ray Filmmagazin » Filmkritiken » Online für Anfänger
Online für Anfänger

Filmkritik

Online für Anfänger

| Alexandra Seitz |
Ist es ein Zerrspiegel? Ist es die Wirklichkeit? Ist es Zivilisationskritik?

Früher waren sie mal bei den Gelbwesten aktiv, Marie, Bertrand und Christine, die drei Freunde aus der Nachbarschaft, die eine gesichtslose Vorort-Siedlung zwischen Autobahnabfahrten und Monokultur irgendwo in Frankreich ist. Von einem Kreisel mit absurder, quaderförmiger Heckenbepflanzung ging ihr Protest aus – und verhallte ungehört. Inzwischen schlagen die drei sich so durch, durch ihre unspektakulären Leben: mit kläglichen Mini-Jobs und Schulden, verkrachten Beziehungen und Kindersorgen. Was es auch nicht einfacher macht, sind die Tücken der digitalen Kommunikation, die Bosheit der asozialen Medien, die Allmacht der Tech-Giganten mit ihrer Datenspeicherung und Rundum-Überwachung, die grundsätzliche Gleichgültigkeit der künstlichen Intelligenz. Dazu noch das Leid mit den Hotline-Nummern, Warteschleifen, Passwörtern, Online-Formularen und DIY-Terminals.

Klingt vertraut? Genau, in ihrem neuesten Streich haben sich die liebevollen Grobkomiker Benoît Delépine und Gustave Kervern (erinnern Sie sich noch an den ältesten Punk mit Hund Europas in Le Grand Soir?) den mittlerweile ganz normalen Alltagswahnsinn des digitalen Zeitalters vorgenommen. Denn als Marie wegen eines Sextapes erpresst wird, Bertrand seine Tochter vor Cyber-Mobbing schützen will und Christine über die Online-Bewertungen ihres Fahrdienstes zu verzweifeln droht, gilt es, sich zu solidarisieren und gemeinsam gegen die Datenkrake vorzugehen. Im Zuge dessen wird an der Satire-Schraube gedreht, werden böse Scherze getrieben und irre Witze inszeniert – darunter ein Knallergastauftritt von Michel Houellebecq, der sich aus gutem Grund einen alten Diesel kauft – sowie vielfach wohlgesetzte Pfeile mitten ins Herz des auf zahlreichen Screens herumtatschenden Users geschossen. Und Gnade gibt es nur in Verbindung mit Ironie.

Zynismus aber lässt sich Effacer l’historique nicht zuschulden kommen: Der Originaltitel lässt sich übersetzen mit „Löschen der Geschichte“, womit der Browserverlauf (und dessen Komplizen) gemeint sein kann, aber natürlich auch der generelle Wunsch, das Vergangene ungeschehen zu machen. Und wenn schließlich auf die gute alte Art und Weise mit Muscheln und Pappbechern miteinander kommuniziert wird, dann ist das in seinem rückwärtsgewandten Optimismus natürlich ziemlich naiv, hoffnungslos romantisch und völlig realitätsfern.

Am Ende kommen ja doch wieder alle aus dem Kino und checken als erstes ihre Smartphones. Oder vielleicht doch nicht?