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Klassisches Hollywood

More Than Meets the Eye

| Alexander Horwath |
Zum 150. „ray“-Jubiläum baten wir Alexander Horwath, als langjähriger Viennale- und Filmmuseums-Direktor, Kurator, Juror, Publizist, Theoretiker und Lehrender und auch in vieler anderer Hinsicht ein „Mastermind“ der österreichischen und der internationalen Filmszene, um einen Text zu etwas, was ihm „aktuell wichtig“ ist.

Da ich in den letzten zweieinhalb Jahren zwar einiges geschrieben habe, dies aber für nichtpublizistische Zwecke – wie etwa die Lehre an der Filmakademie –, würde ein Stück aus diesem Arbeitszusammenhang das mir „aktuell Wichtige“ gut repräsentieren. „Aktuell“ ist es auch in anderem Sinn: Es ist aus der Zeit der „Corona-Lehre“, in der ich nun mit den Studierenden in Form von E-Mail-Korrespondenzen in Kontakt stehe. Dabei gebe ich ihnen Filme zu sehen, die online (zumindest in Ausschnitten) und kostenlos zugänglich sind. Und da ich seit März 2020 ganz besonders intensiv die Welt der „Online-Filmgeschichte“ untersuche, ist auch der folgende Text auf solche Elemente bezogen. Er thematisiert den historischen Abschnitt des „klassischen
Hollywoodkinos“.

Es ist mir also ein Anliegen, dass dieser konkrete Arbeitszusammenhang (Lehre an der Filmakademie) und der konkrete Medienzusammenhang (Filmgeschichte via Internet) deutlich benannt wird. Die zu Beginn des Texts genannten Filme bzw. Film-Links bilden den Einstieg. Für die „ray“-Online-Publikation ergibt sich daraus der Vorteil, dass die Leserinnen und Leser gleich auf die Filme und Ausschnitte „klicken“ können.


Fort Apache: The Morals of Decorum (2007, Tag Gallagher, 13 Min) https://1fichier.com/?dybx6tdxno (download 177 MB)
Fireworks (1947, Kenneth Anger, 14 Min) https://vimeo.com/425202939
Rock Hudson’s Home Movies (1992, Mark Rappaport)
Ein TRAILER (2 min): https://www.gartenbergmedia.com/dvd-distribution-and-sales/experimental-narratives-avant-garde-shorts/rock-hudsons-home-movies
Ein AUSSCHNITT (5 min) in schlechter Qualität, der aber weitere Eindrücke vom Film vermittelt https://www.youtube.com/watch?v=pjWBZHq9Mfs
Nus masculins (1954, François Reichenbach. Ungeschnittenes Material: 25 Min) https://www.cinematheque.fr/henri/film/132043-nus-masculins-francois-reichenbach-1954/
The Night of the Hunter (1955, Charles Laughton)
Ein AUSSCHNITT (2 min): https://filmglossary.ccnmtl.columbia.edu/clip/the-night-hunter/
The Musketeers of Pig Alley (1912, David Wark Griffith,
ca. 16 Min) https://www.youtube.com/watch?v=sx1u2Sk7VaQ

 

1.

Tag Gallagher: „I have no need of cinema to capture reality. There is more reality outside my window than in all the films ever made. What art provides is a sensibility toward reality.“

Die bewusste Ausblendung alltäglicher Vorstellungen von Wahrscheinlichkeit, Glaubwürdigkeit und Wirklichkeit seitens des Publikums ist Teil der Attraktivität und des Reichtums jeglicher Kunstform. Das heißt keineswegs, dass Kunstwerke nicht innige, sinnlich vermittelte Bezugnahmen auf die Wirklichkeit anbieten. Sie sollten nur nicht mit der „Realität da draußen“ verwechselt oder in banalen Aufrechnungen daran gemessen werden. Gleichwohl haben Kunstwerke eine eigene, materielle Wirklichkeit – unabhängig von derjenigen „da draußen“, auf die sie mehr oder weniger deutlich Bezug nehmen. Diese spezifische Eigenrealität der Kunstwerke wahrzunehmen oder nicht, bleibt ebenfalls den Betrachtenden überlassen. Möglich ist es in jedem Fall. Wer es nicht tut, trifft auch eine Entscheidung. Der Fachausdruck dafür wäre suspension of disbelief – die Suspendierung unserer Zweifel, die Ausblendung der einen und/oder der anderen Realität durch die Betrachtenden des Kunstwerks. Wir sind in unserer Beziehung zum Kunstwerk, zum Film, nicht einfach „Opfer“ oder „Betrogene“ oder „Oberg’scheite“, sondern aktiv Mitwirkende am Spiel der Sinne und Bewusstseinszusände.

Jean-Louis Comolli: „Here we are at the heart of the cinematic paradox. The cinema as a machine at work always shows itself in the midst of functioning. We must want to not see it at work.“

Wir können angesichts dieser tendenziell beunruhigenden Faktenlage wieder etwas Ruhe finden, wenn wir analysieren, auf welch vertrackte oder einfache Art das Kunstwerk uns möglicherweise zur Ausblendung einer oder beider Realität/en eingeladen hat. Aber wir sollten wissen, dass kein äußerer Zwang uns dazu vergattert, diese Einladung-zur-Ausblendung anzunehmen oder nicht.

2.

Wer allein das erste und vorletzte der anfangs genannten Filmstücke betrachtet, erhält anhand der kurzen Ausschnitte aus John Fords Fort Apache (1948) und Charles Laughtons The Night of the Hunter (1955) nur eine zarte Idee von der Vielfalt des „klassischen Hollywoodkinos“ der 1930er bis 1950er Jahre. Eines Kinos, dessen industrielle Fabrikation für ein möglichst großes Publikum durch viele (ökonomische, arbeitszeitliche, sozialmoralische, licht- und erzähltechnische) Regeln bestimmt war – und das dennoch eine relativ hohe Ausdifferenzierung erlaubte. In der „Freien Welt“, deren Triumph sich die USA im Weltkrieg und danach im Kalten Krieg auf die Fahnen schrieben, musste selbst dort ein gewisses Maß an künstlerischer Freiheit gewährt werden, wo die Ideologieproduktion am intensivsten vonstatten ging. Die politique des auteurs der 1950er und 1960er Jahre, also die von europäischen Filmkritikerinnen und –kritikern konstatierte Individualität bestimmter Regiestile und filmischer Weltanschauungen, wurde gerade nicht (oder nur manchmal) am „kultivierten“ europäischen Kino vorexerziert, sondern vor allem an den „Kommerzprodukten“ Hollywoods. Tag Gallaghers visueller Essay über Fort Apache ist ein eigenwillig schönes, spätes Beispiel für diese (seit den 1970er Jahren auch in den USA weit verbreitete) Betrachtungsweise.

3.

Die folgenden Film-Elemente handeln vom Spannungsfeld zwischen dem klassischen Hollywoodkino und seinem scheinbaren Gegenüber, der „nicht-professionellen“ Produktion filmischer Werke und Zeugnisse.

Mark Rappaport widmet seine kritisch-liebevollen Betrachtungen einem großen Star der Nachkriegsära, Rock Hudson. Dessen Karriere in den 1950er Jahren ist ein Musterbeispiel für das halb-verborgene, halb-sichtbare Regelwerk, das zur Hollywood-„Klassizität“ dazugehört. Im konkreten Fall sind dies die Regeln der (Nicht-)Repräsentation sexueller Präferenz in Werken und Karrieren, die sich der Mainstreamkultur verpflichtet fühlen. Hudsons Homosexualität wurde in der Öffentlichkeit – und von ihm selbst – erst in den 1980er Jahren, im Zuge seiner AIDS-Erkrankung thematisiert.

Was ist ein „schwules Kino“? Kenneth Anger (Fireworks, USA 1947), Gregory Markopoulos (Du sang de la volupté et de la mort und Swain, USA 1947-50) oder Jean Genet (Un chant d’amour, Frankreich 1950) haben bereits kurz nach Kriegsende Werke geschaffen, die diese Bezeichnung verdienen – auch wenn sie sich bei weitem nicht darauf reduzieren lassen. Heute gelten sie als Klassiker des Avantgarde- oder Undergroundfilms, aber sie könnten ebenso gut (und ohne abfälligen Unterton) als Amateur-Produktionen bezeichnet werden; gemessen an den Profi-Standards der Filmindustrie waren sie das tatsächlich. Dieser Status erlaubte ihnen viel größere thematische und gestalterische Freiheit als den „Profis“ – und sie bezahlten dafür oft genug mit justizieller Verfolgung oder sozialer und kultureller Marginalisierung.

Der Link, der zu Nus masculins (Frankreich/USA 1954) führt, bringt Neues – im doppelten Sinn. Dieses ungeschnittene „Amateurfilm“-Material wurde erst kürzlich wiederentdeckt und kann nun sowohl der Geschichte eines schwulen Kinos wie auch der Bio- und Filmografie des anerkannten Profi-Dokumentaristen François Reichenbach (1921-1993) hinzugefügt werden (und darüber hinaus noch einer Geschichte des Farbfilms: solch intensive Ektachrome-Aufnahmen sind selbst in Filmarchiven durchaus selten). „Neu“ in einem anderen Sinn, oder zumindest sehr erhellend, ist aber auch der Bogen, den dieses Material zurück nach Hollywood schlägt. Da der Franzose Reichenbach die Aufnahmen – wie auch seinen zeitgleich entstandenen Schwarzweiß-Amateur-Kurzspielfilm Last Spring (https://www.cinematheque.fr/henri/film/132042-last-spring-francois-reichenbach-1954/) – mehrheitlich in den USA und nur mit jungen Männern gedreht hat, springt recht deutlich ein bestimmter Kleidungsstil und körperlicher Habitus ins Auge, den wir üblicherweise mit Figuren wie James Dean in Rebel Without a Cause (1955) verbinden. Auch Rock Hudson, ein anderes Idol dieser Jahre, ist hier nicht weit entfernt. Sowohl der genannte James-Dean-Film (in dem homosexuelles Begehren eine gewisse Rolle spielt, was vom Film zugleich angedeutet und unterdrückt wird), wie auch die von Mark Rappaport untersuchten Rock-Hudson-Figuren in den „braven“ Melodramen und Komödien der 1950er Jahre können durch neue Echos mit dem Amateur-/Independent-/Underground-Filmschaffen ihrer Zeit besser denn je als Teil einer größeren queeren Filmkultur gesehen werden.

Der Begriff queer soll hier eine umfassende, vielfältige, über das Terrain der sexuellen Präferenz hinaus gehende Bedeutung haben. Mein Ansinnen ist nicht so sehr eine „schwule Umschreibung“ der Geschichte Hollywoods (wie es die lahme Netflix-Serie Hollywood kürzlich versuchte), sondern eine Sensibilisierung für die generellen Freuden eines nicht-straighten Blicks, der alte Gewohnheiten der Film- und Sozialgeschichtsschreibung aufbricht. Ich muss das insofern betonen, als ich mit John Ford und Charles Laughton zufälligerweise zwei Künstler an den Anfang und ans Ende dieses Blocks gesetzt habe, die selbst Gegenstand queer-revisionistischer Biografik geworden sind: Manche Zeitzeugen wurden in Büchern der letzten zehn, zwanzig Jahre mit Aussagen über Fords homosexuelle Neigungen zitiert, und Charles Laughton war wohl tatsächlich „zumindest bisexuell“. Dennoch ist der Grund, warum ich Ihnen wenigstens zwei Minuten aus seiner einziger Regiearbeit The Night of the Hunter (1955) ans Herz lege, nicht die private queerness des Regisseurs und berühmten Schauspielers Laughton. Es ist vielmehr die mannigfaltige queerness seines Films, die bezeugt, wie „polymorph“ und „pervers“ das ach so „klassische“, ach so brave Hollywoodkino in jeder Hinsicht sein konnte.

Dazu nur eine einzige Facette: Dieser Film von 1955 tut viel, vor allem visuell, um wie ein Film aus der Stummfilm-Ära zu erscheinen – wissend, dass dies geschäftlich, beim breiten Publikum, nicht von Vorteil sein wird. Und er besetzt (z.B. in dem hier angegeben Ausschnitt) eine Schauspielerin, deren große Zeit rund 40 Jahre zurückliegt, die buchstäblich in der Versenkung verschwunden ist: Lillian Gish. An sie werden Sie sich – so hoffe ich – noch erinnern, denn Sie haben sicherlich D.W. Griffiths The Musketeers of Pig Alley (1912) gesehen. Der gleichsam nachträglich erfundene „Amerikanische Expressionismus“ von The Night of the Hunter (nach dem Vorbild des selbst oft missverstandenen „Deutschen Expressionismus“) verbündet sich mit hier mit dem frühen Kino von Griffith, dessen Fetisch-Darstellerin Lillian Gish war. Eine Legende wird aufgerufen, damit eine neue entstehen kann. Das Kino „vor Hollywood“ dient unter anderem dazu, ein Kino nach Hollywood zu imaginieren.

4.

Serge Daney: „Eine Kino-Figur gehört nie einem einzigen Film alleine, sie existiert auch in anderen Räumen, in anderen Geschichten.“

32 Jahre später spukte Lillian Gish immer noch durchs Kino: Sie kam nach Cannes, um gemeinsam mit Bette Davis und Regisseur Lindsay Anderson ihren letzten Film zu präsentieren, The Whales of August. Kein sehr guter Film, aber das war mir egal. Ich war 22 Jahre alt und in diesem Mai 1987 zum ersten Mal auf dem Filmfestival in Cannes. Lillian Gish war fast 94 und hatte keine Augen für mich. Auch das konnte ich verschmerzen. Sie wurde im Oktober 1893 geboren, als Thomas Alva Edison und William K. L. Dickson gerade am Kino herumwerkelten, das also noch nicht so weit geboren war wie Gish. Und sie ist im Februar 1993 gestorben. Wenn sie bis zum Herbst durchgehalten hätte, wäre sie 100 geworden und hätte sogar noch den Eternal September erlebt (https://en.wikipedia.org/wiki/Eternal_September). Ein Leben, das vor dem ganzen Kino einsetzt und bis fast nach dem Kino reicht. Wenn das nicht queer ist.