Von Sugarmamas und Selbstgeißelung erzählen die ersten beiden Filme von Ulrich Seidls Trilogie „Paradies“, und von einigem mehr. Der Regisseur im Gespräch über „Liebe“, „Glaube“ und „Hoffnung“.
Es gibt jeweils eine Szene in den ersten beiden Teilen von Ulrich Seidls „Paradies“-Trilogie, da befinden sich die weiblichen Hauptfiguren so tief in ihrer eigenen Hölle, dass ihnen dieser Zustand beinahe ideal vorkommt. Wenn die Sextouristin Teresa (Margarethe Tiesel) in Paradies: Liebe von ihren Freundinnen im Afrika-Urlaub einen Schwarzen „geschenkt“ bekommt und die Frauen auf dem Bett alle gleichzeitig mit seinem Penis spielen, dann ist das post-illusorisch, und Tränen gibt es längst keine mehr. Und obwohl die obsessiv katholische Anna-Maria (Maria Hofstätter) in Paradies: Glaube in der Nacht das Kruzifix zu sich ins Bett holt, um zu masturbieren, wird sie später ihren „Ehemann Jesus“ wieder auspeitschen, genauso wie sich selbst, wenn sie auf ihren moslemischen Mann im Rollstuhl wütend ist oder die Sünden der anderen bereut.
„Ich mache die Welt nicht schockierend und unerträglich. Ich versuche nur, sie realistisch zu zeigen“, sagt Regisseur Ulrich Seidl über seine Arbeit, die bei aller Härte immer auch Humor aufweist. Als Sohn einer streng religiösen Ärztefamilie in Horn aufgewachsen, sollte er eigentlich Priester werden. Katholizismus ist ihm ein immer prominentes Thema, neben seinen zentralen Motiven der Einsamkeit und der Sexualität. In seiner für ihn typischen Mischung aus Fiktion und Dokumentation, mit Profischauspielern und Laiendarstellern, im Blick immer die „Authentizität“, etablierte sich Seidl mit Arbeiten wie Good News, Tierische Liebe, Models oder Jesus du weißt. 2001 erhielt sein bis dahin „fiktionalster“ Film Hundstage in Venedig den Großen Preis der Jury. 2007 war er mit Import Export im Wettbewerb von Cannes, wohin er im Mai dieses Jahres mit Paradies: Liebe, dem ersten Teil seiner Trilogie „über drei Frauen und die Liebe“, zurückkehrte. Der zweite, Paradies: Glaube, lief im vergangenen September im Wettbewerb von Venedig – und zog dort prompt eine Anzeige wegen Blasphemie nach sich: Die ultrakonservativ katholische, italienische Organisation NO 194 sah durch den Film die „Gefühle der Christen“ verletzt.
Seidl stört es nicht, wenn er als „Extremfilmer“ bezeichnet wird, auch wenn er selbst lieber von der Liebe als Antrieb für seine radikalen humanistischen Porträts spricht. „Jedenfalls Sehnsuchtsfilme“ nennt der österreichische Filmemacher seine Trilogie, die ursprünglich als einzelner Episodenfilm geplant war. Weil bei den Dreharbeiten das Projekt auf mehr als 90 Stunden Filmmaterial anwuchs, beschloss Seidl, dass die „beste künstlerische Lösung“ drei Filme seien; Liebe, Glaube und Hoffnung – „ohne absichtliche Referenz auf Hugo von Hofmannsthal“ (Seidl) – soll aber kein Kompendium brisanter Gesellschaftsthemen sein: „Mich interessiert es, Geschichten über Frauen zu erzählen.“
Was ist das Paradies für Teresa im Film Liebe?
Ulrich Seidl: Sie ist eine von allen Männern enttäuschte Frau. Eine allein erziehende Mutter in einem Alter, in dem sie nicht mehr die Attraktivität besitzt, um einfach an ihren Traummann zu kommen. Sie ist auf der Suche nach der Erfüllung ihrer Sehnsucht, nach den Verheißungen, die das Wort „Paradies“ mit sich bringt. Sie fährt nach Afrika, um das Glück zu finden, was gerade angesichts von Afrikas Geschichte, seiner Zerrissenheit und der aufgeladenen gesellschaftlichen Zustände dort ein Paradoxon ist.
Teresa ist eine der Frauen, die sich am Strand von Kenia gegen Geld einen schwarzen Beachboy fürs Bett suchen. Die Frauen im Film sind Schauspielerinnen, die schwarzen Männer Laien. Wie hat sich die Zusammenarbeit gestaltet?
Ich arbeite immer mit einer langen Vorbereitungszeit. Zwei Jahre vor Drehbeginn habe ich begonnen, Beachboys und ihre Lebensumstände kennenzulernen. Ich habe mit ihnen Zeit verbracht, bin mit ihnen in ihr Dorf gefahren, habe ihre Eltern und ihre Frauen kennengelernt. Einfach war das nicht, denn als Filmteam waren wir am Strand nicht gern gesehen, die Menschen haben schon viele schlechte Erfahrungen mit negativer Berichterstattung gemacht. Es war nicht leicht, sich auf Zusagen verlassen zu können, zudem funktioniert dort nichts ohne Geld, erst recht, wenn man aus Europa kommt, das für den verheerenden Kolonialismus dort verantwortlich war. Aber ich wollte wissen, wie der Alltag der Beachboys funktioniert und wie diese Männer denken. Vieles von diesen Recherchen ist dann ins Drehbuch eingeflossen. Ich habe die Männer mit ihren „Sugarmamas“ – so werden die weißen Sextouristinnen genannt – erlebt und dabei gesehen, dass die weiße Frau den schwarzen Mann immer wie ein kleines Kind bevormundet. Dauernd sagt sie: „So musst du das machen.“ Und: „So ist es schon besser.“ Diese Erfahrung ist später eingeflossen in die Bettszene, in der Teresa Munga erklärt, wie er sie anfassen soll.
Viele der Szenen schlingern zwischen Witz und Schmerz.
Das ist eine Mischung, für die ich sehr dankbar bin. Sie ist aber einfach aus der jeweiligen Situation entstanden, wenn wir zum Beispiel gedreht haben, was in so einem Entertainment-Club vor sich geht. Das öffnet den Film sowohl zum Lachen als auch zum Weinen.
Sie zeigen die Entwicklung Teresas von einer romantischen Urlaubsflirterin hin zur nüchternen, postkolonialistischen Sexkundin.
Ja, sie verroht und denkt sich jetzt ebenfalls: Wenn mir die Ware nicht passt, schick ich sie zurück. Damit ähnelt sie immer mehr dem, was man vom männlichen Sextourismus kennt.
Unterscheiden sich die Beachboys von weiblichen Prostituierten?
Die Beachboys kalkulieren natürlich auf ihre Weise auch: Je länger ich eine weiße Frau um den Finger wickle, desto länger fließt Geld. Ich habe übrigens auch Szenen gedreht, wo ich schonungslose Offenheit von ihnen wollte, um zu erfahren, wie sie denn untereinander über weiße Frauen reden. Natürlich machen sie sich auch lustig.
Das ist im Film nicht zu sehen.
Nein, das wird wohl in ein späteres Projekt einfließen.
Jede der Frauen in dieser Trilogie will bloß das Glück finden.
Das, und sie wollen ausbrechen. In allen drei Geschichten sind die Frauen in einer Art Gefängnis: ein Hotel-Resort und ein Haus in Niederösterreich, ein Diätcamp für die übergewichtige Teenager-Tochter von Teresa im Film Hoffnung, in dem sie sich in den dreimal so alten Arzt verliebt. Jedes dieser Gefängnisse ist ein eigener Kosmos, mit eigenen Bildern, mit einem eigenem Duktus. Teresas Tochter zum Beispiel ist noch unschuldig, aber durch ihr Übergewicht genauso „gehandicapt“ wie ihre Mutter oder ihre Tante.
Heißt das, den Figuren gelingt es nicht, „normal“ zu sein?
So würde ich das nicht sagen. Andererseits: Jeder normale Mensch hat ein Handicap. Niemand ist perfekt, jeder hat letztlich ein äußeres oder inneres Gebrechen. Insofern geht es immer um uns alle.
Sind es die Gebrechen, die Sie an einer Figur interessieren?
Als Filmemacher habe ich mich immer für Außenseiter interessiert, aber schon mit Der Ball zum Beispiel habe ich dann mein Milieu, meine Heimatstadt, meine Jugend verarbeitet. Meine Jugend war ja auch ein Außenseitertum, für mich. Generell kann ich sagen, meine Filme handeln von den essenziellen Dingen des Lebens: von der Liebe, von der Einsamkeit, von der Vergänglichkeit, vom Tod, von Sexualität und Machtverhältnissen.
Margarethe Tiesel spielt Teresa mit unglaublicher Präsenz und Nonchalance.
Wir haben für diese Rolle fast ein Jahr lang gecastet. Es war sehr wichtig, dass die Darstellerin nicht nur das richtige Alter und die richtige Figur hat, sondern auch vor der Kamera Szenen improvisieren kann und dabei authentisch ist. Margarethe Tiesel ist ein Glücksfall.
Gerade in Bezug auf ihre körperliche Darstellung müssen die Schauspieler Ihnen vertrauen können.
Hautnahe Bilder sind mir wichtig. Ich liebe es, Menschen körperlich und ungeschminkt zu zeigen. Das Ungeschönte birgt viel mehr Schönheit und Wahrheit.
Ihre Bildsprache ist sehr markant. Was soll für Sie in einem Frame sein?
Das starre Bild ist für mich wie ein Gemälde, etwas, das ich versuche, bis ins letzte Detail auszunutzen, auch zu überhöhen; hier spricht das Bild für sich, hier brauche ich keinen Dialog, keinen Text. Das Bild ist so gestaltet, dass der Mensch, wie er in diesem Raum ist, diesem Bild eine Aussage gibt, die man nicht verbalisieren muss. Das kann und soll Film leisten, finde ich. Bei bewegten Bildern arbeite ich gern mit einer Handkamera, da denke ich an die Idee des Cinéma vérité, wo es darum geht, möglichst so zu tun, als beeinflusse man die Wirklichkeit nicht. Natürlich ist das eine Lüge, denn man beeinflusst die Wirklichkeit immer, sobald man auftritt.
Stört Sie das?
Ich versuche immer, möglichst wahrhaftig zu sein, auch wenn ich eine fiktive Geschichte erzähle. Der Zuschauer soll verunsichert sein, ob das, was er sieht, nun wahr ist oder nicht. So lehnt man sich nicht zurück und sieht andere Menschen an, mit denen man nichts zu tun hat, sondern es wirft einen auf sich selbst zurück.
In Italien hat man sich von Paradies: Glaube stark angegriffen gefühlt. Sie, Ihr Team sowie der Festivaldirektor von Venedig wurden wegen „Blasphemie“ angezeigt. Wie empfinden Sie so ein Echo?
Ich empfand das als befriedigend. Ich kalkuliere schon immer mit ein, dass es jemandem missfallen könnte, wie ich die Realität sehe. Für die Figur im Film ist es richtig, die hier inkriminierte Masturbationsszene zu zeigen: Sie macht Liebe mit Jesus. Dass das ein Tabu ist, bedeutet ja nicht, dass ich es nicht zeigen darf! Anna-Maria handelt grundsätzlich in ihrer Überzeugung, geleitet von ihrer Liebe zu Jesus. Ich zeige das, aber ich bewerte es nicht. Jedenfalls aber ziehe ich den Aufruhr der Ruhe immer vor.
Interessiert Sie der Tabu-Bruch generell in Ihren Filmen?
Nein, das darf auch nie das Ziel sein. Etwas zu machen, nur um zu provozieren – da würde man schnell entlarvt werden. Aber die Wahrheit zu zeigen, die Realität, wie sie ist, provoziert eben oft einen Skandal. Doch das ist gut so. Skandale bewirken einen Austausch, einen Denkprozess. Meine Filme verstören oft nur deswegen, weil ich versuche, den Blick auf das Normale zu lenken, wo sich viele nicht hinsehen trauen, obwohl oder weil es so normal ist. Verstörung ist sicher kein Muss eines Films, aber ein Film sollte auch nicht den Ist-Zustand bestätigen. Kunst muss immer hinterfragen, Kunst soll nichts beschönigen. Kunst ist dazu da, die Menschen und Zuschauer auf etwas aufmerksam zu machen und ihnen Stoff zu geben, über Eigenes oder über unsere Gesellschaft nachzudenken.
Wo sehen Sie denn die Verbindung zwischen Religion und Sexualität?
In dieser Verbindung nimmt der Glaube eine pervertierte Form an. Über Jahrhunderte hinweg hat die katholische Kirche Sexualität unterdrückt, und natürlich führt dies irgendwann zu einer Gegenbewegung. Während die Kirche ständig sexuelle Tabus hochhält, passieren hinter verschlossenen Türen die schrecklichsten Dinge. Das ist ein Skandal. Aber es ist auch die logische Konsequenz. Die Unterdrückung von Sexualität bewirkt eine Erosion der Moral. Anna-Maria im Film ist davon überzeugt, dass die Gesellschaft dem Sex verfallen ist. Dafür geißelt sie sich selbst, was ihr wiederum Lust verschafft. Es ist nur eine dünne Linie zwischen Schmerz und Lust.
Sind Sie im Zuge der Vorbereitungen zu Glaube tatsächlich selbst mit einer Muttergottes-Statue von Haus zu Haus gegangen?
Ja, ich hatte bei meinem Film Jesus du weißt entdeckt, dass es Leute gibt, die auf diese Weise missionieren. Wir mussten das für Glaube einfach selbst versuchen. Es war unangenehm. Maria Hofstätter war meist an der Tür, und ich habe mit versteckter Handy-Kamera gefilmt.
Sie haben oft Ihre streng katholische Erziehung als sehr einengend, beängstigend und unterdrückend beschrieben. Wieviel davon fließt noch in Ihre Filme ein?
Mittlerweile habe ich mich daran schon eher abgearbeitet und bin damit im Frieden. Aber streng katholisch aufzuwachsen hat mich rebellieren lassen gegen die Scheinheiligkeit, die mir in diesem Umfeld immer begegnet ist. Jeder ist schließlich das, woher er kommt und wie er aufgewachsen ist. Ich habe ein halbes Leben damit verbracht, mich gegen die Heuchelei des Katholizismus zu wenden, auch gegen die Autorität von Familie und Schule. Ich habe zwar darunter gelitten, aber am Ende hat mich diese Auseinandersetzung gestärkt. Mir ist daraus der Gedanke der Solidarität geblieben. Jemandem etwas zu geben, der weniger hat. Das habe ich in mir, von solchen Gedanken bin ich getragen. Auch von der Individualität und der Würde des Einzelnen. Ich lehne die christlichen Werte in keiner Weise ab, aber ich kann keinesfalls unterstützen, was die Verdrehung solcher Werte aus manchen Menschen macht.
Ist Anna-Maria eine katholische Fundamentalistin?
Es scheint mir nicht fair, sie so zu beschreiben, weil dieser Begriff zu sehr mit Terrorismus assoziiert wird, also impliziert, dass eine Person bereit ist, Gewalt anzuwenden, um ihre Interessen zu verfolgen. Maria ist nicht gewaltbereit, sie ist auch keine Missionarin. Aber in ihrem Glauben und in ihrer Liebe zu Jesus agiert sie extrem.
Anna-Maria ist unglücklich mit einem Moslem im Rollstuhl verheiratet, und ihre täglichen Ehestreitigkeiten reflektieren, auf einer kleineren Skala, die kulturellen Konflikte zwischen Islam und Katholizismus. Wollten Sie damit die aktuelle Debatte kommentieren?
Dieser Konflikt herrscht überall, und dieser Film zeigt nur ein Beispiel, wie es sein kann. Die beiden sind im Namen ihrer jeweiligen Religion sehr grausam zueinander, weil sie im Prinzip genau für jene Sexualität kämpfen, die ihre Religion unterdrückt. Nur kämpfen sie gegen den jeweils Falschen.
Woher nehmen Sie Ihr Wissen über den Islam?
Als Autor nehme ich mir die Freiheit, über das zu schreiben, was ich erlebt habe. Mit Nabil Saleh, dem Laiendarsteller von Anna-Marias Ehemann im Film, der selbst ein gläubiger und praktizierender Moslem ist, habe ich viel darüber gesprochen, wie man einen Moslem wahrheitsgetreu präsentieren kann. Was ich aus diesen Gesprächen erfahren habe, hat mich in dem bestärkt, was mir schon aus meinen Reisen in islamische Länder bekannt gewesen war. Der Hauptkonflikt für den Ehemann ist lokal verortet: Im Westen bringt er Sexualität und Lust auch nicht zusammen, obwohl hier die Frauen viel leichter „verfügbar“ sind als in einem islamischen Land. Gleichzeitig sind sie deswegen aber schnell als Huren verschrien, vor allem bei muslimischen Männern.
In all Ihren Filmen haben die Figuren schwerwiegende Probleme mit Sexualität, warum eigentlich?
Sexualität ist ein menschlicher Urtrieb. Dieser Trieb nimmt im Leben eines jeden eine wichtige Rolle ein, sei es im positiven oder negativen Sinn. Jeder hat letztlich Probleme, mit diesem Trieb umzugehen.
Was interessiert Sie speziell an der weiblichen Perspektive?
Viele würden das Gegenteil behaupten, aber im Prinzip bin ich ein Frauenfilmer. Ich finde Frauen interessanter als Männer. Warum das so ist, vermag ich nicht zu sagen, aber sie erscheinen mir komplexer in meiner Annäherung, sie zu verstehen.
Wird Paradies: Hoffnung den Hattrick schaffen und bei der Berlinale 2013 im Wettbewerb sein?
Das streben wir an.