Regisseurin Bettina Oberli erzählt in der neuen ARD-Miniserie „37 Sekunden“ gekonnt die Geschichte eines sexuellen Übergriffs, den die Betroffene trotz Widerstands aus dem engsten Umfeld vor Gericht bringt.
Bereits in einigen ihrer Arbeiten für die große Leinwand hat die Schweizer Filmemacherin Bettina Oberli ihr Gespür für schwierige familiäre Konstellationen unter Beweis gestellt. Während sie oft Freude daran findet, das Tragische mit dem Komödiantischen zu verbinden – so etwa in ihrem frühen Erfolg Die Herbstzeitlosen (2006) oder ihrem bislang letzten Kinofilm Wanda, mein Wunder (2020) –, spürte sie in ihrer filmischen Beschäftigung mit einem bis heute ungeklärten Mehrfachmord in Bayern den sozialen Folgen von Verbrechen nach. Es sind im düsteren Tannöd (2009) genauer jene Verhaltensweisen, die Menschen an den Tag legen, um ihr Wissen über Missetaten verschiedener Schwere vor der Welt und sich selbst zu verschweigen, für die sich Oberli vordergründig zu interessieren scheint. Denn geschwiegen wird in Tannöd nicht über die Morde, vielmehr liegt in deren Ursprung eine kollektive, stumme Duldung von sexuellem Missbrauch.
In der neuen Miniserie 37 Sekunden inszeniert Oberli als Regisseurin nach einem Drehbuch von Julia Penner und David Sandreuter ein Sexualverbrechen, eine Vergewaltigung, die hingegen sofort für viel Gesprächsstoff sorgt. Dass die Betroffene sich standhaft weigert, die Sache wortlos ad acta zu legen, bringt hier sowohl erschreckende Charakterzüge von niemand anders als ihrer eigenen besten Freundin zutage als auch die Strategie eines Täters und seiner Verbündeten, die Geschehnisse derart kleinzureden, dass sich das Opfer bis zum Ende nicht sicher sein kann, ob ihrer – wahren – Version der Geschehnisse Glauben geschenkt wird. Bis auf einige Rückblenden erzählt Oberli alles der Reihe nach: Die junge aufstrebende Musikerin Leonie hat eine innige Affäre mit einem bekannten, verheirateten Singersongwriter namens Carsten Andersen. Es ist ein Verhältnis, das über rein körperliche Befriedigung hinausgeht, beidseitig bestimmend am Werk sind echte Gefühle. Ebendies veranlasst die beiden durchaus einvernehmlich, die Sache zu beenden, ausgerechnet im Rahmen einer großen sommerlichen Geburtstagsparty für den alternden Sänger, der kurz vor einem Comeback steht, kommt es zu einer letzten körperlichen Annäherung, bei der rasch kein Konsens mehr vorhanden ist. Leonie wird erst am Morgen vollständig bewusst, wie sehr der Mann gegen ihren Willen handelte. Mehr als nur einmal hat sie „Nein“ gesagt. Zögerlich vertraut sie sich ihrer besten Freundin, der Anwältin Clara, an – ohne Namensnennung, denn der Umstand, der diese Handlungsbasis noch viel komplexer macht, liegt in der Familie: Clara ist Carstens Tochter.
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PECH UND SCHWEFEL?
Rasch wird deutlich, dass im Laufe der sechs Episoden nicht bloß ein einzelner Konflikt, sondern unterschiedliche Machtgefälle und unterschiedliche Kämpfe erzählt werden, dies jedoch in ihrem Zusammenhang, der nicht zu leugnen ist: Bevor Anwältin Clara in Kenntnis davon ist, dass es sich beim mutmaßlichen Täter um ihren geliebten Vater handelt, ist sie es selbst, die ihre Freundin geradezu ermahnt, sich sofort juristischen Beistand zu suchen. Doch ihre Loyalität zu Carsten ist so stark, dass sie nach dieser Entdeckung schlagartig und eiskalt die Fronten wechselt und fortan dafür zu kämpfen gewillt ist, dass Leonie die Anschuldigung fallen lässt. So offenbaren sich einerseits nach und nach Brüche im familiären System: Ehefrau Maren – den Zwiespalt aus Verletztheit und gleichzeitigem Bindungswille verkörpert Marie-Lou Sellem herausragend – muss sich nicht zum ersten Mal mit den „Geschichten“ ihres Gatten herumschlagen. Sohn Jonas ist hingegen nicht bereit, einfach so zu tun, als wäre nichts gewesen. Er, auch ein Sinnbild für eine jüngere Generation, die sich gegen so manche strukturellen Verfehlungen der Älteren zur Wehr setzt, reimt sich nach einem Instagram-Post von Leonie, in dem sie anonymisiert von dem Übergriff berichtet, selbst zusammen, wer gemeint ist, und kehrt seinen Eltern den Rücken. Und auch Clara, die Freundin, die zur regelrechten Feindin wird (Emily Cox demonstriert die nicht zu unterschätzende Kunst des notwendig Unsympathischen), lässt ihre juristischen Verbindungen derart zügellos spielen, um ihren Vater und dessen Karriere zu beschützen, dass sie dabei auch ihre eigene Ehe gefährdet. Mittendrin versucht sich ein Täter, der so gar nicht begreifen kann, was er denn eigentlich getan hat, um all diese Schwierigkeiten zu verdienen, bestmöglich durchzumogeln. Und die neue Platte kann doch bitte schon mal gar nichts dafür.
OPFERROLLEN
Andererseits entsteht eine von Paula Kober durch alle Stadien hindurch glaubhaft verkörperlichte Zeichnung einer Frau, die den Mut hat, das ihr Widerfahrene nicht unter den Teppich zu kehren: Von Flashbacks heimgesucht, steht für Leonie fest, dass sie etwas unternehmen muss. Nicht einmal der wahrhaftige Schock des Freundinnenverrats bringt sie von diesem Weg ab. Wie es gängige Praxis der Täter-Opfer-Umkehr ist, wird versucht, sie mundtot zu machen, sie zu diskreditieren: Sie wolle Rache, Rache und Karriere-Boost. Begleitet von der mehr sachlich-professionellen als einfühlsamen, auf Fälle dieser Façon spezialisierten Anwältin Adèle Sonko stellt Leonie sich jedoch der Konfrontation, mit allem, was dazugehört. Wichtig dabei: In ihr keimt Ambivalenz, weder hasst sie ihren Ex-Geliebten, noch will sie ihm Böses. Doch sein Fehlverhalten – sie benennt es mittlerweile auch selbst als Vergewaltigung – soll auch nicht ohne Konsequenzen bleiben. Leonies Weg ist jener so vieler, wie auch jener, den so viele aus Angst, Einschüchterung oder schlicht Mangel an nötigen Ressourcen, um juristisch eine Chance zu haben, eben gar nicht erst beschreiten. So wird 37 Sekunden in einer Verzweigung von weiblicher Selbstermächtigung inmitten tiefer persönlicher Krise schlussendlich doch zu einem spannenden Justizdrama, in dem zwar manches, aber bei weitem nicht alles vorsehbar abläuft. Die Mini-Serie zeigt auf, wie sich außerhalb der Türen des Gerichtssaals jenes Bild erst zusammensetzt, über das dann ein Urteil gesprochen wird: Es ist ein Bild konträrer Wirklichkeiten, alle schlussendlich zum Zweck erprobt und formuliert, den Fall zu gewinnen. Gewinnen wird hier, so viel sei verraten, jedenfalls das Menschliche.
ALLTAGSGESCHICHTEN
Denn ein Monster ist auch der Täter nicht, nicht in dieser Geschichte. Das Drehbuch wählt den Weg, auch Carsten Andersen verstehen zu wollen, seine Emotionen, seine Wünsche, seine Motivationen, aber ebenso seine Ignoranz, seine Unfähigkeit, das eigene Tun als problematisch und gewaltvoll zu begreifen. Dass dafür ein Mann der Kunst gewählt wurde, ist sicher kein Zufall – wobei die Frage legitim sein muss, ob die Story und ihr Anliegen nicht genauso eindrucksvoll oder sogar besser mit einem „Durchschnittstypen“ funktioniert hätte. Ihrer Dringlichkeit tut dies jedoch ebenso wenig Abbruch wie der weitgehend geradlinige Regie-Stil Bettina Oberlis, die sich kaum in Sentimentalität oder Absolutheit verirrt. Die Realität fügt Serien oder Filmen, die sich mit aktuellen Gesellschaftsmissständen beschäftigen, ja ohnehin mit deprimierender Verlässlichkeit oft einen weiteren Aspekt hinzu, der verrückter ist als jede Fiktion: Nachdem etwa ein italienisches Gericht einen Schulwart vom Vorwurf der sexuellen Belästigung unlängst, im Juli dieses Jahres, mit der Begründung freisprach, dass der Übergriff „nur“ zehn Sekunden dauerte, veranschaulichten zahlreiche Menschen auf Social Media unter dem Hashtag #10secondi auf beklemmende Weise, wie lange zehn Sekunden wirklich sind. 37 Sekunden zeigt indes ausführlich, dass auch die Sekunden der Tat erst der Anfang sind. Dass Gewalt nachwirkt. Und dazu, dass die Auseinandersetzung mit dieser unbequemen Wahrheit ein Stückchen weit mehr in der breiten Masse der Gesellschaft ankommt, kann ein kurzweiliges und doch ernstes Stück Fernsehen (in diesem Fall ist die TV-Ausstrahlung bereits erfolgt, was in Online-Mediathek-Zeiten kein Problem darstellt) ja durchaus beitragen.