Ein europäisches Drama in unzähligen Takten
Die Dinge heben sich sanft aus ihren Fugen, in keine Unordnung, eher in eine rekursive Grammatik: Wie Dia auf Dia folgen Tableaus aufeinander, Fenster in eine durch ständige Auslassungen artifizielle Welt so nah an der unsrigen, die Zeit springt nicht, sie rutscht. So oder so ähnlich ereignen sich einige Etappen einer Liebesgeschichte auf fataler Basis, ein Säugling wird kurz nach seiner Geburt von seinen Eltern getrennt, der junge Mann erfüllt eine Gefängnisstrafe als Schicksalspfad nach einem Totschlag, verliebt sich freiheitsentzogen in eine Wärterin, mit der er später glücklich wird. Bereits mit einer gemeinsamen Tochter holt das Paar die Vergangenheit ein; genauer erfährt die Frau am Telefon, was sie infolgedessen nicht zu ertragen imstande sein wird, während dem Mann das gleiche Wissen erspart bleibt, er dafür seine Geliebte überleben muss.
Entlang verschieden deutlicher Markierungen stellt Angela Schanelec so ihren Protagonisten als Ödipus-Variation vor, einen filigranen Schwellfuß, dessen Erblinden, statt nur einen Affekt lang zu dauern, sich über Jahre zieht. Wie viele dieser Wegweiser diverser Gestalt erkannt werden, sollte keinen Ausschlag für eine bessere oder schlechtere Kinoerfahrung geben, Letztere lediglich verändern. Damit spielt die deutsche Filmemacherin vor allem in ihren letzten Arbeiten verstärkt: Es scheint, je kristalliner ihre Bilder werden, desto offener, aber unklarer, desto weiter, aber trüber deren Bedeutungen. In Music reduziert Schanelec die Dialoge schon wieder, legt an deren Stelle Gesang als Teppich aus, dessen Fransen sich vor und zurück in die Handlung auswachsen. Vor allem das verschwindende Augenlicht der Hauptfigur erhebt das Singen, das Musizieren zur essenziellen Form der Äußerung – die schleichende Erkenntnis einer Wahrheit, die zu schmerzhaft ist, um sie dem eigenen Spiegelbild ins Gesicht zu sagen? Bevor die barocken Lieder von Stücken des – ein „match made in heaven“ – kanadischen Multinstrumentalisten und Songwriters Doug Tielli abgelöst werden, setzt die beinah tolldreiste Perfektionistin Schanelec als unwiderruflichen temporären Ankerpunkt weniger melodische, doch ebenso dramatische Sprache aus der Dose: Fußballkommentar eines Tores beim großen Nationenturnier 2006, Pirlo auf Grosso, Kugel vorbei an Lehmann. In der sinnstiftenden Verlängerung ist das mehr als ein genaues Datum, an dem Menschen in ihr Fernsehgerät schauen: die unbewusste Tragödie als zeitgenössisches Anti-Sommermärchen.