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Ex Voto

Erich Langjahr

Nonnen im Wind

| Fred Zaugg |
Das Stadtkino Basel würdigt im Oktober den großen Schweizer Dokumentaristen Erich Langjahr – ein Porträt.

Oft genügt ein Bild, ein einziges Bild. Filme bestehen ja aus Tausenden von Bildern; aber es gibt solche, die schon durch eine einzige aus der reichen  Ganzheit gelöste Aufnahme geweckt werden und in unserer Erinnerung zu laufen beginnen. Wenn fünf Nonnen an einem steilen, sich fast zu einer Art Arena rundenden Hang ihr Heu ernten, leuchtet ungeschrieben der Titel Ex Voto auf, und Erich Langjahr öffnet seine Welt, die zwar kleine, jedoch bunte Welt der Innerschweiz. Letzte Erntereste zusammenrechend und flatternd in weiten Kutten und starkem Wind, sind die fünf Nonnen seit 1986 über viele Jahre Boten eines ganz besonderen Dokumentarfilms und Zeugen jenes Gelübdes des Autors, das mit Ex Voto gemeint ist und erfüllt wird.

Erich Langjahr, geboren 1944 in Baar im Innerschweizer Kanton Zug, schrieb einst zu seinem Film: „Mit diesem Werk löse ich mein Versprechen ein, die Landschaft meiner Jugend zu filmen.“ Dieses Versprechen ist ein Gelübde, das in die siebziger Jahre zurückgeht und seinen Ursprung wohl in Erich Langjahrs erstem langen Dokumentarfilm Morgarten findet statt hat. Er hatte bereits ein halbes Dutzend Kurzfilme gedreht, als er 1978 zum Jubiläum der Schlacht von Morgarten den historisch begründeten, jedoch Gegenwart kritisch spiegelnden Schlachtfilm schuf. Es hat einmal stattgefunden, das für die Schweiz prägende blutige Ereignis, und es fand wieder statt als Fest und Symbol der Freiheit. Und es wird weiter stattfinden, erinnernd in der Gegenwart und weisend in die Zukunft – als kritisch zu betrachtender Anlass, in dem Geschichte verarbeitet werden darf, kann, ja muss.

Zum Ex Voto-Gelübde noch einmal ein Langjahr-Zitat: «Im Verstehenwollen der komplexen Kulturverhältnisse der Innerschweiz wollte ich mit dem Film ergründen, wer ich bin und welche Einflüsse mich geprägt haben. In der Fortsetzung der Betrachtung meiner Heimat hatte ich das Bedürfnis, dem Elementaren des Lebens und Überlebens näher zu kommen. Das könnte langweilig sein, ein egozentrischer Trip. Ist es aber nicht, denn da zieht ein Schauender mit seiner Kamera auf einem Stockstativ durch sein Land und nimmt alles auf, was ihm begegnet. Während dieser Arbeit sei ihm klar geworden, dass der Film eine Besinnung und Antwort auf seine geistigen und seelischen Bedürfnisse sei. Wichtig ist dabei seine Erkenntnis, dass seine elementaren Begegnungen und Empfindungen offenbar bei den Mitmenschen nicht anders sind. Darin ist Langjahrs Liebe zum Film begründet, seinem lebenslang  eingesetzten Werkzeug des Zeigens und Vermittelns.

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Ex Voto ist für mich das Schlüsselwerk zu Langjahrs umfangreichem Schaffen, ein Dokumentarfilm, der ein Lebenswerk erschließt, denn alle seine späteren Filme sind mit Ex Voto verbunden und können als eine Art von Filmgedichten in ihrer Unverwechselbarkeit wie ein großes Ganzes betrachtet werden, was durchaus treffend ist, jedoch nur einer Betrachtung von außen entspricht. Erich Langjahr hat das Ex Voto-Projekt als Haus skizziert, als siebengeschoßiges mit je vier Zimmern, Sälen, Gärten, Feldern oder Gruben und Abbruchplätzen, selbst für die alte Kirche. In all den 28 Räumen ist Begegnung und Leben in Strophen und mit unterschiedlichen Rhythmen, in allen ist die Freiheit des Unterwegsseins und des Schauens zuhause. Es sind die Nonnen, es ist der alte Bauer Jäggi mit seinem Birnbaum und die uns durch den Film begleitende Frau Hegglin, singend, musizierend und metzgend. Langjahr schreibt über die Skizze, seinen cineastischen Bauplan: Ein Filmgedicht.

Man könnte ihn deshalb Romantikernennen, nicht bloß in literarischer, sondern in jener das ganze Leben und die Welt im Kleinen wie im Großen umfassenden Form. Rund zehn abendfüllende Filme gibt es zu erwähnen und zu betrachten, beziehungsweise in ihren diversen Dimensionen und Themen aufzunehmen, um Erich Langjahr kennenzulernen. Gehen wir chronologisch vor, folgt auf Ex Voto 1990 der politische und vor allem historisch datierte Film Männer im Ring: Am 30. April 1989 nahmen die Appenzeller des Halbkantons Ausserrhoden, die Männer, das Frauenstimm- und -wahlrecht in kantonalen Angelegenheiten an, knapp zwar, aber gültig. Langjahr legt weder eine Berichterstattung noch eine Chronik oder Reportage vor, sondern einen Dialog, ein Gespräch mit Zuschauerinnen und Zuschauern, Neugierigen und Betroffenen, die als starke Persönlichkeiten ihre Meinung vertreten und damit preisgeben. Es geht um Tradition und Wandlung, um Erhalten oder Verändern und wieder um Heimat und Identität und somit um die schweizerische Situation der Einzelnen am Ende des Jahrhunderts: das Ja mit erhobener Hand.

Erich Langjahr lässt sich berühren und versucht, die Angst vor einem Identitätsverlust zu verstehen und das Suchen nach einem Weg in die Zukunft und nach einem neuen Glauben an eine lebendige Heimat. In Appenzell-Ausserrhoden auf dem sogenannten Ring von Hundwil spielte sich der letzte Vatertag ab. Dass das ganze politische Ereignis getragen ist vom engen Bezug des Filmautors zur Landschaft mit eigentlich heroischen und schützend verwobenen Formationen und andererseits Ausblicken, Engen und Höhen, die zu vitalen Charakteren werden, die immer wieder viel zu sagen haben und Wege in alle Richtungen öffnen.

1996 beginnt Erich Langjahr mit der Sennen-Ballade ein weit auslotendes und genau treffendes Hauptwerk. Thema bleiben seine Mitmenschen, ja ist das ganze Leben und das zu seiner Entwicklung notwendige Werkzeug zu handwerklichem Können und vertrautem, tief verwurzeltem Tun in der geerbten Tradition und einer Gegenwart, die Überliefertes wach hält. Wie lange noch? Zur Sennen-Ballade fügt der Bildfinder und Engagement- oder Tatvermittler die Filme Bauernkrieg 1998 und Hirtenreise ins dritte Jahrtausend 2002 zu einer Trilogie. Diese wächst schließlich mit der Verdichtung (auch poetischer Art) und präzisen Zusammenfassung Das Erbe der Bergler vier Jahre später zum Tetraptychon. Damit fasst Erich Langjahr definitiv Fuß im neuen Jahrtausend.

Das Publikum wird aufgefordert, nein, eingeladen, mitzugehen, mitzutun bei der politischen Demonstration auf dem Bundesplatz von Bern, zu zeigen, dass die Landwirtschaft in ihren unterschiedlichsten Formen nicht blo für das Muotathal, sondern für die ganze Schweiz, ja Welt dazu gehört – im Grunde genommen gerade heute von allen ein Gelübde fordernd. Erich Langjahr hat gelobt, die Landschaft seiner Jugend zu filmen und zu vermitteln. Sollten wir nicht ein Gleiches tun?

Wir lernen, wie man das Heu in steilem Gebiet zu Ballen bindet und in den Schober trägt oder abseilt und später im Winter mit dem Schlitten ins Tal fährt. Kraft braucht es. Und Liebe mit viel Toleranz, wenn es darum geht, die Hirtenreise zu retten und die große Schafherde durch die bedrohliche Gegenwart zu leiten, bevor lange Lastwagenkonvois die Tiere zum wertvollen, das heißt noch gesunden Gras und Kraut transportieren. Erich Langjahr meint nicht, wir müssten Hirten und Heuer werden oder gar dazu noch Blockhäuser bauen wie Märtel Schindler, dessen wachsendes Werk am Rigi Alphütte genannt wird. Wir sind in Mein erster Berg, ein Rigi Film (2012). Es ist ein Ich-Film, ein Film zwischen Langjahrs Kindheit und dem nahenden Alter oder zwischen der mächtigen Antenne und den von Märtel Schindler liebevoll behandelten und zur Wand gefügten Baubaumstämmen oder zwischen einem uralten Handwerken und dem Wellness-Projekt von Mario Botta oder zwischen der riesigen Fahne und dem Fels, auf dem sie liegt. Man könnte damit die Würdigung von Langjahrs Schaffen beenden, doch da gibt es noch diesen anderen Beginn:

Geburt (2009) von Silvia Haselbeck und Erich Langjahr, ein Film des Anfangs, ein Film des Werdens und der Öffnung, des Einstiegs in das Leben und in die Sinne, in die Gemeinschaft und das persönliche, das einmalige, einzigartige Sein. Man spricht schon lange vom Wunder der Geburt. Zusammen mit den werdenden Müttern und Menschen, beziehungsweise Menschlein, wird uns hier auf behutsame, bestimmte und klare Weise der Weg in die Welt gezeigt. Getragen wird der Film Geburt vom Vertrauen, mit dem die Mütter, aber auch die Väter und die Hebammen den Filmschaffenden begegnen.

Die Ehrfurcht vor dem Leben, wie sie Albert Schweitzer immer dachte und forderte, wird in einer Zeit der Effekthascherei und des verantwortungslosen Umgangs mit den Menschenrechten in Erinnerung gerufen als eine große Aufgabe, oder – um mit Langjahr zu sprechen – als ein Gelübde, ein letztlich für uns alle gültiges Gelübde. Eigentlich ist Silvia Haselbeck, die 1964 in Langenthal im Kanton Bern geborene Ehefrau und Arbeitspartnerin, seit 1986 in seinem Schaffen immer dabei. Diesmal zeichnet das Paar gemeinsam verantwortlich, für die wichtigsten Sparten wie Buch, Regie, Kamera, Schnitt und Texte. Auch wenn Erich Langjahr in seinen Filmen manchmal als Einzelgänger gewirkt hat, war seine Frau stets präsent, schließlich als Mitglied der Schweizer Filmakademie seit 2007 sogar schweizweit. Im Film Geburt ist Silvia Haselbeck als einst Getragene, Geborene, Empfangende, Erwartende, Gebärende und Mutter von zwei Söhnen, immer etwas näher am Werden und Wachsen, als wir Männer es je sein können. Nicht nur als Filmschaffender, sondern als Vater trägt Erich Langjahr Geburt mit, ein wichtiger Film in der umfangreichen Filmografie und ein großes Werk einer kleinen Crew, eines Familienteams.

Es bleiben zwei Werke zu entdecken: Im Film Für eine schöne Welt von 2016 wird das Publikum zum Wirken und zum Werk der beiden Künstler Gottfried Honegger und Kurt Sigrist geführt, die mit ihrer Kreativität und je gestalteten Eigenwelt zu einer bewegenden Begegnung werden. Die Langzeitdoku Das Rössli, die Seele eines Dorfes von 2019 erzählt von der Rettung des bedrohten Gasthofs von Root mit Baujahr 1751 ganz in der Nähe von Langjahrs Wohnung. Die Seele des Gebäudes aus alter Zeit logiert sich in der Beobachtung der Gegenwart ein, seine Erhaltung wird Lebensausdruck. Silvia Haselbeck und Erich Langjahr vermitteln stets Bilder, die für einen ganzen Film stehen können, gesuchte, gefundene, geformte Szenen, die Liebe zur Schöpfung und zum Sein enthalten – als Gelübde und Verpflichtung.