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Das Gesicht hinter der Maske

| Jörg Becker |
In einem Sonderprogramm mit dem schönen Titel „Augen sehen dich an“ würdigen Diagonale und Synema anlässlich seines 50. Todestages den großen Schauspieler und Regisseur Peter Lorre.

Wann erschien ein Schauspieler auf der Leinwand jemals soweit fort von den Dingen, derart weltabgewandt, fast widerstrebend ins Geschehen gestoßen wie Peter Lorre? Elfriede Jelinek hat Lorre im Jahr seines Hundertsten, 2004, als Sinnbild eines „Jokers“ beschrieben, der aus dem Nichts vorgeschickt sei, um die Lücke zwischen dem, was ist, und dem, was erscheint, zu schließen, damit man es sieht, dieses Nichts. Indem Lorre sich zeige, schreibt sie, sei er weiter weg als jeder andere Schauspieler. Seine Filme bilden eine einzige Universalstudie über das Gesicht des Schauspielers – die Maske, das gespaltene Gesicht, die Zwiegesichtigkeit, das Spiegelbild. Oft wird es von Lorre wie ein Gegenstand, etwas Fremdes, Unergründliches berührt, als sei ihm unbegreiflich, was in ihm wohnt. Der Schauspieler setzt sein eigenes Gesicht als Maske auf, es kann alles sein – verzweifelt, dämonisch verschattet, uralt oder kindlich, Antlitz eines Jägers oder Gejagten, mit dem Ausdruck eines „Schauspieler[s] im andauernden Kindstatus, der alles weiß und gleichzeitig schuldig wie unschuldig ist“ (Jelinek). „Beruf: Grimassenschneider“, so Lorres spätere, sarkastische Selbstbezeichnung, seine Auftritte in Hollywood mussten das Bild vom alten dämonischen Lorre aufrechterhalten; stets versprachen sie mehr, als die Filme einlösen konnten.

„Warte, warte nur ein Weilchen, bald kommt der schwarze Mann zu dir …“ – eine Kinderstimme aus einem hallenden Hinterhof zu Schwarzbild, dann erst blendet der Film auf. Kurz darauf: ein Plakat an einer Litfaßsäule, es sichert Belohnung für die Ergreifung des Kindermörders zu, darüber senkt sich der Schatten eines Mannes, der ein kleines Mädchen anspricht. Lorres erster Auftritt in M – ein Schattenmann und eine Stimme, die erste aller Maskierungen – ein legendärer Einstieg in den Film, frühen Tonfilm. Das Rollenbild des verfolgten Triebtäters war, ehe er sich’s versah, die entscheidende Weichenstellung für seine darstellende Kunst. Fritz Lang traf mit diesem Film – der Geschichte einer Menschenjagd und einem „Kommentar zur Dramaturgie des Faschismus“ (Harun Farocki/Felix Hofmann, 1984) –, in dem die zeitgenössischen Fälle von Fritz Haarmann, der „Bestie von Hannover“, und Peter Kürten, des „Vampirs von Düsseldorf“, des ersten deutschen „Serienmörders“, hingerichtet im Juli 1931, zwei Monate nach der Berliner Uraufführung von M, inbegriffen scheinen, die Atmosphäre in Deutschland kurz vor dem Machtantritt der Nazis. Die Fahndungsstory zeigt die Aktionen von Polizei und Unterwelt gleichsam synchronisiert; die Stadt wird mit zweierlei Methoden erschlossen, kolonisiert, seziert. Während der Ordnungsapparat auf der Suche nach dem Kindermörder die Metropole über systematische Rasterfahndung erschließt, führen die Ringvereine und Bettler- und Hurenorganisationen der Unterwelt ihren eigenen robusten Feldzug, um den Unruhestifter auszumerzen; sie sind die „bessere“ Polizei.

Solche Filme seien selten, in denen sich eine Szene findet, die den Film so ganz enthalte, hat Wim Wenders jene Stelle in M herausgehoben, in der ein unauffälliger Verfolger den Gesuchten zunächst unbemerkt mit einem weißen Buchstaben, M, markiert, aber das kleine Mädchen, mit dem der Täter bereits neben einem Ladenschaufenster steht, dieses Mal entdeckt, sich daran macht, es abzuwischen und Lorre, dabei den Kopf wendend, plötzlich mit aufgerissenen Augen das M auf seinem Rücken in einem Spiegel erblickt. Schon gellen Pfiffe durch die dunklen Straßen, und die Hetzjagd beginnt. Das Kreidezeichen auf der Schulter des Mörders erscheint wie ein Vorbote des gelben Sterns. „Immer muss ich durch Straßen gehen…“ In der gehetzten, zerrissenen Gestalt, klein und weichlich, mit dem Kindergesicht und den dunklen, schweren Augen sieht man das Opfer einer unentrinnbaren Angst vor sich selbst, die gegenüber dem Tribunal der Unterwelt markerschütternd durch die Katakomben gellt: „Ich will nicht – muss!“ Ein Fall für die Psychiatrie oder ein Monster? In der Rolle des Triebmörders in M steckte immerhin ein gesellschaftlicher Entwurf, für den jedoch nach Lorres Emigration den US-Studios das Verständnis abging.
Gerade deshalb womöglich wird die Figur des getriebenen
Täters für Lorre-Rollen in den Vereinigten Staaten so trivial. Sie ist eine Referenz und scheint wie ein unheimlicher Umriss viele seiner späteren Rollen zu umgeben. Noch vor dem Zweiten Weltkrieg hatten sich die Nazis der Fiktion bedient und Passagen aus M in ihre antisemitischen Hetzfilme einmontiert. Peter Lorre war als Monstrum ausgestellt worden, um zu zeigen, wie das Wesen des Juden sei.

Nach der Verkörperung eines ausländischen Terroristen in Hitchcocks The Man Who Knew Too Much (1934) spielte Lorre eine Pygmalion-Figur, den wahnsinnigen Arzt Dr. Gogol, in Mad Love (1935) und im selben Jahr den intellektuellen Verbrecher Raskolnikow in Josef von Sternbergs Dostojewski-Film Crime and Punishment. Hier endet auch schon der Ausflug in den Kunstfilm, zu dem Karl Freund, der Kamera-Emigrant aus dem Stummfilm der Weimarer Republik (Der Golem) für Mad Love das expressionistische Licht mitgebracht hatte. Wieder bei Hitchcock sieht man ihn als kalte, gewissenlose Satyrgestalt in Secret Agent (1936). Als „Mr. Moto“, der verschlagene, undurchsichtige Jäger, in einer Serie von acht B-Pictures, war Lorre endgültig in der Bilderindustrie gelandet, seine „air of mystery“ („Variety“, 1937) gab hier den liebenswürdigen Seiten des japanischen Detektivs einen doppelten Boden an Skrupellosigkeit.

Lorres ständige Engagements in den meisten großen Hollywood-Studios ergeben nur scheinbar eine Erfolgsfilmografie. Häufig wurde er – ein übliches Verfahren gegenüber Emigranten aus Deutschland – für Anti-Nazi-Filme, später für Figuren gecastet, die sein zwielichtiges Image ausbeuteten. Dem Typecasting, der industriellen Form der Personenbesetzung im Hollywood-Film, „Übertragung der arbeitsteiligen Produktion auf die Filmsemantik“ (Harun Farocki), konnte auch Lorre sich nicht entziehen.

The Face Behind the Mask (1941) unter der Regie von Robert Florey hat Christian Petzold einmal wie eine Allegorie auf Lorres Karriere in Hollywood beschrieben: Der gutwillige und ehrlich arbeitende Immigrant aus Ungarn verliert bei einem Brandunglück sein Gesicht. Was ihn vom Selbstmord abhält, bringt ihn in kriminelle Zusammenhänge – ein zweites Gesicht wird angefertigt. Zwischen Lorres Gesicht und der nachgebildeten Maske gibt es eine undeutliche Übereinstimmung. „Man weiß nicht: Benutzt er sein ausdrucksloses Gesicht als Maske oder verleiht er der Maske Ausdruck, um sie als Gesicht zu benutzen.“ (Farocki). Sein eigentliches Gesicht, heißt es, sei plastisch nicht mehr rekonstruierbar. Lorre, der hier ein einziges Mal seine wirkliche Herkunft spielt, gibt den liebenswerten Trottel, sucht die Aufmerksamkeit der anderen. Sein zerstörtes Antlitz treibt ihn dann abgewandt in Schattenverstecke. Nachdem er eine „temporary mask“ erhalten hat, die starr und ausdruckslos wie eine Totenmaske wirkt, steht er wieder im Licht, spricht jedoch abwesend am Gegenüber vorbei, schaut aus den Bildern hinaus. Jegliche Vorstellungen vom normalen Glück sind ihm bereits äußerlich. „Er betrachtet die Gangster, die langsam realisieren, dass sie sterben werden. Ganz müde und doch mitleidig betrachtet er sie. Ein Blick, den später Der Verlorene auf Deutschland werfen wird.“ (Petzold).

Auch Hollywood beließ es bei der Maske. Hier verkörperte Lorre meist ein gespenstisch-zerquältes Europa – „continental“ und „esoteric“ – seine Rollen zeigen ihn von schwer bestimmbarer Herkunft, irgendwo zwischen Asiaten und Latinos. Die polymorphe Fremdheit, die ihn umgab, tendierte dazu, sich mit ihm am Ende selbst zu zerstören. Das Böse ist in der Neuen Welt zum Erschrecken da, der Bösewicht folglich ein Spezialgebiet, das an den Exilanten aus der Vergangenheit delegiert wurde, als professionellen „enemy alien“.

In Lorres Nachlass fand sich ein Gedicht Brechts, „Der Sumpf“, zu denken an die Drogenverführung und Suchtgefahr in der Hollywood-Branche: „Manche der Freunde sah ich, und den geliebtesten / Hilflos versinken im Sumpf, an dem ich / Täglich vorbeigeh. […] Hilflos nun sah ich ihn zurückgelehnt / Bedeckt von den Blutegeln / In dem schimmernden / Sanft bewegten Schlamm. Auf dem versinkenden / Antlitz das grässliche / Wonnige Lächeln.“ Brechts in Gedichtform gefasste Offerte an Lorre, in sein Berliner Ensemble am Schiffbauerdamm zu kommen – „Höre, wir rufen dich zurück / Verjagter …“ – schlug dieser aus, nachdem er nach Deutschland zurückgekehrt war und sich in einer Klinik von seiner Morphiumsucht kurieren lassen wollte. Nach fünfzehn Jahren und fünfzig Filmen in Hollywood stand der Dreh seines ersten eigenen Films, Der Verlorene (1951), bevor. Lorre war dessen Hauptdarsteller, Regisseur und Autor.

Zeitgleich mit dem Film erschien in der „Münchner Illustrierten“ die Roman-Version des „Verlorenen“, geschrieben als Rekons-
truktion des Ablaufs in „22 Nachforschungen“, ausgehend von der schlichten Nachricht vom Selbstmord eines Dr. Rothe. Sie sei „spannender als der Dritte Mann“, hieß es, womit der werbewirksame Vergleich mit Orson Welles ins Spiel gebracht war. „Out of the Past“ – die Erzählung aus Deutschland ist „noir“, einmal „deutscher Film noir“: Die Vergangenheit holt die Gegenwart ein, Verbrechen gebiert Verbrechen und verschiebt, korrumpiert die moralischen Standards. Draußen auf flachem Heideland öffnet sich eine Bahnschranke, ein einzelner Mann geht gegen den Strom eines Flüchtlingstrecks zu den Baracken eines Lagers, wo er die Neuankömmlinge impft. Ein Assistent (gespielt von Karl John, im deutschen Film vor 1945 im lautstark militärischen Rollenfach vertreten) wird ihm zugeteilt, ein alter Bekannter, auch er mit neuer Identität. Der Film blendet zurück, zeigt Lorre als Naturwissenschaftler Dr. Rothe und den Helfer als den Spitzel des Nazistaates. Mit diesem betrügt ihn seine Verlobte, verrät Rothes Forschungsgeheimnisse; außer sich erwürgt er sie. Die Gestapo hindert den Mediziner, diese Tat zu sühnen, seine Entdeckungen aus Tierversuchen sind für sie kriegswichtig. Unter Zwang tötet Rothe weiter; beim Blick in sein Gesicht erkennt eine Prostituierte intuitiv den „Totmacher“. Dem Gestapo-Spitzel als indolentem Opportunisten ist Reue unbekannt, so erschießt ihn Rothe, ein unerwarteter Akt, und geht im Morgengrauen unter einem weiten, erdrückenden Himmel auf die Bahngleise, bis der Frühzug ihn überrollt. Was zählt die einzelne Tat, wenn doch der Staat von seinem Tötungsmonopol Gebrauch macht, indem er Millionen industriell umbringt?

Apropos Tierversuche: „,Unser Karnickel, der kleine Maxi, ist ein hochinteressanter Herr und darf uns ja nicht wegsterben, nicht vor dem Ende der Versuche.‘ Das war der Jargon der Fünfzigerjahre“, so Ilse Aichinger 2004. „Wer ihn wieder hören will, soll Der Verlorene anschauen. Wer ihn noch hören will, soll durch Wien gehen.“

Der Verlorene zeichnete den deutschen Faschismus ähnlich genau nach, wie ihn M vorgezeichnet hatte (sinngemäß in Harun Farockis Film Das doppelte Gesicht – Peter Lorre, BRD 1984). „Das Deutschland von 1930 und das von Hitler und während des Zweiten Weltkriegs ist dasselbe Deutschland, man wechselt bruchlos von einem zum anderen. Ohne den ‚Totmacher‘ von Düsseldorf wäre der ‚Totmacher‘ von Hamburg nicht denkbar. Beide repräsentieren in unterschiedlicher Gestalt ein und dasselbe Böse. Die fünfzehn, zwanzig Jahre, die dazwischenliegen, sind bedeutungslos.“ (Peter Lorre in einem Interview 1951). In der westdeutschen Nachkriegsöffentlichkeit traf der Film auf breite Ablehnung, eine Fühllosigkeit gegenüber Trauer und Sühne. Michael Töteberg bezeichnet ihn als „Schlussstein des Trümmerfilms“. Vergeblich wartete Lorre in einem Münchner Hotelzimmer auf Rollenangebote; Ende 1951 kehrte er in ein verändertes Hollywood zurück. Das folgende Jahrzehnt bis zu seinem Tod 1964 kam einem Ausverkauf seines Images gleich, häufig auf der Ebene eines karikaturistisch überzeichneten Selbstzitats, eines Relikts aus einer versunkenen Welt. Dabei war er es müde, Gesichter zu schneiden, „making faces“. Seine bleischweren Augenlider wollten sich beständig schließen über einem Blick, aus dem die Vergeblichkeit allen Tuns sprach.