Eindringliches Mutter-Sohn-Drama, das auch formal geschickt aus dem Rahmen fällt
Diane „Die“ Després hat es nicht leicht, mit dem Leben im Allgemeinen und ihrem 15-jährigen Sohn Steve im Besonderen. Denn Steve trägt seinen Verstand im Bauch und sein Herz auf der Zunge. Die rohe Energie, über die er sich artikuliert ohne sie auch nur ansatzweise kontrollieren zu können, prallt dabei ungedämpft auf eine Welt, die mit Problemfällen wie ihm nur schlecht umzugehen weiß, und selbst die zähe Diane bekommt ihren Zögling seit dem Tod des Vaters kaum mehr zur Ruhe. Dagegen scheint die verschwiegene Lehrerin Kyla, die mit ihrer Familie vor kurzem in die Nachbarschaft gezogen ist, geradezu ein magisches Händchen für Steve zu haben. Und für eine kurze Weile sieht es sogar so aus, als hätten Mutter und Sohn in der neuen Dreisamkeit ihren ganz eigenen Rhythmus und Steve dazu den passenden Sound im Ohr gefunden. Plötzlich scheint der heimliche Wunsch nach Harmonie nicht länger undenkbar, sondern eine reale Möglichkeit zu sein.
Wie gesagt, für eine Weile. Denn letztlich kann Steve nicht aus seiner hochexplosiven Haut, was Antoine-Olivier Pilon in einem schauspielerischen Kraftakt auf die Leinwand bannt. Aber eigentlich ist Mommy vor allem Anne Dorvals Film. Nachdem sie bereits in Dolans Regiedebüt J’ai tué ma mère (2009) die Mutterrolle übernommen hatte, beweist sie hier einmal mehr, dass sie eine Menge einstecken, aber auch ordentlich austeilen kann. Ihre Liebe zu Steve wie zum Leben überhaupt ist so verzweifelt wie absolut, so weitherzig wie bedingungslos, auch wenn sie auf Gewalt stößt – körperlich und seelisch.
Wie in seinen bisherigen Arbeiten besteht das Wagnis des Films darin, dass Dolan jede Abweichung von der Norm, jede Selbsterfahrung spektakulär sinnlich inszeniert. Statt sich irgendeiner Moral hinzugeben, zeigt er zwei ausweglos mit sich selbst und miteinander ringende Seelen, die zwar von vornherein zum Scheitern verurteilt sind, die aber trotzdem alles geben, einfach weil sie sich nicht anders zu helfen wissen. Und Mommy ist fühlbar bis an die Schmerzgrenze, weil er von Dingen handelt, die über diese Grenze hinausgehen, von dem, was sich eben nicht mit lautstarker Musik betäuben lässt wie ein aggressiver Gedanke oder einer von Steves ungestümen Wutanfällen, die er so hasst wie Diane und die deshalb umso gewaltiger ins Bewusstsein einschlagen. Besonders schön ist dieses Kino, wenn Dolan auch formal aus den Schranken ausbricht, die er sich mit dem 1:1-Format selbst gesetzt hat. Zweimal öffnet sich die Leinwand in Momenten größten Glücks, die so klug arrangiert sind, dass man darauf reinfallen muss, und zugleich willentlich den abrupten Aufprall auf das harte Pflaster der Realität in Kauf nimmt, der darauf folgt.