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Österreich – Heimatplanet. Ein Dossier

Ein Porträt von Dauer

| Gunnar Landsgesell |
Zehn Jahre lang hat Nikolaus Geyrhalter die ehemaligen Arbeiter einer Textilfabrik im nördlichen Waldviertel immer wieder aufgespürt. „Über die Jahre“ ist eine Geschichte vom Stillstand der Maschinen und der Bewegung von Menschen.

Hier ist jemand aus dem Konzept gekommen. Der Filmemacher selbst. Über die Jahre hat sich zu Beginn schon ganz im Geyrhalterschen Bilderkanon eingerichtet: kontrollierte Kadrierung, Zentralperspektive, lange beobachtende Takes, ein Rhythmus von Mensch und Maschine. Doch dann passiert etwas. Das Werk, das hier porträtiert werden soll, schließt. Es geht um ein Waldviertler Textilunternehmen, die Anderlfabrik in Schrems, unweit der tschechischen Grenze, und die Filmemacher ahnten schon, dass diese Fabrik mit ihren faszinierenden, uralten Industrie-Webstühlen so nicht noch hundert Jahre am globalisierten Markt bestehen wird. Der Filmtitel hieß zu Beginn „Die letzten Tage“ und er hat sich schneller als erwartet bewahrheitet. Die Entscheidung, weiter zu filmen, brachte einiges in Bewegung. Aus dem Porträt eines sterbenden Gewerbes wurde das von Menschen und ihren improvisierten Arbeits- und Lebensentwürfen. Und auch filmisch lässt sich die „Freisetzung“ der Arbeitskräfte in ein ungewisses Leben ablesen, die Bilder kommen in Bewegung. Von den Innenaufnahmen wandert die Kamera auf das freie Land, der Film tauscht die starren Einstellungen gegen eine Handkamera, die den Leuten folgt, die auf Bewegung im Raum reagiert, Blicke aufgreift und sich der menschlichen Dimension eines Moments erschließt. Das wirkt paradoxerweise wie eine Befreiung, und tatsächlich ist es so, dass kaum jemand der sieben oder acht Hauptakteure dieses Films dem alten Leben in der Anderlfabrik nachweint. Zumindest nicht die Arbeiter. Dabei erwischt es sie am härtesten. Sie sprechen später von schlechtem Arbeitsklima (der letzten Tage) und noch während sie das sagen, rekapituliert man die Anfangsbilder des Films. Tatsächlich wirkten die Menschen darin wie Fossile, eingeschlossen in diese Fabrik, in der sich rein optisch keine Zeichen der Zukunft ablesen ließen, in der die Zeit stillstand. Eine Frau, die später sehr agil wirkt, packt einzeln und per Hand Windeln ein. Stoffwindeln, versteht sich. Ob aus unternehmerischer Not oder aus reiner Sturheit – hier trat man noch gegen das Pampers-Zeitalter an.

„Einen Konkursler als Mann“ – aus dem Mund der unzufriedenen Unternehmersgattin hört sich die Schließung der Textilfabrik anders an. Die soziale Dimension des Konkurses, die Kündigung der Arbeiter, sie stellt sich aus Perspektive der Eigentümerin als Frage der gekränkten Ehre dar. Der Angesprochene sieht es dennoch anders, das habe er seiner Frau auch schon öfters erklärt. „Es ist die Firma als juristische Person in Konkurs, nicht ich als Dr. Richard Hain.“ Nicht alle Akteure in Niki Geyrhalters Dokumentarfilm Über die Jahre sind in der Lage, ihre Befindlichkeit derart spitz vor der Kamera zu artikulieren. Noch zu Beginn hat der Filmemacher einige Not, die Leute überhaupt zum Sprechen zu bringen. Man hört, wie er Fragen stellt und nervöse Blicke erntet. Was die Befragten hier arbeiten, wie ihr Arbeitstag aussieht – was sollen sie dazu schon sagen? Es ist, wie es ist. Das Sich-abfinden setzt sich zumindest bei einigen der Porträtierten bis zum Schluss fort, als mögliche letzte Antwort auf die vielen neuen Fragen. Dass Über die Jahre aber aus falsch verstandener Solidarität keinem Determinismus verfällt und keinen vorgefassten Fatalismus zum Angelpunkt der Dramaturgie kürt, sondern über zehn Jahre lang mit entschiedener Neugier die Stationen seiner Akteure erkundet, ist entscheidend für das Gelingen und die innere Größe dieses Projekts. Der Stoff hätte sich auch für eine Erzählweise geeignet, wie sie vor 25 Jahren ein anderer Dokumentarfilm über die Schließung einer Papierfabrik im südlichen Niederösterreich wählte. In Postadresse 2640 Schlöglmühl entwarf Egon Humer ein Bild klaustrophobischer Zustände, düsterer Armut und die Perspektivlosigkeit einer zurückgelassenen Arbeiterschaft. Auch darin liegt eine Wahrheit, wenn auch eine monströse. Geyrhalters Annäherung, wohl auch durch die Beharrlichkeit der Langzeitbeobachtung, erinnert aber stärker an Michael Glawogger, der vergangenes Jahr nur mit einem „weißen Blatt Papier“ als Drehbuch aufbrach, um sich, wie er sagte, von der Welt etwas erzählen zu lassen. Sich die Welt kontingent vorzustellen heißt im Fall von Über die Jahre auch, Biographien nicht „auf die Reihe“ bringen zu wollen. Das Leben nicht nach dem Raster eines großen Themas (Arbeitslosigkeit?) zu formatieren, sondern der Beweglichkeit der Figuren zu folgen. Manchmal findet sich diese als äußere Bewegung, wie bei der ehemaligen Büroangestellten der Anderlfabrik. Die Frau wirkt agil und überrascht mit ihrer Affinität zu jedem Job. Tupper-Partys zur Überbrückung, später ein Schotterunternehmen mit fixer Anstellung. Sie führt Geyrhalter zu drei Haufen von Pflastersteinen, die hier in unterschiedlicher Güte hergestellt werden. Am Weg dieser Frau lässt sich auch die veränderte Materialität ablesen, die dieser filmischen Anthologie zu Eigen ist. Von den weichen Oberflächen der Textilien zu Materialien wie Waldviertler Granit oder dem glühenden Eisen eines anderen ehemaligen Kollegen, der nun als Schmied arbeitet. Stimmungen, Temperamente, Intensitäten reproduzieren sich manchmal in den Bildern: eine Schneelandschaft, ein moordunkler Waldteich, ein Dammbruch, der das Wohnhaus eines Arbeiters unter Wasser setzt. Sie begleiten das Leben, ohne dass es den Eindruck erweckt, Geyrhalter und sein langjähriger Cutter Wolfgang Widerhofer hätten auf eine besondere Metaphorik abgezielt. Das wird auch am Szenario eines Steinbruchs deutlich, wo ein anderer Mann untergekommen ist. Er bohrt hier tagtäglich Löcher für die Sprengsätze. Wie das genau gehe, worauf man achten müsse, fragt der Filmemacher den Mann, der seinen Presslufthammer und Gehörschutz kurz abgelegt hat. Wenn er das wüsste, kommt die Antwort, keine Ahnung. Die Ereignislosigkeit dieser Szene in einer von Männlichkeit geprägten und maschinell munitionierten Optik entbehrt nicht einer gewissen Komik. Das Bild erzählt aber auch von einem Zustand des sich treiben lassens, einer Gelassenheit, die auf die Montage abfärbt. Überhaupt fügt sich der über so einen langen Zeitraum aufgenommene Bilderbestand in eine erstaunlich homogen wirkende Form. Dass dennoch am Ende zehn Jahre vergangen sind, wird vor allem an den veränderten Gesichtern, fallweise am Wachstum der Kinder ersichtlich. Aber auch am Vertrauen, dass sich im Lauf der Zeit aufgebaut hat. Auch wenn einer der Arbeiter auch zehn Jahre später noch lieber seine Frau für sich sprechen lässt, weil er seine Gefühle nicht zu artikulieren vermag, trägt die entstehende Nähe zwischen Protagonisten und Kamera maßgeblich dazu bei, dass die Spannung über drei Stunden Erzählzeit hält. Und auch dem Zuseher selbst werden die Leute vertrauter. In diesem Zusammenhang ist der PR-taugliche Hinweis der Filmemacher auf eine Boyhood-Qualität von Über die Jahre tatsächlich richtig. Auch wenn der Vergleich mit einem anderen Langzeitprojekt näher liegt: dem noch zu DDR-Zeiten begonnenen Die Kinder von Golzow, in dem Barbara und Winfried Junge die Schüler einer Klasse von 1961 bis 2007 filmisch begleitet haben. Zu welcher Privatheit eine Langzeitbegleitung wie in Über die Jahre führt, die mit den Menschen als Subjekten der Erwerbsarbeit nichts mehr zu tun hat, wird mehrmals in diesem Film sichtbar. Ein Arbeiter, der sich schon zu Beginn als sehr zurückgezogen beschreibt, findet sich mit der Arbeitslosigkeit zurecht, indem er einen eigenen Rhythmus in seinem Leben findet: er ordnet (zuerst handschriftlich) die Bestände seiner 1.600 eigenhändig aufgenommenen Lieder und gräbt mit großer Akribie Wurzelstücke umgeschnittener Bäume im Wald aus, um daraus Brennholz zu machen. Die Kamera folgt ihm geradezu liebevoll. Das Private wird auch in einer anderen, berührenden Szene deutlich. Auf der so genannten Himmelsleiter, einer 20 Meter hohen Holzkonstruktion mitten in der Moorlandschaft von Schrems, erzählt eines der im Film begleiteten Paare vom Unfalltod ihres Sohnes. Während die Frau, zwischen Kamera und Ehemann vermittelnd, zulässt, dass in diesem Augenblick das Ereignis noch einmal rekapituliert werden soll, findet der Mann kein Mittel, das zu tun. Er kämpft mit der Vergangenheit, blickt über die Bäume, ein Gefühl für Zeitlichkeit, ein zentrales Thema des Films, stellt sich ein.