Das Crossing Europe Filmfestival Linz findet unter neuer Leitung von 27. April bis 2. Mai statt.
Crossing Europe, das Arthouse-Festival in der schönen Landesstahlstadt, findet heuer zum ersten Mal seit seiner Gründung im Jahr 2004 unter neuer Direktion statt. Christine Dollhofer ist – wir haben berichtet – seit einigen Monaten Geschäftsführerin des Filmfonds Wien, ihr nachgefolgt ist eine Doppelspitze: Sabine Gebetsroither und Katharina Riedler, die zuvor schon jahrelang in diversen Funktionen beim Festival tätig waren.
Nichts geändert hat sich an der Ausrichtung von Crossing Europe, das europäisches Kino mit künstlerischem respektive sozialpolitischem Anspruch nach Österreich holt. Beim diesjährigen Tribute liegt der Schwerpunkt weniger auf Letzterem, dafür aber ziemlich stark auf Ersterem: Gewidmet ist die Sektion dem belgischen Filmemacher Fabrice du Welz. Dieser wird, wenn nichts dazwischenkommt, persönlich vor Ort sein und fünf Langspielfilme vorstellen, darunter sein neues Werk Inexorable (2021), in dem er das populäre Motiv der Home Invasion nicht auf schnelle Thrills, sondern auf Verstörung und Erotik hin untersucht. Räume und Sounds spielen im Gesamtwerk des Regisseurs trotz manchmal prominenter Besetzung (in Vinyan aus dem Jahr 2008 waren etwa Emmanuelle Béart und Rufus Sewell zu sehen) die Hauptrollen, reflektieren auf düstere, manchmal surreale Weise das Innenleben seiner Protagonisten. Vergleiche mit David Lynch bieten sich natürlich an, doch setzt der Belgier durchaus eigene Akzente. Zusätzlich zu Welz’ Œuvre wird eine vom ihm kuratierte Auswahl an Kurzfilmen gezeigt.
„Kino, was ist das?“, könnten wohl viele Jugendliche fragen, die sich visuellen Medien hauptsächlich per Streaming (eine Form des Bilderkonsums, die in den letzten zwei Jahren zusätzlich noch durch Kinoschließungen befeuert wurde) nähern. Gut, dass Crossing Europe auch heuer wieder die Schiene YAAAS! fährt, die junge Menschen für das Kino begeistern möchte. Jugendliche von 15 bis 20 Jahren können sich mit Medienprofis austauschen, Workshops besuchen, gemeinsam Filme diskutieren und eigene Arbeiten präsentieren. Einer der Filme der diesjährigen YAAAS! Competition ist etwa Youth Topia (Deutschland/Schweiz, 2021, R: Dennis Stormer), der von einer alternativen Realität erzählt, in der ein Algorithmus bestimmt, wann eine Person als erwachsen gilt.
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Besonders spannend gibt sich heuer die Schiene European Panorama Documentary, in der gleich zwei Filme der bedeutenden tschechischen Dokumentaristin Helena Trˇeštíková (ein langjähriger Stammgast in Linz) zu sehen sind. Zur Wiederaufführung von René (2008) gesellt sich das aktuelle Sequel René – The Prisoner of Freedom. Mit René legte die Regisseurin – deren Spezialität Langzeitbeobachtungen sind, die Einzelschicksale mit soziolpolitischen Veränderungen in Tschechien verknüpfen – ein zwanzig Jahre umfassendes Porträt des Kleinkriminellen und Schriftstellers René Plášil vor: Während das Land politisch im Wandel begriffen ist, scheint Renés Leben von der Konstante Gefängnis geprägt zu sein. Die Besuche der Filmemacherin (deren Wohnung er zwischendurch ausraubt) werden ihm dabei mitunter zur Bestätigung, dass sein Leben doch nicht völlig sinnlos ist. Das Sequel überprüft nun, was aus René seit Teil 1 wurde: In Tschechien erlangte der charismatische Misanthrop durch den Film zeitweise sogar ein wenig Prominenz – was ihm allerdings auch nicht zu einer soliden Existenz verhalf. Gelingt es René nun im fortgeschrittenen Alter, sein Glück im Leben und in der Liebe zu finden? Eine faszinierende Charakterstudie, die in ein paar Jahren möglicherweise noch eine weitere Fortsetzung findet.
In derselben Sektion läuft auch die spannende (Hybrid-)Dokumentation Magaluf Ghost Town von Miguel Ángel Blanca: Der mallorcinische Ort Magaluf ist vor allem für eine Partymeile berüchtigt, die jährlich von einer Million Menschen gestürmt wird. Im Zuge der Corona-Pandemie sorgten zudem zahlreiche Verstöße gegen Abstandsregeln für Schlagzeilen. Blanca widmet sich diesem (Nicht-)Ort, indem er die Exzesse mit dem Alltag einer Pensionistin, eines Studenten und einer Immobilienmaklerin kontrastiert. Dokumentarisches wird mit Fiktion akzentuiert, etwa wenn der Student mit Schauspielambitionen sich in düsteren Fantasien ergeht. Dazwischen gelingen Blanca geradezu apokalyptische Bilder – beispielsweise, wenn er verschmutzte frühmorgendliche Straßen zeigt, über die Betrunkene wie Zombies torkeln.
Im Programm Competition Documentary ist das Thema Migration prominent vertreten, etwa mit Newsreel 80 – Metka, Meki von Nika Autor: Hier stellt die Regisseurin das Leben der gebürtigen Jugoslawin Metka in den Mittelpunkt, die 1968 als Gastarbeiterin in die BRD kam, um sich Wünsche wie eine Wohnung oder ein Auto zu erfüllen – und schließlich ganz in Deutschland blieb. Autor lässt Metka in mehreren kulinarisch geprägten Kapiteln aus ihrem Leben erzählen und verbindet die Historie von Arbeitsmigration mit dem Porträt ihrer Protagonistin. Dabei wird auch ein Bogen von Metkas Vita zur aktuellen Migrationsthematik gespannt. Dem Flüchtlingslager auf Lesbos widmen sich dagegen die deutschen Regisseure Ole Jacobs und Arne Büttner mit ihrem Film Nasim, der das Leben der titelgebenden Afghanin porträtiert, die auf ein besseres Leben in Europa hofft.
Ein künstlerisches Highlight in dieser Sektion ist A Parked Life von Peter Triest, der sich einer allgegenwärtigen Problematik anhand eines Einzelschicksals annimmt: Protagonist Petar ist beinahe schon ein Jahrzehnt lang als Fernfahrer tätig. Dabei hat er schon sehr viele europäische Länder gesehen, Urlaubsstimmung kam allerdings nie auf: Der Job ist so fordernd wie monoton – und wird zunehmend zur seelischen Belastung. Petar bleibt dabei, weil er seinem Sohn ein besseres Leben ermöglichen will, doch die lange Abwesenheit von daheim führt zu Spannungen in seiner Ehe. Schließlich droht er sogar, den Kontakt zu seiner Familie ganz zu verlieren … Dieses dokumentarische Roadmovie punktet mit atmosphärischen Bildern Europas vom warmen Süden bis zum verschneiten Norden – die Bilder überstrahlen allerdings nie die tragische Geschichte des Protagonisten, der auch als Stellvertreter für eine Branche mit unmenschlichen Arbeitsbedingungen gesehen werden kann. Wenn Petar sich kleine Fluchten gönnt und in Spanien kurz im Meer schwimmt, spürt der Zuschauer die bald darauf wieder von vorne beginnenden Strapazen umso stärker. Ein Film über einen Mann, der im Wortsinn Gefahr läuft, vom Weg abzukommen.
Eine der hochkarätigsten Arbeiten dieses Festivaljahrgangs ist Erasing Frank (Eltörölni Frankot) des Ungarn Gábor Fabricius. Der Film, der im September in Venedig Premiere feierte und in Linz in der Sektion Competition Fiction zu sehen ist, erzählt von einem jungen Mann, der im Ungarn des Jahres 1983 wegen seiner Liebe zur Punkmusik als Staatsfeind eingestuft und in eine psychiatrische Anstalt eingeliefert wird. Erasing Frank, der nicht zuletzt mit dynamischer Kameraarbeit und der Leistung von Hauptdarsteller Christian Fuchs beeindruckt, wurde in der Lagunenstadt mit dem Verona Film Club Award ausgezeichnet.
Sehenswerte Beiträge finden sich auch in der Sektion European Panorama Fiction: Der finnische Beitrag The Blind Man who Did not Want to See Titanic von Teemu Nikki erzählt von einem blinden Rollstuhlfahrer, der in eine Telefonfreundin verliebt ist, diese jedoch noch nie getroffen hat. Als er erfährt, dass es der Frau gesundheitlich schlechter geht, beschließt der Popkultur-Fan, auf eigene Faust, ganz ohne Assistenz, zu ihr zu fahren. Der Trip bietet schöne Momente, schlägt aber auch ins Furchterregende, Thrillerhafte um … Die packende Inszenierung erzählt konsequent aus der Perspektive Jaakkos, der so brillant wie authentisch von Petri Poikolainen (kein Method Actor, sondern ein an Multipler Sklerose erkrankter Freund des Regisseurs) verkörpert wird. Ein echter „crowd pleaser“, der bereits den Publikumspreis in der Orrizonti-Sektion in Venedig entgegennehmen konnte.
Eine schon lange laufende und gesellschaftspolitisch besonders relevante Programmschiene sind die Arbeitswelten, die 2022 mit dem Zusatztitel „Care“ versehen sind: Vier Dokumentarfilme betrachten die Selbstbestimmung vom Lebensanfang bis zum Ende. Im Fokus stehen dabei die Menschen, in deren Hände die Verantwortung für das Leben Anderer gegeben wird. Ebenfalls wieder mit dabei sind die bewährten Programmschienen Local Artists (die filmische Arbeiten aus Oberösterreich versammelt), Architektur und Gesellschaft (diesmal mit einem Schwerpunkt zur ökonomischen, ökologischen und sozialen Bedeutung des Bodens) sowie die Nachtsicht, in der ausgewähltes Horror-Kino vom Kontinent zu sehen ist. Und wenn es die Corona-Lage zulässt, wird sich wohl rund um das Festivalzentrum OK wieder trefflich socializen lassen.