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Österreich – Heimatplanet. Ein Dossier

Hülle und Spagat

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Die scheidende Diagonale-Intendantin Barbara Pichler bilanziert.

Interview ~ Roman Scheiber
Foto ~ Ruth Ehrmann

Nach wie vielen Filmen haben Sie sich heuer aus der selbstgewählten „Sichtungshaft“ befreit?
Es sind eigentlich jedes Jahr ungefähr gleich viele. Schwankungen gibt es mehr innerhalb der Kategorien, einmal mehr Spielfilme, dann zum Beispiel wieder mehr Dokumentarfilme. Aber die Gesamtzahl bewegt sich zwischen 480 und 540. Heuer sind es ziemlich genau 500. Es fällt aber auf, dass die Filme tendenziell länger werden. Also das mittellange Format wird immer beliebter, leider nicht immer zugunsten der filmischen Qualität. Und wenn viel mehr 50-Minuten-Filme statt 15-Minuten-Filme eingereicht werden, braucht man logischer Weise mehr Zeit zum Sichten.

Diese mittellangen Filme sind schwer vermarktbar, nicht?
Ja, wobei die kürzere Form generell kommerziell kaum vermarktbar ist. Vielleicht denken sich die Filmemacherinnen und Filmemacher ja auch, mit einem Kurzfilm komm ich sowieso nicht ins Kino, also kann ich gleich einen mittellangen machen. Oft ist es aber fatal, wenn sich die Leute nicht von ihrem Material trennen können oder die Geschichten zu umständlich erzählen. Nur weil ein Film 50 Minuten lang sein kann, heißt ja nicht, dass er auch 50 Minuten lang sein muss. Als das Filmmaterial noch analog und damit teurer war, hat man sich viel genauer überlegt, was man wirklich für eine Geschichte braucht. Für uns als Festival bringt das auch ein weiteres Problem mit sich: Die Programmplätze sind nicht mehr geworden, also sinkt die Zahl der Filme, die wir einladen können.

Was die Auswahl noch schwieriger macht. Ist dabei nur die Qualität das Kriterium oder auch, ob ein Film dazu angetan ist, Diskussionen auszulösen?
Eindeutig die Qualität. Auch bei Filmen, die wir selbst als kontrovers einschätzen, sieht man erst vor Ort, ob sie wirklich Diskussionen auslösen. Das kann man nicht planen. Mir geht es auch bei Filmen mit kontroversen Themen vor allem darum, wie man mit dem Bild und dem filmischen Erzählen umgeht. Das heißt, gegenüber einem handwerklich soliden Film gebe ich einem handwerklich vielleicht nicht perfekten oder rotzigen Film eines noch unerfahrenen Filmemachers entschieden den Vorzug, wenn er interessantere Fragen der Erzählform aufwirft oder etwas probiert oder sich etwas traut. Es ist auch wichtig für ein Querschnitt-Festival, dass nicht jeder Film ausschaut wie der nächste. Unterschiedliche Denkweisen und ästhetische Ausdrucksformen sind gefragt.

Die Diagonale soll also eher Experimentierfeld für die österreichischen Filmschaffenden sein als Leistungsschau?
Den Begriff „Leistungsschau“ halte ich persönlich für verunglückt. Ich habe dieses Wort schon vor 15 Jahren gehasst, und ich hasse es immer noch, denn was soll es bedeuten in Bezug auf Kunst? Die Publikumszahl kann es nicht sein, denn das ergibt keine aussagekräftige Auswahl, andererseits dürften wir teilweise sehr große, künstlerisch relevante Filme nicht zeigen. Was bleibt dann aber als Kriterium übrig? Nicht viel. Es kann nur um die Relevanz der Ausdrucksform gehen. Jedes Festival, nicht nur die Diagonale, ist ein Spagat zwischen verschiedenen Ausdrucksformen.

Wie hat sich die österreichische Filmlandschaft verändert während Ihrer Zeit als Intendantin?
Das Produktionsvolumen ist enorm angestiegen. Schon bevor ich begonnen habe, wurden immer mehr Filme produziert. Alles zu zeigen, war schon lange vor mir nicht mehr in Einklang zu bringen mit der Rolle eines nationalen Festivals. Es geht sich weder von den Programmplätzen her noch von den Finanzierungsmöglichkeiten aus. Neben den Förderstellen braucht man für die adäquate Finanzierung längst eine Vielzahl an Sponsoren, und das führt zu einem weiteren Spagat: Man muss der Branche und dem Publikum das Gefühl vermitteln, dass es ein breites Spektrum an Ausdrucksformen gibt, von der experimentellen Form zum publikumsträchtigen Spielfilm. Man muss aber auch die Sponsoren Jahr für Jahr davon überzeugen, dass es ein Event ist, das gewisse Aufmerksamkeitsschwellen überschreiten kann. Diese Dynamik gilt für jedes Festival, auch wenn sie von Nichtfestivalmenschen kaum wahrgenommen wird.

Sind Sie dennoch zufrieden mit dem Erreichten?
Es ist jedenfalls gelungen, Vorurteile abzubauen, den Publikumszuspruch zu steigern und auch das Medieninteresse. Was ich mir erhofft habe, war, einen anderen öffentlichen Raum herzustellen, wenigstens für diese paar Tage im Jahr, in dem man anders mit den Filmen umgeht als im regulären Betrieb. Das scheint mir gut zu funktionieren.

Bei welcher Art Film funktioniert das besonders?
Zum Beispiel im Kurzspielfilmbereich. Da hat man früher oft gesagt, das seien doch nur Fingerübungen von Nachwuchsfilmern, die darauf warten, mit ihrem ersten Langspielfilm dran zu kommen. Das hat sich verändert. Inzwischen sind Kurzfilmprogramme sehr gut besucht. Kurzfilm wird nicht nur als der kleine Film, sondern als eigenständige Form wahrgenommen. Das zeigt sich auch daran, dass nicht nur die Jungen, sondern auch Arrivierte kurze Filme machen. Auch innovative und experimentelle Filme, die früher fast nur Fachpublikum hatten, werden deutlich mehr vom so genannten „normalen“ Publikum besucht. Das haut schon hin.

Woran könnte das liegen?
Das ist eben der Vorteil so eines „gelabelten“ Event-Rahmens, der eine andere Stimmung erzeugt. Man fühlt sich durch das Festival vielleicht wie in einer Art Hülle, wo man eher in ein Kurzfilm- oder Experimentalfilmprogramm hineinschaut. Auch die Vermittlungsarbeit für Schulen, von der ja kaum jemand etwas mitkriegt, hat sich gut entwickelt. Die ersten zwei Jahre haben Kurzfilmprogramme für Schulklassen überhaupt nicht funktioniert, viele Lehrerinnen und Lehrer haben die kurze Form nicht gekannt oder nichts davon gehalten. Aber da bin ich stur geblieben und habe ihnen klar gemacht, dass sie sich selbst damit nicht auskennen müssen, dass es reicht, wenn wir uns in der Filmvermittlung auskennen. Und die Schülerinnen und Schüler gehen anders raus als sie rein gegangen sind, das finde ich super. Über die Jahre hat sich da schon die Wahrnehmung verändert. Mittlerweile sind diese Programme so voll, dass wir den Bedarf kaum noch decken können.

Ein Luxusproblem für Ihre Nachfolger Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber. Warum hören Sie eigentlich auf, obwohl Sie Ihren Vertrag verlängert bekommen hätten?
Ich hatte das Gefühl, dass der Punkt erreicht war, an dem ein neuer Blick kommen sollte. Und da ich mich nicht selbst neu erfinden kann, muss dieser neue Blick woanders her kommen. Obwohl ich nicht davon ausgehe, dass da draußen der noch viel spannendere Job auf mich wartet, und ich keine Freundin beruflicher Unsicherheit bin: Ich bin als Person eher so gebaut, dass ich zu einem Zeitpunkt gehe, an dem ich es noch mit hundertprozentiger Freude und Elan mache, nicht in Routine verfalle und es gut zu Ende bringen kann. Es ist ja nicht nur ein schöner, sondern auch ein ganz schön anstrengender Job. Jedes Jahr musst du wieder Geld auftreiben und bist nicht sicher, ob das Festival überhaupt stattfinden kann. Auch mit den Reaktionen und Kränkungen umzugehen, die sich aus der Ablehnung von Filmen ergeben, kann mitunter unangenehm sein. Ich höre also nicht nur aus altruistischen Gründen auf.

Waren Sie mit den Preis-Entscheidungen immer zufrieden?
Das klingt jetzt vielleicht komisch, aber ich finde, Preise werden falsch beurteilt. Ein Preis ist eine schöne Geste, bringt Aufmerksamkeit und in unserem Fall auch Geld, aber dennoch habe ich das Gefühl, Preise werden überbewertet. Viele Filme gehen trotz ihrer Preise im Kino unter, viele andere sorgen ohne Preis für volle Kinos. Ich glaube, man kann die Werbewirksamkeit von Preisen nicht planen und Preise daher nicht aktiv dazu nutzen, an der Kinokassa etwas zu bewegen – den Oscar vielleicht ausgenommen.

Das mag stimmen, aber sind Preise deshalb überbewertet?
Letztlich ist eine Jury-Entscheidung nur ein Meinungsausdruck weniger Leute. In unserem Fall ergibt sie sich aus der subjektiven Sicht und der Dynamik zwischen drei Leuten. Man soll sich durchaus freuen über Preise, oder man kann sich mitfreuen über Preise, die man selbst auch vergeben hätte. Ich selbst war aber oft anderer Meinung als meine Jury, und trotzdem habe ich nie in der Kategorie „Zufriedenheit“ darüber nachgedacht. Ich sehe einen Preis als Entscheidung einer bestimmten Jury, welchen Film aus einem bestimmten Angebot sie für die herausragende künstlerische Leistung hält. Alles Weitere sollte keine Rolle spielen.

Unter welchen Gesichtspunkten haben Sie die Personalen ausgewählt? Auch subjektiven?
Natürlich macht man eine Personale gern für Filmschaffende, die man auch persönlich schätzt. Aber die Diagonale ist kein Festival, wo ich meine persönlichen Lieblingsfilme zeige. Die entscheidenden Fragestellungen für mich in Bezug auf eine Personale sind: Was sind das für Filme, hatten die genug Öffentlichkeit, kennen die Jungen diese Filme noch? Passen sie ins Programm? Fragen, die nichts mit meinem Geschmack zu tun haben, spielen da mit rein. Dass Filme nicht vergessen werden, dass man Filme wiederentdecken kann, einen neuen Blick auf Filme werfen kann. Gerade heuer bei Nikolaus Geyrhalter: Das ist zwar ein noch relativ junger Filmschaffender, aber er hat halt sehr früh angefangen und schon sehr viele Filme gemacht. Für mich war er immer einer der wichtigen Filmschaffenden. Wenn ich nun das Gefühl hätte, jeder hat alle Geyrhalter-Filme schon rauf und runter gesehen, würde ich ihm vielleicht keine Personale widmen. Doch in den letzten Jahren musste ich feststellen, dass beispielsweise ein für mich zentrales Werk seines Schaffens kaum jemand kennt, Das Jahr nach Dayton nämlich. Kein Mensch, der nicht mindestens Mitte zwanzig war, als er rausgekommen ist, kennt diesen Film.

Was ist das Schönste am Intendantinnenjob?
Wenn man über Jahre bei einem Festival arbeitet, kann man zu vielen Leuten eine berufliche Beziehung aufbauen. Man kann Leute begleiten und ihnen helfen, für ihre Filme eine öffentliche Sichtbarkeit zu finden. Das hat meistens sehr gut funktioniert, oft auch bei Filmen, wo die Aufmerksamkeit nicht selbstverständlich da ist. Das ist für mich das Befriedigendste an der Festivalarbeit.

Wie sehen Sie die Entscheidung um Ihre Nachfolge? Die wird ja vielfach als „Signal an die Jugend“ wahrgenommen.
Nur weil die beiden jünger sind, heißt das ja nicht, dass die Diagonale jetzt ein Nachwuchsfestival wird. Sie sehen vielleicht auf dem Papier jung aus, aber sie haben langjährige Festival­erfahrung, ein breites Filminteresse und sind gut vernetzt. So simpel sind die Dinge ja nie. Die beiden kennen das österreichische Kino, und sie haben aus dem YOUKI-Festival in Wels, wo sie vorher waren, einen interessanten, vielschichtigen Ort gemacht. Und offenbar hatten sie ein interessantes Konzept, das sie überzeugend präsentiert haben.

Wie wird es bei Ihnen weitergehen? Könnten Sie sich die Intendanz bei einem größeren, eventuell internationalen Festival vorstellen?
Ich kann mir vieles vorstellen, was mit Film zu tun hat. Aber ich hatte noch keine Zeit, in Ruhe darüber nachzudenken, ich konzentriere mich auf die anstehende Diagonale. Ob es für mich die Gelegenheit geben wird, bei einem anderen Festival in Österreich oder sonst wo zu arbeiten, weiß ich nicht. Auffallend war, dass mich viele Leute gefragt haben, ob ich bei der Diagonale aufhöre, weil ich nicht mehr Festival machen mag. Nein, Festivalarbeit ist ein wirklich toller Job. Aber ein Kino zu führen, ist auch ein toller Job, oder einen Verleih zu führen, oder Vermittlungsarbeit zu machen oder vieles andere mehr.

Danke für das Gespräch und alles Gute für Ihre berufliche
Zukunft!