ray Filmmagazin » Themen » Mode, Macht und Moral

Triangle of Sadness

Mode, Macht und Moral

| Pamela Jahn |
Für seine Gesellschaftssatire „Triangle of Sadness“ hat der Schwede Ruben Östlund zum zweiten Mal in fünf Jahren die Goldene Palme beim Filmfestival in Cannes gewonnen.

Vielleicht fing alles damit an: Als Ruben Östlund kaum sechs Jahre alt war, ließen ihn seine Eltern mitten in Stockholm alleine auf der Straße spielen. Sie hängten ihm lediglich einen Zettel mit seiner Adresse um den Hals für den Fall, dass er sich verlaufen würde. Östlund hat das Abenteuer, das man heute wohl eher als gewagtes Experiment bezeichnen würde, unbeschadet überstanden. Aber es hat sich in seine Erinnerung eingebrannt. Und im Laufe der Jahre, in denen er sich zu einem der aufregendsten europäischen Regisseure entwickelt hat, schärfte es seinen Sinn für die gesellschaftlichen Umstände, Unterschiede und Veränderungen. Der schwedische Auteur, das zeigen seine Filme, ist fasziniert von den Fragen, die unser menschliches Verhalten bestimmen: Wer wir sind. Wie andere uns sehen. Und wie wir zueinander stehen. Welche Rolle wir in der Gesellschaft spielen oder zu spielen haben. Und überhaupt, wie es um unsere Zivilisation bestellt ist.

Das allein macht ihn natürlich noch nicht zu einer Ausnahme im gegenwärtigen Kino. Noch nicht einmal in Schweden. Sein Landsmann und Regiekollege Roy Andersson etwa befasst sich in seinen Filmen mit ähnlichen Themen. Doch während Andersson auf eine artifizielle, stilisierte Erzählform beharrt, filmische Tableaus liebt und seine Figuren mehrheitlich wie Statisten im Museum agieren lässt, ermittelt Östlund direkt im Leben, immer mittendrin. Sein Ansatz ist soziologisch, seine Methode weniger artifiziell. In seinen Filmen setzt er auf Chaos und Schadenfreude, Konfrontation und schamlosen Humor. Östlund hat es zu seinem Markenzeichen gemacht, unsere Ängste und Schwächen in ihren verschiedensten Erscheinungsformen offenzulegen. Von Feigheit und Entmannung, wie sie in Höhere Gewalt (Force Majeure, 2014) zur Schau gestellt werden, bis hin zu Eitelkeit, Egoismus und Heuchelei, die in der bissigen Kunstsatire The Square (2017) den renommierten Kurator Christian (Claes Bang) arg aus dem Gleichgewicht bringen. Östlund lässt keine Gelegenheit aus, uns die Seltsamkeiten und Unzulänglichkeiten menschlichen Verhaltens vor Augen zu führen. Sein neuer Film Triangle of Sadness hat noch mehr – viel, viel mehr – davon zu bieten.

Den vollständigen Artikel lesen Sie in unserer Printausgabe 10/22

Untergangsszenarien
Die schwarze Komödie ist ein bissiges Zeitgeistporträt. Die Ankündigung eines Untergangs in drei Akten: Was als flüchtige Kritik an der Modelbranche beginnt, steigert sich bald zu einem ausgereiften Demontage-Szenario auf hoher See, dass mit Kapitalismus-Fantasien und rassistischen Vorurteilen ebenso aufräumt wie mit Champagner saufenden Superreichen und den besten Manieren. Im finalen Kapitel retten sich die Gäste einer Luxusjacht nach Schiffbruch auf eine einsame Insel jenseits von Gut und Böse, wo zunächst alle Hierarchien ausgelöscht sind, bevor sie sich unter veränderten Bedingungen neu etablieren.

Im Zentrum der Handlung steht Clark (Harris Dickinson), ein Schönling, Model von Beruf, der seine besten und lukrativsten Aufträge jedoch bereits hinter sich hat. Seine attraktive Freundin Yaya (Charlbi Dean) dagegen ist weiterhin gut im Geschäft und nebenbei als Influencerin überaus erfolgreich. Aus dem Ungleichgewicht zwischen den beiden Beauties entwickelt sich beim Abendessen im Restaurant ein heftiger Streit über Geld und Geschlechterrollen, nachdem Clark die Rechnung wieder einmal alleine begleicht. Anschließend begleiten wir das Paar durch eine konfliktreiche Nacht und erwachen auf einer Kreuzfahrt mit den Superreichen, die Yaya ebenfalls umsonst bekommen hat – im Austausch gegen ein paar Bilder im knappen Bikini auf Deck.

Auf jener Luxusjacht, die keine Wünsche offen lässt, tummelt sich die High Society tagsüber am Pool und tauscht abends an der Bar ein einsamer Oligarch auch schon mal seine Rolex für ein paar nette Worte ein. Man frönt dem schönen, unbekümmerten Leben, während sich der dauerbesoffene Kapitän (Woody Harrelson in Höchstform) in seiner Kabine verschanzt. Das zuvorkommende Personal versucht derweil ausnahmslos, sämtliche Wünsche der Gäste zu erfüllen, ganz gleich wie banal, erniedrigend oder infantil diese sein mögen. Doch es dauert nicht lang, bis die eingespielte Gruppendynamik an Bord mit zunehmendem Seegang in die Schieflage gerät und das minutiös geplante Kapitänsdinner sich in einer Katastrophe entlädt: Zwischen Champagner und Erbrochenem, marxistischen Theorien und giftiger Satire, verkehrt sich das Oben und Unten der illustren Gesellschaft, bis ein Piratenangriff im Morgengrauen das edle Schiff zum Kentern bringt.

Für Östlund, der den größten Teil seiner Zwanziger damit verbracht hat, Extremsportvideos zu drehen, sind derartige Horrorszenarien kein Einzelfall. Bereits in seinem vorherigen Film The Square, für den er 2017 bei den Filmfestspielen in Cannes erstmals mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde, beschrieb Östlund die zeitgenössische Kunstszene als eine Welt im Untergang, die jeglichen Kontakt zur Realität verloren hat. Auch dort bekommt sein Protagonist Christian – ein Mann, der abwechselnd unsicher und ehrenhaft, eitel und großzügig ist – den Ruin bald am eigenen Leib zu spüren. Erst werden ihm in einer äußerst geschickt arrangierten Aktion Handy und Brieftasche geklaut, daraufhin setzt seine verzweifelte Suche nach den Tätern eine Reihe von Ereignissen in Gang, die nicht nur sein Privatleben einer ungemütlichen Realitätsprüfung unterziehen, sondern gleichzeitig das ganze Desaster zwischenmenschlicher Unfähigkeit in einigen wenigen Einstellungen bestürzend genau auf den Punkt zu bringen versteht.

Versuchsanordnungen
Bevor die Idee zu einem Film wurde, war The Square eigentlich ein physisches Quadrat. Östlund und sein Produzent Kalle Boman hatten es 2014 als soziales Experiment vor dem Vandalorum Museum im schwedischen Värnamo installiert. Am Eröffnungsabend stahlen betrunkene Jugendliche die Plakette, die dem Kunstwerk seine Berechtigung geben sollte. Danach wurde der Platz zu einem Stützpunkt für Straßenmusiker, Bettler und Demonstranten. Büroangestellte versammelten sich an sonnigen Tagen zum Mittagessen. Auf diese Weise entwickelte die Installation ein sonderbares Eigenleben. „Wir hatten den Platz nicht mehr unter Kontrolle“, beurteilte Östlund die Lage im Nachhinein sichtlich erfreut. Viele Ideen, die sich aus der Versuchsanordnung ergaben, informierten und beflügelten schließlich seinen Film.

Die Sache sei, so erklärte es der heute 48-jährige Schwede nach seinem ersten Goldene-Palme-Gewinn, dass er sich selbst nie als fiktiven Filmregisseur gesehen habe. Der Plan war immer, Dokumentarfilme zu machen. Fast zufällig geriet er ins Spielfilmfach und landete 2014 mit dem Oscar-nominierten Drama Höhere Gewalt seinen großen internationalen Durchbruch. Im Zentrum der Handlung steht ein bürgerlicher Vater, der seine Familie beim ersten Anflug von Gefahr im Stich lässt – und dann die Situation verschlimmert, indem er darüber lügt. Es ist stets das menschliche Verhalten – oder besser Fehlverhalten –, das Östlund fasziniert: Wie Menschen auf eine Krise reagieren; wie sie sich an den Konsequenzen und ungewohnten Umständen reiben. Im Guten wie im Schlechten werden seine Figuren – zumeist Männer, die mit dem Mannsein ihre Schwierigkeiten haben – durch Entscheidungen in Sekundenbruchteilen definiert. „Im Grunde“, sagt er, „handeln alle meine Filme von Menschen, die versuchen, ihr Gesicht zu wahren.“

Auch in Triangle of Sadness werden seine Protagonisten auf mehr als nur eine Probe gestellt. Das Ende vom Untergang hat Östlund auf die brutalstmögliche Weise inszeniert. Nach dem gewalttätigen Schiffbruch können sich einige der Gäste und Crew auf eine einsame Insel retten, wo plötzlich jeder für sich allein ums Überleben kämpft. Der Regisseur wechselt unterdessen kühn von seiner knochentrockenen Satire zu einer maximalistischen Farce. Mit kompromissloser Klarheit seziert er unsere Abhängigkeit voneinander, während die ehemalige Toilettenfrau Alicia (Dolly De Leon) unter den Überlebenden das Kommando übernimmt, weil sie weiß, wie man Fische fängt und Feuer macht.

Triangle of Sadness ist eine an den Kräften zehrende Tour de Force, die behauptet, dass Macht korrumpiert. Nichts an diesem Film ist subtil und wenig davon originell. Und ganz sicher trägt Östlund zu dick auf, um auf den Punkt zu kommen. Aber es macht ihm so viel Spaß, dass es fast ungerecht erscheint, ihn dafür zu rügen. Seine kindliche Freude am Leid und Elend der Reichen, wenn sie in ihren eigenen Exkrementen baden, ist im Kern, worum es in diesem Film geht. Er will die Oberschicht als vulgär, ahnungslos und verabscheuungswürdig darstellen – und er unterhält uns mit dieser Idee so großzügig, dass er mit fortschreitender Laufzeit nicht zuletzt sein Publikum an die Grenzen des Erträglichen treibt.

Die Diagnose am Schluss ist klar: Die Welt ist nicht schwarz oder weiß, gut oder böse, aber sie kann – buchstäblich – ziemlich beschissen sein, so viel steht fest.

Die daraus entstehende Verunsicherung führt dazu, dass die Menschen Fehler begehen. Und in einer kapitalistischen Gesellschaft, in der jeder gegen jeden kämpft, können die Unterdrückten schnell zum Unterdrücker werden, wenn die Ressourcen knapp sind. Aber auch Östlund hat die Hoffnung längst nicht aufgegeben. Annäherung ist möglich, egal wie feindselig man sich zunächst gegenübersteht. Und so beißend sein Humor sein mag, glaubt doch auch er fest daran, dass die Menschen trotz ihrer ideologischen und sozialen Mängel zwar komplex, aber oftmals sogar sympathisch sind.

Ob er dafür tatsächlich noch eine zweite Goldene Palme verdient hat, sei dahingestellt. Wohl aber für seinen detailgenauen Sinn für alles Menschliche und die damit einhergehende famose Fähigkeit zur Selbstironie. Östlund will mit seinen Filmen das Kino wieder als Gemeinschaftserlebnis erfahrbar machen. Dass er mit seiner penetrant auf den Nerv zielenden Gesellschaftskritik, einem abgründig-bösen Witz und dem Hang zur großen Geste immer wieder aneckt, ist vorprogrammiert. Ein Grund zur Traurigkeit ist es nicht.