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Österreichischer Film – Michael Hanekes Liebe

Schlussakkord

| Jörg Schiffauer |

Michael Haneke zeigt in schmerzhafter Schönheit eine Geschichte von Liebe und Sterben. „Liebe“ wurde dafür verdientermaßen mit dem Hauptpreis in Cannes gewürdigt.

Das dramatische Ende wird gleich einmal vorweggenommen. Ein Trupp Polizisten muss eine versperrte Tür aufbrechen, als sie die Wohnung betreten finden sie in einem der Zimmer den Leichnam einer alten Frau auf einem liebevoll mit Blumen geschmückten Bett sorgsam aufgebahrt. Im scharfen Kontrast zu dieser Anfangssequenz blendet Liebe zum Ausgangspunkt seiner Geschichte zurück. Georges und Anne, ein Ehepaar in den Achtzigern lebt in besagter Wohnung in einem gepflegten Altbau mitten in Paris. Die beiden pensionierten Musikprofessoren führen ein Leben im fortgeschrittenen Alter, wie sich das vermutlich jeder wünscht: Geistig hochaktiv und physisch in guter Verfassung, nehmen sie noch vollen Anteil am kulturellen Leben, wie ein Besuch bei einem Klavierkonzert demonstriert. Und vor allem begegnen sich die beiden nach vielen Jahren des Zusammenlebens mit Respekt und einer immer noch innigen Zuneigung, die in vielen kleinen Gesten des täglichen Zusammenlebens spür- und sichtbar ist. Doch unvermittelt beginnt sich ihr Glück zu verdüstern, als Anne beim gemeinsamen Frühstück plötzlich minutenlang katatonisch dasitzt. Die diagnostizierte verstopfte Schlagader soll mittels einer Operation wiederhergestellt werden, doch der als weitgehend risikolos eingestufte Eingriff verläuft furchtbar. Anne kommt halbseitig gelähmt im Rollstuhl sitzend aus dem Krankenhaus zurück in die Wohnung. Georges sieht sich mit einer Erkenntnis konfrontiert, die wir alle am liebsten möglichst lange verdrängen würden, nämlich dass der letzte Abschnitt unseres Lebens eine qualvolle Zeit sein kann. Georges und Anne wird aber auch gar nichts von dieser Qual erspart bleiben, die zur Prüfung für ihre große Liebe wird.

Präzision

Es mag wenig überraschen, dass Michael Haneke in Liebe erneut ein brisantes Thema aufgegriffen hat, das – wie in vielen seiner bisherigen Arbeiten – Verstörungen auszulösen in der Lage ist. In die ersten Reaktionen nach der Premiere und dem Gewinn der Goldenen Palme in Cannes mischten sich aber auch Stimmen, die – wie etwa „Der Spiegel“ – ihrem Erstaunen darüber Ausdruck verliehen, dass Haneke „eine für seine Verhältnisse sehr sanftmütige Geschichte des Sterbens alter Leute präsentiert“. Diese Einschätzung verblüfft doch ein wenig, denn „sanftmütig“ ist nicht unbedingt jenes Adjektiv, das einem in Verbindung mit Liebe in den Sinn kommt. Denn Haneke zeigt ohne einen Anflug von camouflierender Sentimentalität jenen Leidensweg, den Annes Krankheit dem Ehepaar auferlegt. Das sind zunächst physische Einschränkungen, die den gewohnten und geschätzten Tagesablauf einschneidend verändern. Einschränkungen, deren Ausmaße nach einem zweiten Schlaganfall Annes dramatisch zunehmen und einhergehen mit einem stetigen Nachlassen von Annes kognitiven Fähigkeiten. Haneke zeigt das langsame Verlöschen eines Lebens mit der für ihn gewohnten Präzision, ohne dabei jedoch seine Protagonisten auch nur einen Augenblick dem Voyeurismus preiszugeben. In einem der berührendsten Momente von Liebe blättert Anne ein Album mit alten Familienfotos durch – als letzten Rückblick auf all die wunderbaren Momente eines Lebens, von dem sie weiß, dass es nun unwiderruflich zu Ende geht. Und obwohl Georges alles unternimmt, um seiner Frau die letzte Phase ihres Lebens erträglich zu gestalten, wird ihm deutlich vor Augen geführt, dass dies ein beinahe aussichtsloser Kampf ist. Um seiner Tochter, die die bittere Realität am liebsten verleugnen würde, jede falsche Illusion zu rauben, erklärt Georges ihr den Zustand der Mutter ebenso trocken wie unsentimental: „Es geht so weiter bis es irgendwann zu Ende ist.“ Ebenso wie der von Isabelle Huppert gespielten Tochter Eva macht Hanekes exakter Blick dem Zuschauer klar, dass es sich hier um etwas Unausweichliches handelt, einen Teil des Lebens, den man weder verdrängen, wegverhandeln oder aussitzen kann.

Auch wenn Michael Haneke konsequent und genau den krankheitsbedingten Verfall eines Menschen zeigt, sind Leiden und Tod nicht der zentrale Topos, sondern – der Titel macht es bereits deutlich – die große Liebe der beiden Protagonisten und die unendliche Belastung, der diese Liebe im letzten Abschnitt des Lebens ausgesetzt ist. Mit unerbittlicher Präzision zeigt Haneke diese Belastungen, aber auch all jene zutiefst berührenden Momente, in denen Georges versucht, seiner Frau ein Erlöschen in Würde zu ermöglichen. Und trotz der mit diesem Thema naturgemäß einhergehenden Emotionalität ist keine Spur von aufgesetzter, verklärender Sentimentalität zu finden. Denn Hanekes Inszenierung spart auch nicht aus, welchen Hindernissen Georges bei der Betreuung seiner Frau begegnen muss. Die reichen von der hilflosen Tochter über die respektlose Pflegerin bis hin zu Momenten der eigenen Überforderung, die angesichts dieser Prüfung nicht ausbleiben.

Haneke hat mit Emmanuelle Riva und Jean-Louis Trintignant Schauspieler gefunden, die mit ihren großartigen Leistungen dieses Kammerspiel um die intimsten Momente, die zwei Menschen miteinander teilen können, zu tragen imstande sind. Es erschüttert und berührt, wie Emmanuelle Riva das stufenweise Verlöschen des von ihr gespielten Charakters von der würdevollen, kultivierten Dame zur von Krankheit schwer Gezeichneten näher zu bringen vermag. Nicht weniger berührend Trintignant, der in seiner Rolle wegen seiner Frau ein gewisses Maß an Stärke und Haltung bewahren muss, und doch allein mit seiner Mimik in jedem Kader deutlich macht, welche nahezu übermenschliche Last er dabei tragen muss.

Emotionen

Im Vorwort ihres Buchs „Trügerische Vertrautheit“ schreibt die Autorin Fatima Naqvi, im Zusammenhang mit Michael Hanekes Filmen würden Kollegen manchmal Adjektive wie „zynisch“, „spekulativ“, „brutal“, „banal“ und „geistlos“ gebrauchen. Selbst wenn man konzediert, dass das Buch Liebe nicht berücksichtigten konnte, erscheinen derartige Reaktionen ebenso rätselhaft wie die in schöner Regelmäßigkeit auftretende Charakterisierung von Hanekes Werk als „Kino der Kälte“. Natürlich sind derartige Generalisierungen immer problematisch verkürzend, doch bei einem genaueren Blick auf Michael Hanekes Œuvre erscheint dies wohl ein grundsätzliches Missverständnis zu sein. Seine Filme rufen schon aufgrund ihrer kompromisslosen Genauigkeit heftige, höchst emotionale Reaktionen beim Zuschauer hervor. Haneke hat von Anfang an einen sehr spezifischen Stil – der Begriff „Auteur“ ist für ihn in diesem Zusammenhang geradezu maßgeschneidert – entwickelt, den man durchaus als streng, reduziert und karg einstufen kann. Was jedoch wenig mit Kälte zu tun hat, dient diese strenge Form und die damit verbundene Distanz, die Hanekes Erzählperspektive prägt, doch stets dem Ziel, den Blick auf seine filmischen Erzählungen zu schärfen. Dass Hanekes Kino sich eingängigen narrativen Mustern verweigert, damit keine Identifikationsflächen bietet und für Eskapismus gänzlich ungeeignet ist, mag durchaus dazu beitragen, Verstörungen hervorzurufen, was jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit ein durchaus intendierter Effekt ist. Zudem ist im Zusammenhang mit Hanekes Filmen oft davon die Rede, dass darin die jeweiligen Probleme aufgezeigt, aber keine Lösungen angeboten werden (im anschließenden Interview verweist Michael Haneke selbst darauf, dass er die Interpretationsmöglichkeiten des Zuschauers nicht einschränken möchte). Das bleibt natürlich unwidersprochen, muss jedoch ein wenig ergänzt werden. Selbstverständlich lassen sich in seinen Filmen so unterschiedliche Topoi wie Isolation in der modernen Welt (Der siebente Kontinent), verdrängte Schuld (Caché) oder die Folgen der Überforderung durch die mediale Bilderflut (Benny’s Video, Funny Games) feststellen.

Doch dazu verortet man in seinen Filmen auch von Anfang ein unbestimmtes, trotz aller zunächst scheinbaren Alltagsnormalität (Der siebente Kontinent kann hier als offenkundigstes Beispiel dienen) latentes Gefühl, dass hier etwas von Grund auf nicht in Ordnung ist. Ob die Ursachen dafür gesellschaftliche Fehlentwicklungen oder individuelle Verwerfungen sind, wird  nicht immer zwingend ausdefiniert, Hanekes Filme sind nicht zuletzt deswegen Objekt vielfältigster Interpretationen. In seinen Arbeiten konzentriert sich Michael Haneke vielmehr auf die präzise Beschreibung eines Zustands – vornehmlich eines solchen, bei dem, zurückhaltend formuliert, einiges im Argen liegt –, die in ihrer unerbittlichen Genauigkeit oft bis an die Schmerzgrenze geht. Dass Haneke dazu auch noch Themen aufgreift, mit denen man sich allein schon deswegen nicht so gern genauer auseinandersetzt, weil man dann vielleicht Unangenehmes über sich selbst erfährt, mag einige der Reaktionen auf die Rezeption seiner Filme erklären.

Schuldzuweisungen oder simple Erklärungsmodelle für aufgezeigte Fehlentwicklungen finden sich in Hanekes Filmen nicht. Auch in Liebe wird folgerichtig derartiges nicht offeriert, hat doch der Prozess des Sterbens schlussendlich – und hier wären wir wieder bei einem jener Themen, die man lieber wegschiebt – etwas absolut Unausweichliches. Dass dieser Prozess Menschen zudem Untragbares auferlegt, zeigt Michael Haneke ebenso genau, wie den Umgang in Würde und Liebe mit dieser beinahe unbewältigbaren Situation. Sie wird am Ende eine Entscheidung abverlangen, die zur ultimativen Prüfung für die Liebe zwischen Georges und Anne wird.

Als Michael Haneke in Cannes für Liebe seine zweite Goldene Palme hochverdient in Empfang nehmen durfte, war hierzulande schnell wieder vom so gern zitierten österreichischen Filmwunder die Rede. Inwieweit es berechtigt ist, einen international produzierten, in Frankreich gedrehten Film eines Regisseurs mit universellem Anspruch lokal zu vereinnahmen, könnte man durchaus einmal hinterfragen. Bei der einem Film wie Liebe entgegengebrachten Wertschätzung erscheint ein Aspekt der vor kurzem aufflammenden Diskussion um bestimmte Bestrebungen, den österreichischen Film „aus dem Einzugsgebiet des Düster-Depressiven zu befreien“ und verstärkt in Richtung Komödie zu leiten, doch ein wenig kurios. Ist doch die im Zug dieser Diskussion auch aufgetretene Frage nach der „Königsklasse“ des Kinos längst unwiderlegbar beantwortet: Genau dort spielt nämlich Michael Hanekes Liebe.