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Filmfestival

Osteuropäisches Schaufenster

| Michael Ranze |

Das 48. Karlovy Vary International Film Festival überzeugte mit illustrer Bandbreite.

Wenn man als Journalist und Mitglied einer internationalen Kritikerjury zum ersten Mal am Filmfest von Karlsbad teilnimmt, ist man zunächst einmal überrascht: von der Größe des Festivals, seiner Vielfalt, seiner Beliebtheit, seiner Lebendigkeit, seiner Gastfreundschaft, seiner Geselligkeit, seiner Kommunikationsfreudigkeit, seiner Feierwut. Zugegeben: Auch wenn einem die Bedeutung und Geschichtsträchtigkeit des Festivals bekannt ist – es dann so hautnah zu erleben, erfreute dann doch. Ein eigentlich beschaulicher Kurort mit gerade mal 50.000 Einwohnern steht neun Tage lang Kopf – eine ähnlich quirlige Atmosphäre gibt es sonst nur noch in Locarno. Fast 130.000 Menschen besuchten 461 Filmvorführungen, insgesamt wurden 235 Filme gezeigt. Karlsbad ist und bleibt das wichtigste Schaufenster für die Filme aus Osteuropa, und manchem ist darum – noch vor dem eigentlichen Wettbewerb – die „East of the West“-Sektion die interessanteste.

Zwölf Filme waren hier zu sehen, und von läppisch bis anspruchsvoll wurde eine illustre Bandbreite des Kinoschaffens in Osteuropa abgedeckt. Herausragend der slowakisch-tschechische Film Miracle von Juraj Lehotsky. Eindrucksvoll erzählt der Regisseur, 1975 in Bratislava geboren, die Geschichte der 15-jährigen Ela, die von ihrer Mutter nach zahlreichen Konflikten einfach in ein Erziehungsheim abgeschoben wird. Hier hält das sensible, sehr verletzliche und in sich gekehrte Mädchen an dem Traum fest, mit ihrem doppelten so alten Liebhaber eine gemeinsame Zukunft aufzubauen. Rau, direkt, sehr authentisch, mit seinem Blick für das ruppige Alltagsleben im Heim fast schon dokumentarisch, erinnert der Film sehr an Lukas Moodysons Lilja 4-ever. Eindrucksvoll die junge Michaela Bendilová, die zuvor noch nie vor einer Kamera gestanden hat und hier ebenso natürlich wie glaubwürdig agiert.

Von ganz anderem Kaliber war da Velvet Terrorists, eine slowakisch-tschechisch-kroatische Koproduktion. In drei Episoden, inszeniert von Ivan Ostrochovsky, Pavol Pekarcik and Peter Kerekes, geht der Film den Motiven dreier Männer nach, die zu Ostblock-Zeiten mit kleinen Aktionen gegen das kommunistische Regime der CSSR protestierten. Diese Auseinandersetzungen mit einer unbekannten Vergangenheit geschah auf ebenso innovative wie originelle Weise, dabei zwischen dokumentarisch wirkenden Gesprächen und humorvollen Spielszenen pendelnd.

Mutig war der polnische Beitrag Floating Skyscrapers des Regisseurs Tomasz Wasilewski über den jungen Leistungsschwimmer Kuba, der mit seiner Mutter und seiner Freundin in einer kleinen Wohnung zusammenlebt. Konflikte bleiben da nicht aus, zumal die Mutter sehr eifersüchtig über ihren Sohn wacht. Kubas Alltag wird vor allem durch das Training und die Wettbewerbe strukturiert. Doch dann lernt er Michal kennen – und mit ihm sein eigenes Coming out. Eine umgekehrte Dreiecksgeschichte also, mit freizügigen Sexszenen und – zumindest für polnische Verhältnisse – einem gewagten Thema.

Aus dem Hauptwettbewerb ragte vor allem A nagy füzet / Das große Heft von Jánosz Szász hervor, der auch den Preis der Grand Jury unter Leitung von Agnieszka Holland gewann, der wiederum von niemand Geringerem als Oliver Stone übergeben wurde. Nach dem viel diskutierten Roman von Agota Kristof erzählt der Film die Geschichte zweier 13-jähriger Zwillingsbrüder, die gegen Ende des Zweiten Weltkriegs von ihrer Mutter einfach in die Obhut der grausamen Großmutter in ein Dorf an der Grenze zu Ungarn gegeben werden. Die Brutalität des Krieges, gesehen mit den Augen von Kindern – das ist beklemmend und illusionslos inszeniert und von Christian Berger, Kameramann bei Michael Hanekes Das weiße Band und Caché, aufregend eingefangen.

Kontrovers aufgenommen wurde A Field in England, der neue Film von Ben Wheatley (Sightseers). Während des Bürgerkriegs in England werden drei Männer von einem Alchimisten gezwungen, an einer Schatzsuche teilzunehmen. Doch halluzinogene Pilze erschweren das Vorhaben. Surreal, blutrünstig, spöttisch, dabei in kontrastreichem Schwarzweiß gedreht – dafür gab es den Spezialpreis der Jury.