ray Filmmagazin » Interview » Ode an eine Geisterstadt

Ode an eine Geisterstadt – Interview Rati Oneli

Ode an eine Geisterstadt

| Ruslana Berndl |

Der georgische Filmemacher Rati Oneli war beim Crossing Europe Filmfestival in Linz zu Gast. Ein Gespräch über seinen Film „City of the Sun“, über die Bedeutung des Tons, und über Intuition im georgischen Kino.

Rati Oneli wurde 1977 in Tiflis geboren. Er widmete sich dem Studium des Nahen Ostens und der Internationalen Beziehungen an der Universität von Tiflis und an der Columbia University in New York, wo er auch lebte. 2012 kehrte er nach Georgien zurück, um seinen Dokumentarfilm City of the Sun (Mzis qalaqi) vorzubereiten. Derzeit arbeitet er an seinem Doktorat an der European Graduate School. 2014 produzierte er Dea Kulumbegashvilis Kurzfilm Invisible Spaces, der beim Festival in Cannes Premiere hatte, ebenso wie 2016 ihr zweiter Kurzfilm Lethe.

In City of the Sun geht es um die westgeorgische Stadt Tschiatura, in deren Minen einst bis zu 50 Prozent der weltweiten Manganproduktion gefördert wurden. Heute wirkt der Ort wie eine Geisterstadt. Rati Oneli porträtiert einige der verbliebenen Einwohner: Musiklehrer Zurab zerlegt marode Betonbauten, um mit den Eisenträgern ein Zubrot zu verdienen. Archil arbeitet noch im Bergwerk, seine Leidenschaft gilt jedoch einer Laientheatergruppe. Zwei junge Athletinnen trainieren für die nächsten Olympischen Spiele. In seinem Debütfilm gibt der Regisseur faszinierende Einblicke in einen Lebensraum, dessen düstere Industrieruinen gewaltig und kulissenhaft zugleich wirken.

 

 



 


Wie sind Sie zum Kino gekommen?

Ich wollte zuerst Schriftsteller werden, aber meine Eltern haben diese Wahl nicht verstanden. Mein Vater war Ingenieur und meine Mutter Ärztin. Ich habe dann Nahost-Wissenschaften studiert, bis zum Doktorat in Philosophie, das ich fast fertig habe.

 

Es ist Ihr erster langer Dokumentarfilm.

Ja, es ist mein erster Film. Aber ich habe vor zehn Jahren einen kurzen Film gemacht. Ich hatte vor, nach Cambridge zu gehen, aber in dieser Zeit habe ich begriffen, dass ich Filme machen möchte.

 

Wie lange haben Sie für „City of the Sun“ recherchiert?

Ich habe meine Recherche 2012 angefangen, und sie hat bis 2014 gedauert. In der Zeit war ich auch in New York.

 

Sie haben beim Publikumsgespräch in Linz erklärt, ein Dokumentarfilm könne nicht objektiv sein. Können Sie das kurz erläutern?

Wenn jemand einen Film macht, der auf seinen eigenen Eindrücken basiert, kann das keinen Anspruch auf Objektivität haben. Nehmen wir zum Beispiel Nanook of the North (1922) von Robert Flaherty, der ja oft als Musterbeispiel des „reinen“ Dokumentarfilms herangezogen wird. Wir wissen heute, dass Flaherty sein ganzes Material bei einem Feuer verloren hat und er alles nachinszenieren musste. Was aber viel wichtiger ist, ist, dass wir seine Vision der Wahrheit verstehen.

 

Welche Vision wollten Sie erzählen?

Wir alle haben einen sehr perversen Sinn dafür, was Schönheit ist. Wenn Sie zum Beispiel Filme über die großen Katastrophen wie Tschernobyl oder Hiroshima usw. nehmen, die sind oft sehr schön. Ich wollte die Macht der Natur über diese menschliche Katastrophe, über diese tote Stadt zeigen.

 

Wie sehen Sie persönlich die Stimmung Ihrer Hauptfiguren oder der Menschen, die dort leben?

Es sind jedenfalls Menschen, die kein Mitleid brauchen.

 

Sie haben gemeint, Ihr Film sei keine „beobachtende Dokumentation“ …

Ja, denn wenn man bloß beobachtet, ist man nicht Teil von etwas. Ich wollte aber, dass dieser Film mitten im Leben dieser Menschen ist.

 

Leben Ihre Protagonisten noch nach der georgischen Tradition?

Ja, ich denke, dass sie mit den Traditionen leben, obwohl sich mit dem Ende der Sowjetunion vieles geändert hat. Als ich dort lebte, hatte ich das Gefühl, dass die Zeit stehengeblieben ist. Während der drei Jahre habe ich so viel erlebt und fühlte mich schon wie ein Verwandter. Aber manchmal ist das, was wir Tradition nennen, nur eine Anzahl künstlicher Rituale, die uns eingeredet wurden, zum Beispiel von der Wirtschaft. Wir begreifen gar nicht, dass das nicht Teil unserer alten Sitten ist. Zum Beispiel hatten wir in vorsowjetischer Zeit bestimmte Trinksprüche. Als wir auf einmal in der Sowjetunion waren, gab es plötzlich neue, und allmählich haben wir gelernt, diese neuen Sprüche für unsere „Tradition“ zu halten. Es gibt Dinge, die nicht sichtbar sind, aber ein Teil unseres Geistes. Sie bestehen zwischen den Zeilen.

 

Was denken Sie, in welcher Zeit leben Ihre Hauptfiguren leben? Ist es noch die „sowjetische“ Zeit oder doch schon die postsowjetische?

Für mich ist dieser Ort wie eine Insel. Er ist völlig unzeitgemäß, als ob die Zeit stehengeblieben wäre. Man hat hier kein Gefühl dafür, dass die Zeit vergeht. Das zu verstehen, ist sehr wichtig. Während der drei Jahre, die ich dort war, beobachtete ich das Geschehen in einer Art buddhistischer Tradition, sehr meditativ. Das geht, selbst wenn Sie keine Meditationstechniken kennen. Wenn Sie ruhig genug sind und sich gut konzentrieren und entspannen, so kann es Sie „wegtreiben“, und es kann sich eine neue Realität öffnen. Das ist aber ein physisches Phänomen, es ist nichts Magisches. Es öffnet sich, weil Sie tief in sich gehen und einige Wahrheiten finden, die Sie durch Beobachtung nie finden konnten.

 

Können Sie etwas zum Rhythmus des Films sagen, der sehr eigenwillig ist?

Ich hatte eine ganz genaue Idee für das Tempo des Films. Was wir vorschwebte, war eine Art „Überwachungskamera“. Denn wenn man hundert Menschen zusammenbringt, sieht jeder von ihnen etwas Anderes. Die Überwachungskamera jedoch dokumentiert alles, ohne zu interpretieren.

 

Wie würden Sie selber Ihren Dokumentarfilm bezeichnen?

Vielleicht könnte man ihn „impressionistisch“ nennen, weil er auf meinen eigenen Gefühlen basiert, aber das hat nichts mit der gleichnamigen künstlerischen Bewegung zu tun.

 

Und er ist eine Hommage an die Stadt, richtig?

Ja, er ist eine Ode an die Stadt, an die Menschen, die mich in ihr Leben gelassen haben und jetzt auch ein Teil meines Lebens geworden sind. Ich bin als eine Person gekommen und völlig verändert wieder hinausgegangen. Ich habe mich danach erfüllter und stabiler gefühlt.

 

War es am Anfang schwierig, Zugang zu den Menschen zu finden?

Ich war am Anfang sehr behutsam und fast ängstlich, den ersten Schritt zum Filmen zu machen. Ich hatte eine vorgefasste Vision dessen, wie ich meinen Film machen wollte. Ich war besorgt, wie ich verstanden werde, und ob ich sie verstehen würde. Ich habe niemanden dort gekannt. Ich hatte eine genaue Idee für das Tempo, das ich meinem Film geben möchte, auch für die Länge der Filmsequenzen.

 

Haben Sie ein Casting gemacht, um Ihre Hauptfiguren zu finden?

Ja, und ich hatte einige Bedenken. Meine Frage war: Was kommt am Ende heraus? Ich habe etwa 300 Menschen getroffen.

 

Wie viele Menschen leben noch in Tschiatura?

Heute leben 18.000 Einwohner dort, aber früher waren es 80.000. Und fast die Hälfte der Einwohner ist in den Bergbaubetrieben beschäftigt. Vor der sowjetischen Zeit war Tschiatura eine sehr lebhafte kulturelle und akademische Stadt. Jetzt gibt es dort fast nur Minen. Aber Georgien liefert immer noch 40 Prozent des Mangans weltweit, und es gibt eine Studie, die sagt, dass der größte Teil des verbliebenen Mangans unter der Stadt liegt. Wollte man das fördern, müsste man wohl die ganze Stadt zerstören.

Wie haben Sie Archil gefunden?

Archil habe ich gefunden, weil ich eine Fernsehsendung über ihn gesehen habe. Er lebt im Theater und arbeitet im Bergwerk. Er kommt oft viele Tage nicht nach Hause.

Sie zeigen wiederholt zwei Schwestern, die für die Laufbewerbe bei Olympia trainieren. Man erfährt aber nicht sehr viel von ihnen.

Ich war in der Stadt spazieren und habe den Trainer gehört, der mit ihnen schreit, der sie an ihre Grenzen pusht, und ich habe mit dem Trainer gesprochen, aber sehr selten direkt mit den Mädchen, weil ich ihre Geschichten kannte, dass sie traumatisiert wurden. Ich fand, dass es nicht richtig ist, das in meinem Film darzustellen. Aber ich habe versucht, ihnen mit der Lebensmittelversorgung zu helfen. Es ist traurig, dass sie nicht für Olympia ausgewählt wurden, obwohl sie immer die ersten zwei Plätze bei der nationalen Meisterschaft belegen, aber leider gibt es bei uns zu viel Korruption.

 

Können Sie ein wenig Ihre Auffassung erklären, dass der Ton wichtiger als das Bild ist?

Wenn ich auf einen der Gründe zurückkomme, warum ich Nahoststudien wählte, war es wegen der Töne, die ich im Fernsehen gehört hatte. Ich mochte den Klang der Sprachen, ohne zu wissen, was es war. In der Sowjetunion hatten wir nur einen Kanal, und ich hörte jeden Tag, als ich zehn Jahre alt war, über Gaza, und sie sagten immer diese Worte wie Hisbollah, Libanon usw. Für mich waren das magische Wörter, die mich zu einem Abenteuer einluden, ich war auch ein gefräßiger Leser, ich las alles. Es war großartig. Außerdem glaube ich, ich bin einfach sprachbegabt.

 

Spielen Sie auch ein Musikinstrument?

Ich studierte auch Klavier. Meine Mutter hat mich da sehr angetrieben. Jetzt mag ich die Idee, Klavier zu spielen, damals wollte ich nur im Hof Fußball spielen. Lacht.

 

Der georgische Film hat eine reiche Tradition. Haben Sie so etwas wie Vorbilder?

Ich bin wirklich in alte georgische Filme aus den sechziger und siebziger Jahren verliebt. Das war die echte Hochblüte des georgischen Kinos: Otar Iosseliani, Tengis Abuladse, Giorgi Schengelaia, usw. Ich denke, es liegt uns im Blut, die Welt im magischen Realismus zu sehen. Es gab diverse Schulen in der Sowjetunion, wie z.B. die VGIK in Moskau, wo das russische Kino unterrichtet wurde. Es gab eine ukrainische Schule, wo das ukrainische Kino unterrichtet wurde. Und das georgische Kino war einzigartig, es hatte eine tragikomische Sicht der Welt. Es ist ein wenig überhöht gegenüber der Komödie. Vielleicht ist es deshalb ein wenig surrealistisch, aber sehr wahr. Aber es gibt auch Missverständnisse, wenn zum Beispiel jemand Schengelaia sieht und sagt, das sei wie Terry Gilliam. Das ist Blödsinn. Es hat nichts mit Gilliams intellektueller Art und Weise zu tun, eine Geschichte zu erzählen.

Ich glaube, es war Spinoza, der gesagt hat, dass es drei Erkenntnisarten im menschlichen Bewusstsein gibt. Die elementare oder die Basis ist die Einbildungskraft, das haben auch Kinder, das ist nicht Spezielles, der zweithöhere Grad ist der Intellekt, und wenige Menschen können dieses Niveau erreichen und die Welt durch eine intellektuelle Linse analysieren. Und die höchste Form des Bewusstseins ist, insbesondere für Künstler, die Intuition. Und was ich bei diesen georgischen Filmemachern schätze, ist, dass sie sich auf dieser dritten Stufe bewegen, der Intuition.

 

Otar Iosseliani zum Beispiel …

Ja, absolut. Für mich ist Iosseliani Intuition. Bei ihm ist es sogar eine Form der Poesie, wenn ein Lastwagen in seinem Film fährt und der Staub aufsteigt. Wie Tarkowskij einmal sagte: Es gibt auch triviale Formen der Poesie. Und ich denke, dass es eine riesige unentdeckte Vergangenheit des georgischen Kinos gibt, die droht, vergessen zu werden. Ich würde da gerne weiter graben und mehr entdecken. Für mich ist das georgische Kino eine Inspirationsquelle.

 

Wer sind dann Ihre nicht-georgischen Inspirationsquellen?

Tarkowskij ist die Nummer 1, die Nummer 2 ist Sergio Leone. Ich kann in ihre Filme eintauchen und sie genießen. Ich finde, dass asiatische Kino zur Zeit unglaublich interessant ist. Ich schätze auch Carlos Reygadas als individuellen Künstler sehr. Es gibt so viele faszinierende Persönlichkeiten.

 

Und Hollywood?

Ich schaue keine Hollywood-Filme.

 

„City of the Sun“ war bei sehr vielen Festivals, und Sie haben etliche Preise gewonnen. Haben Sie mit einem solchen Erfolg gerechnet?

Nein, eigentlich nicht. Mein Cutter hat mich erst überzeugt, da war ich noch im Konflikt mit mir selbst. Es ist sehr schön, dass so viele Menschen mit dieser Geschichte etwas anfangen können.

Was ist Ihr nächstes Projekt?

Ich will eine Trilogie machen, nicht unbedingt über Tschiatura, aber über Menschen, die in extremen Bedingungen existieren, egal ob physisch oder psychisch. Über Menschen, die gegen die Wand gestoßen werden und darüber, wie sie reagieren. Menschen in extremen Konditionen. Und ich produziere auch einen Spielfilm von einer sehr begabten georgischen Regisseurin, Dea Kulumbegashvili. Ich habe ihre zwei Kurzfilme produziert, die beide in Cannes waren. Jetzt dreht sie ihren ersten Spielfilm.