er bestand auf diesen merkwürdigen Look, außer in der letzten Szene, wenn Sully mit amerikanischen Shorts und einer Baseballkappe auf dem Universitätsgelände auftaucht. Und irgendwann habe ich auch verstanden, dass es tatsächlich funktioniert.
Was für ein Typ ist Sully für Sie? Er wirkt einsam, verschlossen, aber sympathisch ist er nicht.
Es ist einfach seine Art, mit dieser unkontrollierten Fleischeslust umzugehen. Die Frage ist doch, wie man überhaupt bis ins hohe Alter damit leben kann. Ich denke, er hat aus seinem Schicksal eine Kunstform gemacht. Er sucht sich Menschen, die alleine sind und dem Tod nahestehen. Und wenn es so weit ist, verspeist er sie. Indem er ihre Haare anschließend zu einem langen Zopf verflicht, nimmt er Anteil. Und das ist doch immerhin besser, als zu töten. Einmal sagt er zu Maren, dass man an dem Zopf sogar ziehen kann. „Er ist stark“, fügt er hinzu. Ich mag diesen Satz sehr.
Was hat es mit den Abzeichen auf Sullys Weste auf sich?
Ich bin in Amerika aufgewachsen, im Mittleren Westen. Dort gibt es wunderbare Vintage-Läden mit allerlei Ramsch aus dem Leben der Menschen, die dort leben. Als ich wusste, dass es bei der Weste bleiben würde, habe ich unendlich viele dieser Abzeichen gekauft und einen ganzen Abend damit verbracht, die Weste und auch Sullys Hut damit zu dekorieren. Mit seinem italienischen Designer-Auge entfernte Luca zwar einige der Anstecker wieder und verteilte sie um. Aber es gefiel ihm. Für mich bedeuteten die Abzeichen Erinnerungstücke, die Sully bei seinen Opfern gefunden hat. Fast wie ein Soldat, der von vielen Kämpfen und Eroberungen gezeichnet aus dem Krieg zurückkehrt.
Man könnte fast glauben, Sully sei ein guter Mensch. Aber er ist auch ein Stalker. Er verfolgt Maren auf eine beängstigende Weise. Wie schafft man es als Schauspieler, Empathie für eine Figur wie ihn aufzubringen?
Ja, Sully ist ein Stalker. Aber es geht ja nicht darum, ob ich ihn sympathisch finde oder nicht. Das ist mir egal. Für mich ist wichtig, dass die Figur den Bedürfnissen des Regisseurs und der Geschichte entspricht. Also werde ich alles daransetzen, Sully mit einer gewissen Sensibilität zu begegnen. Die Frage ist doch, warum tut er das, was er tut? Und was sieht er in Maren? Ich glaube nicht, dass Sully ein sehr sexuell orientierter Typ ist. Ich denke, sein Verlangen wird dadurch befriedigt, Menschen zu essen. Ich denke also, sein Motiv ist eher eine platonische Liebe. Vielleicht sehnt er sich nach einer Tochter, oder einfach nur danach, etwas Gutes zu tun, sich zu kümmern. Das sind aber alles nur meine Hintergedanken, von denen das Publikum gar nichts wissen muss.
Aber wo wir schon dabei sind, was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie in einer Szene am Anfang die alte Frau verspeisen?
Ich glaube, sie hieß Wendy, und so alt war sie übrigens gar nicht. Sie war ein Aktmodel und ich erinnere mich noch, dass wir zwischen den Takes ein interessantes Gespräch darüber geführt haben, warum Jugoslawien die besten FKK-Strände hat. Außerdem erzählte sie mir, wie sehr ihr Mann und sie mich als Thomas Cromwell in der Fernsehserie Wolf Hall bewunderten, und sie mich gerne zum Abendessen einladen würden, wenn ich das nächste Mal in Cincinnati bin. Und als ich da nun also so saß in meinen mit künstlichem Blut überströmten Klamotten, dachte ich eigentlich nur, dass ich schon lange kein Lakritz mehr gegessen hatte, weil es wirklich verdammt süß war. Aber jetzt mal ganz im Ernst, es gab tatsächlich einen Moment, wo ich mich gefragt habe, worauf ich mich da eingelassen habe, in diesem Film mitzuspielen. Und ob es nicht vielleicht doch nur ein Art Horrorfilm werden würde. Manchmal kommen einem solche Zweifel. Ich weiß auch gar nicht, warum Luca mir diese Rolle überhaupt angeboten hat, was er in mir gesehen hat. Ich sollte ihn mal fragen.
Vermutlich hat er den Kannibalen in Ihnen gesehen?
Ja, wahrscheinlich, das muss es gewesen sein.
Was würden wohl all die großartigen Figuren voneinander denken, die Sie im Laufe Ihrer Kariere gespielt haben?
Das ist eine interessante Frage. Jemand sollte einen Film darüber machen, aber nicht mit mir. Ich würde zum Beispiel liebend gerne einmal mit Tom Cruise zusammensitzen und ihn erzählen lassen. Ich würde ihn bitten, mir von seiner Rolle in Geboren am 4. Juli zu erzählen, und von Magnolia, von Tropical Thunder und natürlich Mission Impossible. Und dann müsste man eine Geschichte erfinden, die all diese tollen Figuren zusammenbringt, wie in einem Film von Peter Sellers. Und Tom würde sie alle selbst spielen. Das wäre doch mal was.
Glauben Sie, dass Sully etwas mit den Figuren gemein hat, die Sie bisher gespielt haben?
Ich bin mir sicher, dass es bestimmte Themen gibt, die in meinen Figuren immer wieder auftauchen. Und ich möchte glauben, dass sie alle eine gewisse Empathie, Sympathie und Verletzlichkeit in sich tragen, ich weiß es nicht. Aber höchstwahrscheinlich ist Rooster Byron in „Jerusalem“ die Rolle, an die sich die meisten Leute erinnern werden, wenn sie meinen Namen hören. Das Stück hat etwas zum Ausdruck gebracht, was damals in England gesagt werden musste und heute immer noch aktuell ist.
Empfinden Sie den anhaltenden Erfolg, den Sie mit „Jerusalem“ haben, manchmal als eine Belastung?
Das Stück acht Mal die Woche zu spielen, ist nicht immer leicht. Aber nach 500 Aufführungen erscheint es mir seltsamerweise einfacher, auf der Bühne zu stehen, als mein eigenes Leben in den Griff zu bekommen. Im Vergleich dazu ist mein Alltag schrecklich chaotisch. Ich empfinde es daher eher als beruhigend, mich jeden Abend in die Rolle hineinfühlen zu können. Das ist das Besondere am Theater. Ein Film schafft das nicht, weil man nie solange mit einer Rolle beschäftigt ist.
Wann wurde Ihnen klar, dass es eine Rolle fürs Leben sein würde?
Genau kann ich das nicht sagen, aber ich weiß, dass ich mit der Rolle verbunden bin wie beispielsweise Jimmy Stewart mit seiner Rolle als George Bailey in It’s a Wonderful Life. Vermutlich hätte er den Part jedes Jahr zu Weihnachten spielen müssen, wenn es ein Theaterstück gewesen wäre. So wie der Vater von Eugene O’Neill 25 Jahre lang den Grafen von Monte Christo spielte und irgendwann wahnsinnig wurde. Es ist einfach so, dass man, wenn man als Schauspieler oder Schauspielerin in einer Rolle gelandet ist, die den Zeitgeist trifft, man nur schwer wieder davon loskommt. Und solange es ein Publikum für „Jerusalem“ gibt, fühle ich mich Jez Butterworth, dem Autor, gegenüber in gewisser Weise verpflichtet, das Stück zu spielen, wenn ich alle paar Jahre gefragt werde.
Wie entscheiden Sie sich allgemein für Ihre Engagements?
Ich lehne zunächst einmal eine ganze Reihe von Rollen ab, wie viele andere Kollegen auch. Wenn ich ein Drehbuch lese, überlege ich gleichzeitig, was gerade aktuell in der Gesellschaft diskutiert wird. Es gibt im Moment so viele junge Männer, besonders in Amerika, die sich isoliert und irgendwie selbstgerecht fühlen, und die dann mit einer Waffe in der Hand auf andere Menschen zugehen und sich rächen. Ich finde das erschütternd. Wenn ich also gebeten werden würde, in einem Film mitzuspielen, der einen traumatisierten jungen weißen Mann zum Helden macht, der Gewalt anwendet, bin ich nicht der richtige Mann. Anders gesagt: Ich frage mich beim Lesen oft, ob ich Lust hätte, mich beim Abendessen mit Freunden über diesen Film zu unterhalten. Und wenn das nicht der Fall ist, sage ich nein.
Was hat Sie zum Beispiel an der Figur des Peter Isherwell in „Don’t Look Up!“ gereizt, die eigentlich eher untypisch für Sie ist?
Ich hatte ehrlich gesagt keine Ahnung, dass die Figur am Ende so seltsam sein würde, wie sie mir im Nachhinein selbst erscheint. Aber aus den Gesprächen mit Adam McKay ging hervor, dass er Isherwell als jemanden sah, der anderen Menschen nicht in die Augen schauen konnte. Jemand, der überhaupt große Schwierigkeiten hatte, mit seinen Mitmenschen umzugehen. Er musste Geld haben, nicht nur um des Geldes willen, sondern um in der Lage zu sein, auf Anhieb wegzukommen, wenn es sein musste, auch von der Erde selbst. Aber er hätte vermutlich auch eher ein Typ wie Steve Jobs gewesen sein können – und nicht ganz so exzentrisch. Vielleicht liegt das an mir. Ich tendiere dazu, manchmal ein bisschen zu exzentrisch zu sein. Das liegt in meiner Natur.