Das Endzeit-Kammerspiel von Alexandre Aja erschließt sich einem erst nach und nach und will im kleinen Setting ganz Großes. Das Experiment geht nur zum Teil auf.
Will man maximale Wirkung mit minimalen Mitteln und mit wenig Großes erreichen, greift Hollywood gerne zum Kammerspiel: Wenn Gefühle nicht fliehen können – oder besser: eingesperrt sind –, werden sie zu den berühmten hohen Wellen, die jeden und alles unter sich begraben. Nur ein einziger Ort als beengten Spielraum, der Fokus auf das Seelenleben der – ebenfalls spärlich gesäten – Protagonistinnen und Protagonisten, die Hinwendung zum psychologischen Drama und der damit unvermeidliche Fokus auf die Darstellungskunst des Casts: Kammerspiele sind effektive emotionale Filmgemälde, eindringlich und zeitlos zugleich.
Um Zeit geht es auch in Alexandre Ajas neuem Netflix-Psychothriller Oxygen, in dem sich der für seine Gewaltorgien berühmte Regisseur (u.a. The Hills Have Eyes) so minimalistisch und zurückgenommen wie nie zuvor zeigt und zwar tief in die Trickkiste des Kammerspiels greift, dessen Stärken aber trotzdem niemals vollends ausspielt.
Cineastischer Fleckerlteppich
Nach einer Großaufnahme einer Ratte in einem Labyrinth – sie ist sowohl Red Herring als auch der erste Hinweis auf des Rätsels Lösung – sind wir dort angekommen, wo wir die restlichen 101 Minuten bleiben werden: nämlich in einer beengenden futuristischen Kältekammer. Dort erwacht eine zuerst namenslose Frau (Mélanie Laurent; ursprünglich war Anne Hathaway vorgesehen), die keine Ahnung hat, wer sie ist, geschweige denn, wie sie hierher gekommen ist. Als Zugeständnis an das Publikum (irgendwelche Dialoge brauchen wir dann schließlich doch!) darf sie mit einer K.I. namens M.I.L.O. sprechen, der die Kammer mit freundlich-sanfter Stimme kontrolliert. Von Anfang an ist klar: Der Sauerstoff wird immer knapper, die Kyrokammer scheint für Elizabeth (so heißt die Gefangene, wie man recht bald erfährt) zum hochtechnisierte Sarg zu werden. Um überhaupt einen Hauch an Überlebenschance zu haben, muss sie sich daran erinnern, wer sie ist …
Oxygen mutet wie ein cineastischer Fleckerteppich an: Unweigerlich wird man an den 2010er Kammerspiel-Thriller Buried von Rodrigo Cortés erinnert, in dem sich Ryan Reynolds, lebendig begraben, aus einem Sarg befreien muss. Hier wie dort darf der Held/die Heldin mit der Außenwelt per Telefon kommunizieren, was sich natürlich als äußerst schwierig herausstellt; in beiden Filmen spielt zudem die Sauerstoffknappheit die zweite Hauptrolle. Da Elizabeth mittels kleiner Hinweise, die sie im Laufe des Films entdeckt, der Lösung (in ihrem Fall: der Befreiung aus der Kapsel) immer näher kommt, verortet sich Oxygen auch stark im Escape Room-Genre. Die (beinahe) in Echtzeit spielende Handlung und der ständige Blick auf die Vitalwerte und die Sauerstoffreserve atmen freilich starken 24-Geist. Zu guter Letzt lässt das Setting glasklare Erinnerungen an Kubricks Klassiker 2001: A Space Odyssey aufkommen – und noch weitere Filme kommen einem in den Sinn, die wir aus Spoiler-Gründen an dieser Stelle aber verschweigen müssen.
Von allem etwas zu viel
Im Grunde macht Oxygen etliches richtig: vor allem in der ersten Hälfte schafft es Aja, Klaustrophobie und die urmenschliche Angst des Lebendig-Begraben-Seins zur Kunstform zu erheben. Ob absichtlich oder nicht, spielt er zudem raffiniert mit aktuellen Ängsten wie Einsamkeit, Eingesperrt-Sein sowie der menschlichen Machtlosigkeit gegen Künstliche Intelligenz. Stringent wird die in elegante Bilder gepackte Spannungsschraube immer stärker angezogen, auch wenn sich schon bald die ersten Schwächen des Films zeigen: denn Oxygen meint es gut, will aber einfach zu viel. Der Score ist etwas zu dramatisch, die blitzhaften Schockmomente zu inszeniert, die Kamerafahrten ein Stück zu metaphorisch, die freundliche von M.I.L.O. zu dick aufgetragen, Elizabeths Visionen (oder Erinnerungen?) viel zu kitschig. Die Protagonistin erlebt ein Wechselbad der Gefühle, von Laurent auch durchaus glaubhaft dargestellt, aber abgeholt wird man als Zuseher davon nicht – auch deshalb, da manche ihre Aktionen nicht nachvollziehbar sind und die Frage, was Realität und was Einbildung ist, eher die Handlung stört als unterstützt.
Interessanter Twist, aber am Ziel vorbei
Da hilft auch der Twist zur Hälfte der Spielzeit nicht, der zwar vieles auf den Kopf stellt, aber bei weitem nicht so innovativ und neu ist, wie es sich Drehbuchautorin Christie LeBlanc wohl gewünscht hätte. Danach fällt es mitunter schwer, den Film noch wirklich ernstzunehmen, da die Plotholes so groß wie Meteoriten sind und vor allem zahlreiche spannende Möglichkeiten dieser neu entwickelten Story auf der Strecke bleiben: Es geht um moralische Dilemma, es geht um Ethik, es geht darum, was einen Menschen ausmacht. In die Tiefe geht Leblanc dabei nie, es wirkt fast so, als wären diese Fragestellungen nur nötig, um die interne Logik des Films aufrecht zu erhalten. Kammerspiele eignen sich wunderbar, um die menschliche Seele zu erörtern, um Beziehungen unter ein Kaleidoskop zu stellen – aber nicht, um sich Gedanken über die Existenz von Menschen zu machen, noch dazu in einer Kältekapsel, die sich in manchmal unfreiwillig komischen Situationen gegen die Heldin richtet.
Letztlich ist Oxygen ein gut gemeinter Kammerspiel-Psycho-Thriller, der stark besetzt und teils elegant inszeniert ist, dem aber trotz Übermotiviertheit nach der Hälfte der Mut ausgeht und sich zu sehr an der eigenen philosophischen Weisheit weidet. Damit bleiben dramaturgische Chancen ungenutzt, und auch das Ende kommt zu schnell und etwas zu konstruiert daher.