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New Crowned Hope Festival – Was die Welt zusammenhält

Was die Welt zusammenhält

| Michael Guillén :: Barbara Schweizerhof :: Roman Scheiber :: Jörg Schiffauer :: Michael Pekler |

Es gibt wahrlich einfachere Aufgaben als sich künstlerisch von Wolfgang Amadeus Mozart inspirieren zu lassen. Aber vermutlich auch kaum eine spannendere. Ausgehend von den drei letzten Werken Mozarts, Die Zauberflöte, La clemenza di Tito und Requiem, die in Mozarts letztem Lebensjahr in Wien entstanden, hat der Opernregisseur und künstlerische Leiter von New Crowned Hope, Peter Sellars, Künstler aus den unterschiedlichsten Kulturen und Sparten – Musik, Oper, Film, Architektur und bildende Kunst – eingeladen, diese Werke neu zu interpretieren. Das Ergebnis in der Sektion Film ist beeindruckend: Sieben Arbeiten, sechs Spielfilme und ein Kurzfilm, bilden eine Reihe, die sich auf völlig unterschiedliche ästhetische und thematische Weise den drei letzten Musikstücken Mozarts nähert.

Im paraguayischen Film Hamaca Paraguaya von Paz Encina ist es der Rhythmus der Worte, der an eine Totenklage erinnert, so wie es auch in Bahman Ghobadis Niweman der Umgang mit dem Tod ist, der an Mozarts Requiem „anschließt“. In Mahamat-Saleh Harouns Daratt wiederum steht die Einfachheit und Klarheit beziehungsweise das von Mozart in La clemenza di Tito verhandelte Thema der Vergebung und Versöhnung im Mittelpunkt, während der südafrikanische Kurzfilm Sekalli le Meokgo von Teboho Mahlatsi die Zauberflöte als Inspirationsquelle für ein Rache- und Außenseiterdrama verwendet. Und selbst die Beiträge aus Ostasien könnten unterschiedlicher nicht sein: Opera Jawa des indonesischen Regisseurs Garin Nugroho funktioniert als ein den Toten gewidmetes, schaurig-schönes Gamelan-Musical, Tsai Ming-liangs Hei Yan Quan wiederum entdeckt die Zauberflöte in einem an ein Opernhaus erinnernden Betonareal in den Petronas Twin-Towers in Kuala Lumpur, Apichatpong Weerasethakul in Sang sattawat in einem thailändischen Krankenhaus.

Mit einem Wort: Hier geht es weniger darum, auf Mozarts Spuren zu wandeln oder sich in den einzelnen Filmen auf die Suche nach einem Nachlass Mozarts zu begeben, sondern – ja, auch wenn es pathetisch klingen mag, so stimmt es in diesem Fall tatsächlich – einen künstlerischen Geist weiterzudenken, der die Welt in ständiger Bewegung sieht. Das Österreichische Filmmuseum tut dies mit seiner November-Reihe „Notre musique“, in welche die New Crowned Hope-Arbeiten integriert sind: Mehr als 30 Filme legen Zeugnis von einer kraftvollen Bestandsaufnahme des gegenwärtigen Kinos ab, Filme, die die Welt nicht abbilden, sondern befragen. Oder sich überhaupt die Frage stellen: Was ist die Welt?

Hamaca ParaGuaya
Paz Encina

Zuerst sieht es nach einer reinen Idylle aus: Ein Wäldchen, eine Lichtung, eine Hängematte, darauf zwei alte Leutchen, Candida und Ramon,  nebeneinander sitzend. Und irgendwo bellt ein Hund. Die beiden Alten unterhalten sich – über das Wetter, die Zeiten, den fort gegangenen Sohn und den Hund, der einfach nicht aufhören will zu bellen. Die Kamera bleibt starr, die beiden Alten bewegen sich kaum, ihre Stimmen – aber das merkt man im Grunde erst ein paar Einstellungen weiter, wenn die Kamera näher dran ist – kommen aus dem Off.

Was zuerst noch nach Idylle, nach dem beschaulichen abendlichen Zeitvertreib zweier älterer Menschen auf dem Land aussieht, verkehrt sich nach und nach zu einer Momentaufnahme von Sorge und Bedrängnis. Und das, obwohl sich in den Szenen nie etwas verändert: Aufnahmen der Alten in der Hängematte lösen sich ab mit Bildern am Fluss, vorm Haus, im Feld. Aus dem Off fragen die Stimmen, ob der Sohn wohl wieder kommt und wie es ihm geht im Krieg. Der Tonfall ist unaufgeregt, resignativ, aber ohne jede Larmoyanz. Es ist ein ziemlich strenges formales Konzept, das die Regisseurin dem Zuschauer zumutet. Mit jeder weiteren minutenlangen, starren Einstellung strapaziert sie seine Geduld, weil sich immer wieder herausstellt, dass das lange Hinsehen keinen Aufschluss gibt über die eigentliche Geschichte. Was mit dem Sohn im Krieg geschieht, was sich dort abspielt, kann man sich nur andeutungsweise aus den Dialogen aus dem Off zusammensetzen. Das Eigentliche, die historischen als auch die zwischenmenschlichen Ereignisse, bleiben der Sicht stets verborgen, sie spielen sich jenseits des Bildausschnitts ab. Doch der Mangel an direkter Information macht neugierig, und der Mangel an illustrierten Ereignissen lässt Bilder ganz anderer Art im Kopf des Zuschauers entstehen: Der Film wird zur Metapher  eines Zeitgefühls, dessen Haupttätigkeit das Warten ist. So verlässt man das Kino vielleicht ein bisschen ratlos, dafür von unbestimmter Melancholie ergriffen und voller Sympathie für die
beiden traurigen alten Leute. Aber auch genervt vom Hundegebell. Barbara Schweizerhof

„Das Drehbuch für Hamaca Paraguaya war für mich wie eine Musikkomposition; ich versuchte, die gleiche Sorgfalt und Unbewusstheit ins Spiel zu bringen, als ich Noten in Form von Buchstaben auf dem Computerschirm erscheinen ließ. Viertelnoten, Achtelnoten und insbesondere halbe und ganze Noten … und Pausen, lange Pausen. Ich dachte bloß an die Zeit, an den Rhythmus der Worte, daran, wie zwei Menschen in Worten eine Totenklage singen können.“ Paz Encina

Hamaca Paraguaya / Paraguayan Hammock


Frankreich/Argentinien/Niederlande/Paraguay/Österreich/Spanien/Deutschland 2006
Regie, Drehbuch Paz Encina

Kamera Willi Behnisch
Schnitt Miguel Schverdfinger
Mit Georgina Genes, Ramon del Rio, 78 Minuten

 

 

Niwemang
Bahman Ghobadi

Alle bisherigen Filme von Bahman Ghobadi ziehen einen auf bestimmte Art und Weise in ihren Bann: mit ihrer charakteristischen Poetik, der wunderschön fotografierten Landschaft Kurdistans und mit ihrer Menschlichkeit, mit der das kurdische Volk stets gezeichnet ist. Mit A Time for Drunken Horses gewann der iranische Regisseur beim Filmfestival von Cannes 2000 die Goldene Kamera und erhielt den Preis der FIPRESCI – und setzte diesen Erfolg mit Arbeiten wie Marooned in Iraq (2002) and Turtles Can Fly (2004) fort. Nun trägt Ghobadi mit Niwemang seinen Teil zum New Crowned Hope Festival bei.

Einmal mehr tritt Ghobadi dabei eine filmische Reise über Grenzen an. In  Niwemang erinnert er uns jedoch vielleicht noch stärker als in seinen bisherigen Filmen daran, dass diese überschrittenen Grenzen nicht nur jene von Regierungen oder einem Militärregime willkürlich gezogenen nationalstaatlichen sind, sondern auch solche, die das Körperliche vom Geistigen, das Natürliche vom Übernatürlichen und – vielleicht am wichtigsten – das Politische vom Poetischen trennen. Warum sonst wurde und wird auch heute noch in so vielen totalitären Regimes Literatur und Dichtkunst als bedrohlich empfunden? Weil sie von einer menschlichen Wahrheit durchdrungen sind, die von militaristischen Ideologien als gefährlich erachtet und brutal unterdrückt wird.

Niwemag erzählt vom Versuch einer Gruppe kurdischer Musiker, die Grenze in den Irak zu überqueren, um dort ein Konzert zu Feier des Sturzes von Saddam Hussein zu geben, unter dessen Herrschaft ihre Musik verboten war. Der Anführer der Gruppe, Mamo (Ismail Ghaffai), kämpft dabei gegen den Tod: nicht nur unheilvolle Traumbildern, sondern auch gefährliche Grenzposten überwindet er mit aufrichtiger Entschlossenheit, und mit der ihm eigenen Umsicht setzt Ghobadi humoristische Elemente ein, um diese  Momente auf besondere Art und Weise herauszustreichen.

In einem der eindinglichsten Bilder spürt die Gruppe der Musiker eine Sängerin in einem kleinen Dorf auf, das, in den Berghang hineingebaut, von Tausenden Frauen bewohnt wird, die hier im Exil leben. Als eine von ihnen schließlich mit der Gruppe der männlichen Musiker zum Konzert weiterzieht, stellen sich die Frauen in einer Reihe auf und musizieren mit ihren Trommeln: Das Wunderbare nimmt die erhoffte Freiheit vorweg. Michael Guillén

„Mozarts Requiem war für mich die Straße zu diesem Film. Während der Arbeit am Drehbuch und an der Produktion dachte ich ständig an den Tod – Mozarts und Mamos Tod. Für mich hat das Requiem einen starken Bezug zur kurdischen Landschaft. Mir gefiel die Idee, eine kurdische Mozart-Version mit Mamos Figur zu schaffen. Ich hoffe, diesen Traum erfüllt und Mamos Geist Mozart angenähert zu haben.“ Bahman Ghobadi

Niwemang / Half Moon


Iran/Irak/Österreich/Frankreich 2006
Regie, Drehbuch Bahman Ghobadi

Kamera Nigel Block, Crighton Bone
Schnitt Hayedeh Safiyari
Mit Ismail Ghaffari, Allah Morad, Rashtiani, Hedieh Tehrani,
Golshifteh Farahani, Hassan Poorshirazi, 114 Minuten

 

 

Daratt
Mahamat-Saleh Haroun

Ein junger Mann namens Atim bekommt von seinem Großvater eine Pistole als Geschenk. Er soll mit dieser Waffe den Mörder seines Vaters töten, der aufgrund einer Generalamnestie für seine Tat nicht zur Verantwortung gezogen werden kann. Atim findet diesen Mann, doch der ist mittlerweile eine respektierte, sozial engagierte Person geworden, der Atim sogar Arbeit in seiner Bäckerei verschafft. Zwischen den beiden Männern entwickelt sich bald eine merkwürdig ambivalente Beziehung, die sowohl von freundschaftlicher Zuneigung, als auch von permanent vorhandenem, gegenseitigem Misstrauen geprägt ist.

Mahamat-Saleh Haroun, einer der profiliertesten Vertreter des zeitgenössischen afrikanischen Kinos, erzählt mit Daratt eine Geschichte, die – angelehnt an La clemenza di Tito –  charakteristisch für die Lage in seinem Heimatland, dem Tschad ist, aber ebenso stellvertretend für jene zahlreichen Regionen Afrikas stehen kann, welche ebenfalls durch jahrzehntelang andauernde, blutige Bürgerkriege erschüttert wurden und werden. Haben diese Konflikte mit all ihren grauenhaften Verbrechen doch tiefe Spuren und Verletzungen hinterlassen, die das soziale Leben nachhaltig prägen und gesellschaftlichen Zusammenhalt dadurch fast unmöglich erscheinen lassen.

Von diesen Verletzungen und ihren Auswirkungen handelt Harouns Film, erzählt in unprätentiösen, schlichten Bildern von seinen beiden Protagonisten, zwischen denen die düstere Vergangenheit wie eine unsichtbare Mauer zu stehen scheint. Und es ist vor allem die die Unfähigkeit der beiden Männer, diese tragische Vergangenheit auch nur anzusprechen, die dazu führt, dass sie sich, schuldbeladen der eine, von Rachsucht getrieben der andere, nach und nach gegenseitig zu belauern beginnen und auf eine unausweichliche Katastrophe zuzusteuern scheinen. Denn Gewalt, wie der Film in etlichen Sequenzen fast beiläufig, aber umso eindringlicher klar macht, hat im Alltagsleben der Menschen im Tschad eine allgegenwärtige Präsenz. Mit Daratt inszeniert Mahamat-Saleh Haroun ein präzises, schnörkelloses Schuld und Sühne-Drama, dessen zentrale Frage lautet: Kann man sich angesichts ungesühnter, grauenhafter Verbrechen trotzdem für einen Weg der Vergebung und Aussöhnung entscheiden? Jörg Schiffauer

„Nach der ersten Freude und Aufregung begann ich mir bald der Bedeutung dieser Aufgabe klar zu werden. Mozart feiern? Warum nicht. Ich begann, alles über ihn zu lesen, was ich finden konnte, und hörte mir alle im Zusammenhang mit diesem Jubiläum gemachten Aufnahmen an. Eines Tages hatte ich dann, lieber Gott, einen Traum: Ich traf Mozart irgendwo zwischen Himmel und Erde. Natürlich kannte er meinen Namen nicht. Ich sagte ihm, wer ich bin und woher ich komme, und dass es mein größter Wunsch sei, einen Film zu machen, der so einfach wäre wie seine Klaviersonaten.“
Mahamat-Saleh Haroun

Daratt / Dry Season


Frankreich/Belgien/Tschad/Österreich 2006
Regie, Drehbuch Mahamat-Saleh Haroun
Kamera Abraham Haile Biru
Schnitt Marie-Helene Dozo
Mit Ali Bacha Barkai, Youssouf Djaoro, Hisseine Aziza,
93 Minuten

 

 

Sekalli le Meokgo
Teboho Mahlatsi

Woher er gekommen sei, kann niemand mehr genau sagen, weiß die Stimme des Erzählers zu berichten, doch die Kräfte des Stockkämpfers haben ihn zur Legende werden lassen: Aufgezogen von einer alten Heilerin würde seine Magie soweit reichen, dass er seine Feinde mit nur einem Blick als Krüppel zurücklasse, und seine stärkste Waffe sei ein Akkordeon, das ihm die Alte bei ihrem Tod hinterlassen habe.

Sekalli le Meogko ist der einzige Kurzfilm im Rahmen des Festivals, doch die Geschichte, die Teboho Mahlatsi erzählt, ist eine ewige – wie Mozarts Zauberflöte, von der sich der südafrikanische Filmemacher hat inspirieren lassen: Der Stockkämpfer ist der Rächer der armen Schafhirten, die in den Bergen Lesothos ein karges Dasein fristen und von einer räuberischen Reiterschar terrorisiert werden. Doch eine schöne, geheimnisvolle Frau, eine Tochter der Königin der Nacht, stürzt ihn beinahe ins Verderben.

Dass der einsame Kämpfer wie weiland Tamino einer Entführten nachjagt und am Ende mit einem Musikinstrument den entscheidenden Sieg davonträgt, mag angesichts der Inspirationsquelle wichtiger erscheinen als es tatsächlich ist (und auch in Sekalli le Meogko ist mit einem Dolch kein Leben zu beenden). Deutlich an Topoi und Bildern des Westerngenres orientiert, interessiert sich Teboho Mahlatsi nämlich in erster Linie für die archaische Erzählung, für den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse und die Möglichkeiten, dieser Konfrontation durch „reine“ filmische Mittel –Rhythmussprünge, ausgewaschene Bilder und stilisierte Einstellungen – eine entsprechend ausdrucksstarke Form zu verleihen. Sekalli le Meogko handelt aber auch von der fehlenden Akzeptanz gegenüber Außenseitern und von vorgefertigten Rollenbildern, womit sich der Bogen zur Zauberflöte – sozusagen über die Hinterbühne – wieder schließt. Michael Pekler

„Obwohl mir klar war, dass ich mich für New Crowned Hope nicht spezifisch auf Mozart beziehen musste, wollte ich mich selbst herausfordern, indem ich einige seiner Themen aufgriff. Mich zogen die Zauberflöte und das Leid der Tochter der Königin der Nacht an, die von einem bösen Zauberer gefangen gehalten wird, und natürlich der schöne Prinz, der sie zu retten versucht. Ich meinte, daraus etwas Interessantes machen zu können, indem ich das Thema in eine afrikanische Landschaft übertrug, mit traditionellen Mythen und Geschichten, mit denen ich aufgewachsen bin.“ Teboho Mahlatsi

Sekalli le Meokgo / Meokgo and the Stickfighter


Südafrika/Österreich 2006
Regie, Drehbuch Teboho Mahlatsi
Kamera Robert Malpage
Schnitt Andrew Trail
Musik Philip Miller
Mit Mduduzi Mabaso, Terry Pheto,
16 Minuten

 

 

Opera Jawa
Garin Nugroho

Garin Nugrohos Opera Jawa ist vermutlich der eigenwilligste Film der Festivalreihe, oder jedenfalls bildet man sich das ein, wenn man sich die Farb- und  Fabulierleistung des Films vor Augen hält. Seine besondere Stellung erfährt Opera Jawa zunächst einmal dadurch, dass er sich der gewöhnlichen Form der Kategorisierung zu entziehen scheint. Natürlich, er könnte ein Musical sein, zumindest unter dem Aspekt, dass die Liebesgeschichte, die der indonesische Regisseur Nugroho erzählt – sofern es sich hier um eine Erzählung in herkömmlichem Sinn handelt – als Gesang vorgetragen und mit Tanzeinlagen begleitet wird. Die Grundlage für Opera Jawa bildet die Geschichte von Sitas Entführung, eine Erzählung aus dem klassischen Werk  südostasiatischer Literatur, dem so genannten Ramayana: Es ist die Geschichte einer Frau zwischen zwei Männern einer verhängnisvollen, alle Beteiligten in den Abgrund ziehenden Dreiecksbeziehung.

Das Ehepaar Setio und Siti betreibt Töpferei, doch als Setio die Stadt verlassen muss (wunderbar der Chor als Einflüsterer in der Fremde!), nützt der Händler Ludiro die Gelegenheit, um die schöne Frau zu entführen. Liebe, Gewalt, Hass und Bewusstwerdung des eigenen Daseins – was sich so leicht aufzählen lässt, wird hier zu einem einzigen Rausch, der den Film förmlich mit und vor sich her trägt. Und irgendwann meint sich tatsächlich in einem Schwebezustand zu befinden, getragen oder eigentlich: betört von der Gamelan-Musik, den javanischen Liedern und Tänzen.

Opera Jawa gelingt dabei eine der schönsten Verbindungen zu Mozart. Das Requiem ist das letzte Werk des Komponisten, doch Nugroho geht es nicht um eine thematische oder motivische Herleitung, sondern seine Inspiration ist vielmehr die eines Ausnahmezustands. Im Abspann ist eine Widmung an jene Menschen zu lesen, die der Gewalt und den Naturkatastrophen auf der Insel zum Opfer gefallen sind. Das Dies irae spricht viele Sprachen, und Nugroho hat dafür eine besonders eindringliche gefunden. Michael Pekler

„Dieser Film ist ein Requiem, das in einer Kombination von Gamelan-Musik, javanischen Liedern (Tembang), Tanz, Kostümen, Schauspiel, bildender Kunst und Installationen dargeboten wird. Inspiriert ist er durch die javanische Kultur, die inmitten multikultureller Ausdrucksformen wächst und sich entwickelt. Es ist ein Requiem des durch Katastrophen, Konflikte, Ängste ausgelösten Leides und der Klage über das überall auf der Welt vergossenen Blut.“ Garin Nugroho

Opera Jawa


Indonesien/Österreich 2006
Regie Garin Nugroho
Drehbuch Garin Nugroho, Armantono
Kamera Teoh Gay Hian
Schnitt Andhy Pulung
Musik Philip Miller
Mit Artika Sari Devi, Martinus Miroto, Eko Supriyanto
120 Minuten

 

 

Hei Yan Quan
Tsai Ming-liang

Anlässlich des Screenings von Hei Yan Quan im Rahmen des Toronto International Filmfestivals konfrontierte ich Tsai Ming-liang mit einer Passage aus Milan Kunderas Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, in der es heißt, dass man mit der Person, die man liebt, zwar keinen Sex hat, aber stattdessen mit dieser Person schläft. Was bei Tsai Überraschung auslöste, steht doch in Hei Yan Quan ausgerechnet eine Matratze als  metaphorischer Platz für bedingungsloses Vertrauen.

Hsiao Kang (Lee Kang-sheng), mitten in Kuala Lumpur überfallen und ausgeraubt, findet Zuflucht bei Rawang, einem  Arbeiter aus Bangladesh, der ihn bei sich aufnimmt und ihm eine alte Matratze als Schlafstelle anbietet. Während Hsiao Kang von Rawang gesund gepflegt wird, entsteht zwischen den beiden Männern eine Beziehung, die gerade wegen der Aussparung von Sexualität an Tiefe gewinnt. Die dennoch vorhandene erotische Komponente folgt dabei der ursprünglichen Definition des Begriffs Eros als jene Kraft, die Individuen komplett aneinander zu binden vermag.

Komplettiert wird das erotische Dreieck durch die Coffee Shop-Serviererin Chyi, die sich nebenbei auch noch um den gelähmten Sohn (ebenfalls Lee Kang-sheng) ihres Chefs kümmern muss. Lee Kang-shengs Doppelrolle legt die Möglichkeit nahe, dass die sonstige Handlung des Films lediglich ein Traum des gelähmten Mannes sei, eine Deutung, die aufgrund Tsais Auseinandersetzung mit dem Philosophen Tzoang Tzu plausibel erscheint. Im Mittelpunkt steht dabei jener Traum Tzoang Tzus, in welchem er meint, ein Schmetterling zu sein, um sich gleich nach dem Aufwachen die Frage zu stellen, ob er geträumt habe, ein Schmetterling zu sein oder ob er vielmehr ein Schmetterling sei, der träumt, er sei Tzoang Tzu. Verweisen doch beide Möglichkeiten auf ein universelles, wechselseitiges Zusammenhängen aller Dinge.

Nach seiner Rückkehr in seine Heimat Malaysia setzte sich Tsai mit der Notlage dortiger Gastarbeiter auseinander, die, nach der Einstellung einiger staatlicher Bauprojekte, weitgehend sich selbst überlassen ihr Auskommen finden mussten. Tsai identifizierte sich mit diesen Arbeitern, betrachtete sich selbst als ruhe- und heimatlosen Wanderer; nicht unähnlich Mozart, den Tsai als die „ruhelose Seele“ der Zauberflöte ansieht.

Hei Yan Quan ist Tsais bislang privatester Film, der nur wenig von seinem üblichen Humor aufweist und auch bloß einen Hauch jener explizit gespielten Sexualität hat, die Tian bian yi duo yun (The Wayward Cloud) so unterhaltsam und zugleich verstörend machte. Tsais neuer Film hingegen zeigt, welche Schönheit Momente bedingungsloser Zärtlichkeit entfalten können. Michael Guillén

„Zum ersten Mal habe ich in meinem Heimatland Malaysia gedreht. Wir entdeckten einen bemerkenswerten Drehort, ein großes, verlassenes Gebäude in Kuala Lumpur. Als wir es betraten, waren wir überrascht von der Großartigkeit des Innenraums – fast wie ein postmodernes Opernhaus. In der Mitte fanden wir ein tiefes Becken mit dunklem Wasser. Ich musste an Mozarts Zauberflöte denken. Prinz, Prinzessin, Geister und Ungeheuer könnten in diesem Betondschungel eine neue Bühne finden.“ Tsai Ming-liang

Hei yan quan / I don’t Want to Sleep Alone


Taiwan/Frankreich/Österreich 2006
Regie, Drehbuch Tsai Ming-liang

Kamera Liao Pen-jung
Schnitt Chen Sheng-chang
Mit Lee Kang-sheng, Chen Siang-chyi,
Norman Bin Atun, Lee Long-yu,
115 Minuten

 

 

Sang Sattawat
Apichatpong Weerasethakul

Was hat Mozart mit dem Alltag in einem thailändischen Krankenhaus zu tun? Was macht den 36-jährigen Filmemacher Apichatpong Weerasethakul zu einem Geistesverwandten Mozarts? Sind es die Garten- und Waldszenen der Zauberflöte, die in Weerasethakuls Tableaus eines inmitten grüner Wiesen gelegenen Provinzspitals nachhallen, wie Katja Nicodemus in der Zeit schreibt? Lässt sich in den Gesprächen zwischen Ärztin und Verehrer das Liebesgeflüster von Mozartopern nachhorchen? Oder gilt es in Weerasethakuls von der Idee der Seelenwanderung getragenem Film die Spiritualität Mozarts später Werke zu entdecken?

Mit freier Assoziation könnte man Mozart an jeder Straßenecke zwischen Bangkok und Kufstein klingen hören. Was an Sang Sattawat viel interessanter ist, sind seine Unterschiede zu den gewohnten filmischen Erzählsprachen: Mit unerhörter Einfachheit und ausgeprägtem Rhythmusgefühl sprengt Weerasethakul nicht nur die Hermeneutik des Kinos; ihm gelingt auch ein Kunststück, das einem David Copperfield ein Lebtag nicht gelingen wird: Magie zu erzeugen.

Sang sattawat ist von jener kompositorischen Strenge, die schon Sud pralad (Tropical Malady) ausgezeichnet hat – eine Liebesgeschichte zweier junger Männer, die sich im zweiten Teil zu einem erratischen Dschungelmärchen wandelt. Das trug Weerasethakul den Jurypreis von Cannes ein und das Interesse von Peter Sellars. Dieser schätzt die Offenheit des Regisseurs in homosexuellen Fragen, in Thailand noch immer ein Tabuthema.

Weerasethakuls Eltern waren Ärzte und lebten in einem Krankenhaus in der thailändischen Provinz. Kindheitserinnerungen sind also der Ausgangspunkt seines Films, der jeder Figur so viel Raum lässt, wie sie für ihre jeweilige Schmerzensgeschichte braucht. Déjà-vu-Erlebnisse zwischen Mythen und Moderne, zwischen Natur und Technik und – insofern Sud pralad nicht unähnlich – einen Zeitluxus der schönsten Einstellungen beschert Sang sattawat den Zuschauern. Ob das auch Mozart gefallen hätte, ist ziemlich egal. Roman Scheiber

„Sang Sattawat ist ein Film, der sich mit der Art und Weise befasst, in der wir uns erinnern, wie ein Glücksgefühl durch scheinbar unbedeutende Dinge ausgelöst werden kann. Ich versuche darin, das Leben meiner Eltern vor meiner Geburt nachzustellen, und das umfasst auch die Leben jener Menschen, die mich in der Gegenwart berührt haben.“ Apichatpong Weerasethakul

Sang Sattawat / Syndromes and a Century


Thailand/Österreich/Frankreich 2006
Regie, Drehbuch Apichatpong Weerasethakul
Kamera Sayombhu Mukdeeprom
Schnitt Lee Chatametikool
Mit Nantarat Sawaddikul, Jaruchai Iamaram,
Sophon Pukanok, Jenjira Pongpas, Arkanae Cherkam,
105 Minuten