Gespenstisch gruseliger Survival-Thriller mit unerwartetem Ausgang
Die gemeinsamen Mahlzeiten der Mutter und ihrer zehnjährigen Zwillingssöhne Sam und Nolan sind, gelinde gesagt, frugal. Baumrinde, Insekten, Frösche, gelegentlich ein Eichhörnchen. Die drei leben allein mit ihrem Hund in einem Wald, in dem es spukt. Eine scheußlich anzusehende Dämonin und Wiedergänger führen Böses im Schilde, die Familienmitglieder können nur Nahrung im Wald suchen, wenn sie durch lange Seile mit dem Wohnhaus vertäut sind, das die Geister magisch auf Distanz hält. Mysteriöserweise kann nur die Mutter (Halle Berry) sie sehen, was zur Verunsicherung bei den Kindern führt. Nolan beginnt, an den ständigen Ermahnungen seiner strengen Mama, unbedingt angeseilt zu bleiben, wenn er das Haus verlässt, zu zweifeln.
Nun sind verwunschene Wälder Standardschauplätze im Horrorgenre, doch bietet dieses Szenario mit den Rettungsleinen und einem Bruderzwist zwischen dem relativ besonnen Sam und dem rebellischen, emotional reagierenden Nolan eine interessante motivische Variation. Zudem sind die Rollen mit Anthony B. Jenkins und Percy Daggs IV trefflich besetzt, sie tragen die Handlung über weite Strecken und ziehen den Zuschauer gefühlsmäßig hinein ins Geschehen. Die Professionalität US-amerikanischer Kinderdarsteller ist immer wieder erstaunlich.
Vorzüglich auch die visuelle Gestaltung: Die Außenaufnahmen im Wald (gedreht in British Columbia) erinnern manchmal an Illustrationen in alten Kinderbüchern und verleihen dem Film eine märchenhafte Aura. Tatsächlich heißt es an einer Stelle: „Es war einmal eine Mutter und ihre zwei Söhne“, und Hauptdarstellerin Halle Berry wirkt, wenn sie den Knaben Geschichten erzählt, wie eine Märchentante. Der belgische Kameramann Maxime Alexandre hatte mit dem 1978 in Paris geboren Horrorfilm-Spezialisten Alexandre Aja (bürgerlich: Alexandre Jouan-Arcady, Sohn des renommierten Regisseurs und Produzenten Alexandre Arcady) bereits bei Crawl (2019), einem Horrorfilm über eine Flutkatastrophe mit gefräßigen Alligatoren, und Oxygen (2021) zusammen gearbeitet.
Zum Ende hin wird Never Let Go zunehmend zum Verwirrspiel. Was ist „das Böse“? Was hat die Mutter zu verbergen? Nebenfiguren tauchen auf, und die Frage, ob sie Wiedergänger oder normale Menschen sind, sorgt für Spannung. Die Szene, wo ein reizendes Mädchen sich in ein Monster verwandelt und mit mehreren Armen und Händen einen Baum erklimmt, behält man noch lange im Kopf.