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Agnès Godard

Agnès Godard

Ohne Standpunkt ist man im Nichts

| Felix von Boehm |

14. Marburger Kamerapreis geht an Agnès Godard

Der schon traditionsreiche Marburger Kamerapreis wird dieses Jahr an die bedeutende französische Kamerafrau Agnès Godard vergeben. Mit Bildern von poetischer Präsenz und Einfühlsamkeit bereichert sie seit vielen Jahren das europäische Gegenwartskino. Geboren 1951, studiert sie zunächst Journalismus, anschließend an der Filmhochschule IDHEC, unter anderem bei Serge Daney, Serge Toubiana und Pascal Kané. 1980 schließt sie das Studium ab und arbeitet als erste Assistentin bei Henri Alekan, der ihr Mentor wird (Der Stand der Dinge, 1982), sowie bei Robby Müller (Paris, Texas, 1984). In der Folge arbeitet Godard als Chef-Kamerafrau mit vielen bedeutenden europäischen Filmemacherinnen und –machern, allen voran Claire Denis, mit Claude Berri, Erick Zonca, Ursula Meier, Emanuele Crialese u.v.a. Am 2. und 3. März wird Agnès Godard bei Podiumsdiskussionen in Marburg anwesend sein und über ihre Arbeit sprechen.

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Ein Gespräch mit der Preisträgerin Agnès Godard über Perspektive, Inspiration und die Frage, warum ein Film eine Skulptur ist.

„Eine Perspektive einnehmen.“ – Was bedeutet das in Bezug auf Ihre Arbeit?
Agnès Godard:
Wenn wird über Bilder sprechen, dann dient der Begriff der Perspektive zunächst einmal dazu, bestimmte Abstandverhältnisse zu bezeichnen. Im Falle eines Filmbildes geht es dabei um den Abstand zwischen der Kamera und dem gefilmten Objekt. Es ist der Abstand der Blickreichweite. Mit der Etablierung einer Perspektive wird jedoch immer auch ein bestimmter Standpunkt eingenommen. Das heißt, dass beispielsweise eine weitere Entfernung vom Objekt – etwa in einer Totale – auf einen eher distanzierten Beobachter schließen lässt, während die Nähe der Kamera zum Objekt eine große Intimität erzeugt. Insofern wirkt sich die Perspektive, der Standpunkt der Kamera, unmittelbar auf den Standpunkt des Erzählers aus. Wir nehmen also immer im doppelten Sinne eine Perspektive ein, im rein technischen Sinne, aber auch im erzählerischen, inhaltlichen.

Das Kino, so sagt die Theorie, neigt zur Perspektive des Voyeurs…
Agnès Godard: Ja, das ist eine große Gefahr im Kino. Dass man die Figuren beobachtet, ohne dass sie es wissen, und man so zu einem Voyeur wird. Ich versuche, dieser Gefahr gemeinsam mit den Regisseuren, mit denen ich arbeite, immer wieder entgegen zu wirken.

Wie lässt sich das vermeiden?
Agnès Godard: Ich glaube, es geht darum, eine erzählerische wie visuelle Perspektive zu finden, die eben jenen Abstand, den ein Voyeur von seinem Objekt hat – das ist das Wesen des Voyeurs – zu überbrücken. Mir geht es immer darum, eine Perspektive einzunehmen, die sich nicht an der Erscheinung einer oder mehrerer Figuren aufhält, sondern, die eine tiefer liegende, innere Wahrheit sucht und von dieser berichtet. Das heißt, dass die Kamera im Idealfall etwas zeigt, das nicht gesehen werden kann, das im Inneren liegt. Das heißt etwas, das dem Leben und dem Dasein verwandt ist. So kann man die voyeuristische Situation verlassen und auf einmal beginnt der Film nicht mehr Oberflächenreiz zu sein, sondern eine Tiefe zu bekommen.

Wie finden Sie Ihren Standpunkt? Können Sie diesen Prozess beschreiben?
Agnès Godard: Man probiert viel aus. Und man merkt an unterschiedlichen Orten, dass die Kamera unterschiedliche Geschichten erzählt. Alles hängt vom Standpunkt ab. Es gibt hunderttausend Möglichkeiten, jemanden, der einen Raum betritt, zu filmen. So viel ist sicher: Jeder einzelne dieser Wege wird einen Sinn haben wird. Man kann nicht pauschal sagen, dass es besser ist, mit der Kamera einer Figur zu folgen oder ihr vorauszugehen – beide Möglichkeiten generieren ihre eigene Bedeutung, ihren eigenen Sinn.

Ist ein Film eine Skulptur?
Agnès Godard: Ja, auf jeden Fall. Ein Film ist Skulpturen sehr viel ähnlicher als Fotografien oder der Malerei. Denn im besten Falle hat er jene Tiefe, die auch Skulpturen haben, wenn das Licht um sie herum kreist und sie ins Dasein bringt.

Inwiefern unterscheidet sich die Perspektive in der Literatur von der Perspektive im Film?
Agnès Godard: Oft ähneln einander die Perspektiven im Sinne der Nähe oder Distanz zu den Figuren durchaus. Diese Ähnlichkeit hinzubekommen, unterliegt jedoch einem relativ komplexen Prozess. Sagen wir einmal, dass die Literatur eine Gattung ist, die sich darum bemüht, die richtigen Worte zu finden – und die richtigen Räume zwischen den Wörtern. Beim Kino ist es zunächst einmal ähnlich: Hier geht es darum, die richtigen Bilder zu finden. Dabei muss man beachten, dass fast jedes Filmprojekt zunächst nur aus Wörtern besteht und der Film gewissermaßen von der Umwandlung der Wörter in Bilder lebt. Doch genau hierin liegt die Schwierigkeit: Die Bilder müssen die Worte nämlich nicht nur ersetzen, sondern das ergänzen, was sich zwischen den Worten befindet. Es geht also nicht um die bloße und rein illustrative Übersetzung der Worte in Bilder, sondern um eine echte Verwandlung, eine Mutation. Diese Suche nach dem Äquivalent zur Literatur, nach einer Entsprechung im anderen Medium, ist ein sehr schwieriger Prozess.

Kann die Literatur selbst bei diesem Prozess helfen? Ist sie eine Inspirationsquelle?
Agnès Godard: Durchaus. Für L’Intrus von Claire Denis beispielsweise habe ich viel Faulkner gelesen. Ich habe in der Vorbereitung auf diesen Film keine anderen Filme gesehen, sondern ausschließlich gelesen. Bei Beau travail hingegen war die zeitgenössische Kunst eine wichtige Inspirationsquelle: Sowohl die Musik, als auch die Malerei…

Sicherlich waren auch die Drehorte selbst eine wichtige Inspirationsquelle
Agnès Godard: Im Falle von Beau travail ganz sicher. Unser Ausgangspunkt war bei den Vorbereitungsgesprächen immer Djibouti. Und es ging um die Frage, wie man Menschen als Skulpturen in einer solchen Landschaft platzieren kann. Djibouti selbst sollte eine Skulptur werden.

Im Gegensatz zu einem Film ist eine Skulptur jedoch etwas Statisches.
Agnès Godard: Das stimmt einerseits, aber andererseits lebt die Skulptur ja auch davon, dass der Betrachter sich um sie herum bewegt. Insofern hat sie wieder mit dem Film zu tun, denn die Besonderheit des Kinos ist natürlich, dass es ein Bewegungsmedium ist: Das ist die Bewegung der Zeit und die Bewegung des Bildes. Der Zuschauer selbst muss im Kino in Bewegung bleiben.

Er muss die Perspektive wechseln?
Agnès Godard: Er kann sie wechseln. Zumindest in einem guten Film. Ein guter Film lässt es zu, dass der Zuschauer seine eigene Perspektive finden kann, seinen eigenen Standpunkt zur Geschichte und zu den Figuren einnehmen kann. Das ist im Grunde ganz ähnlich bei Skulpturen. Einer der Künstler, die mich sehr beeindruckt haben, ist Giacometti. Ich habe viel über ihn und über sein Leben gelesen, um Inspiration zu finden. Und gerade wenn wir über Perspektiven sprechen, hat dieser Mann ganz Unglaubliches erreicht: Er hat winzig kleine sowie riesige Skulpturen gemacht, und egal, welche Größe sie haben, empfindet man die gleiche, unglaubliche Bewunderung. Das ist sehr beeindruckend. Und man weiß nicht, ob sie schon immer existiert haben oder ob sie gerade erst zur Welt gekommen sind. Sie gehen irgendwie über ihre eigene Zeit hinaus. Ich glaube, das ist es: Eine gelungene Skulptur ist eine Skulptur, die über die Zeit hinausgeht. Und Giacometti fordert uns dazu auf, eine eigene Perspektive gegenüber den Skulpturen einzunehmen.

Gibt es Filme ohne Perspektive?
Agnès Godard: Ich glaube nicht. Denn das Bild an sich bedeutet noch nichts. Oder sagen wir lieber: Es gibt kein Bild, ohne dass eine Absicht, ein Blick, ein bestimmtes Denken ihm zugrunde liegt. Ein Bild ist immer das Resultat eines bestimmten Eindrucks, der wieder einen Ausdruck findet. Es ist ein Ausdrucksmittel. Insofern gibt es kein Bild ohne einen Standpunkt.

Keinen Standpunkt zu haben, bedeutet tot zu sein?
Agnès Godard: (Denkt nach.) Zumindest einmal bedeutet es, im Nichts zu sein…

Wir haben über die Perspektive als Standpunkt im doppelten Sinne gesprochen. Dann bedeutet Perspektive aber auch noch Zukunft… Welche Perspektive streben Sie im Augenblick an?
Agnès Godard: Gemeinsam mit der Regisseurin Ursula Meier haben wir gerade in Berlin im Wettbewerb der Berlinale unseren neuen Film L’enfant d’en haut gezeigt. Wir haben bereits vor ein paar Jahren für den Film Home zusammengearbeitet. Ich denke, dass die Perspektive unserer Zusammenarbeit auf eine immer stärkere Reduktion abzielt. Schon bei Home haben wir versucht, möglichst viel in möglichst wenigen Bildern auszudrücken, und ich denke, dass wir in unserer jüngsten Zusammenarbeit noch weiter gegangen sind. Ich weiß nicht ob es so etwas wie das ideale Bild gibt, aber es könnte sein, dass Ursula und ich nach so etwas in der Richtung suchen.