Mit „Paranoid Park“ reift das fragil konstruierte Adoleszenz-Kino von Gus Van Sant zu ästhetischer Perfektion.
Alex ist allein. Er hat Eltern, eine Freundin, einen Skater-Kumpel und ein paar Bekannte aus der Schule, aber in der Tiefe seines Inneren ist Alex allein. Wenn er auf seinem Skateboard dahingleitet, ist er frei, aber eben nur frei für sich. Ein einschneidendes Erlebnis führt seine Isolation auf eine ihm unbekannte Ebene, ein Todesfall, den er zu verantworten hätte, den zu verantworten er sich aber nicht in der Lage fühlt. Er ist, wenn man so will, zu paranoid, um mit jemandem darüber zu sprechen.
Indem Alex die Erfahrung schließlich aufschreibt, setzt eine in fragil rhythmisierten Rückblenden überlappende Filmerzählung ein, und in ihm selbst ein diffuser Prozess der Verarbeitung des Erlebten. In ihm, wohlgemerkt, nicht im Zuschauer. Dass der sich in Alex’ Kopf nicht einnisten kann, dafür sorgt eine komplexe Zeitstruktur und vor allem die bruchstückhafte Montage der Flashbacks, die sich nur zögerlich, in immer neuen Anläufen, an das nächtliche Ereignis herantraut – als vollzöge sich in Paranoid Park, ohne Anleitung, die schubweise voranschwappende Traumatherapie eines Teenagers.
Motion rules
„You are never really ready for Paranoid Park“, kommt Alex einmal mit seinem Freund Jared überein, also könne man sich die Sache ja einfach einmal spontan ansehen. Der Paranoid Park, recht weit weg vom Wohnort der beiden unter einer Brücke an der Eastside von Oregon gelegen, ist das Mekka der „Streeters“. Hier leben Jugendliche, für die sich niemand anderer zuständig erachtet als sie selbst. Hier sind die Regeln des Alltags außer Kraft gesetzt. Alex und Jared tauchen auf ihren Boards in das lose Treiben ein. Motion rules unter all diesen coolen Freigeistern, Bewegung findet statt, jede für sich. Dazwischen Ruhepausen, in denen man an den Rändern der Tubes abhängt. Hier kann man die Scheidung der Eltern vergessen, und das vom Vater in Beamtenenglisch vorgetragene Trennungsprotokoll. Hier verliert sie vollends ihre Bedeutung, die Beziehung mit der Cheerleader-Schönheit, die zum ersten Sex nötigt, um diesen Sekunden später via Handy der Freundin zu melden. Aber könnte man hier auch verdrängen, dass man in der Nähe eben dieses Ortes, im Zuge einer nächtlichen Eskapade, einen Menschen getötet hat?
Wie existenziell auf sich zurückgeworfen ein Knabe in so einer Situation empfindet, kann man schwer ermessen und im Kino nicht ehrlich fühlbar machen. Einer, der in Sachen filmischer Adoleszenzerfahrung mittlerweile Rang und Namen hat, weiß das. Gus Van Sant setzt Alex’ Geschichte in Szene, indem er diesem stets nur so nahe rückt wie unbedingt nötig. Aus der gleichnamigen Romanvorlage Blake Nelsons gewinnt er eine flagrante Essenz, die sich nicht für psychologische Innerlichkeit interessiert, und schon gar nicht für Schuld und Sühne. Van Sants Strategie, außen vor zu bleiben, sich in Alex’ Bewusstsein nur in Nuancen einzumischen, wird – neben dem von Van Sant gern als Brechungsinstrument gespielten Schnitt – vor allem durch kontrapunktische Kombinationen von Bild und Ton deutlich. Die Soundgestaltung arbeitet häufig offen gegen die Bilder, jedes Mittel ist ihr dabei recht: Banalpop, Klassik, Rap, beiläufige Hintergrundklänge, elektronische Soundteppichfetzen und nicht zuletzt stark kontrastierende Motive aus den Fellini-Filmen Giulietta degli Spiriti (1965) und Amarcord (1973) – Hauptsache, der Sound schmiegt sich nicht nachhaltig an die Bildfolgen.
Flüchtige Magie
Die Kamera von Christopher Doyle und meist verlangsamtes Super-8-Skatermaterial von Rain Kathy Li erzeugen eindrückliche Ausschnitte aus dem Lebensgefühl der „Streeter“. An den Wänden der Tubes pendeln sie hin und her, nie sehen wir sie abheben und nie landen, ein zielloses Floaten in Slow Motion, ein Schweben im Zustand größtmöglicher Freiheit, vielleicht Verlassenheit: So findet eine kaum beschreibbare Befindlichkeit ihren äußeren Ausdruck. Beim Skaten sind sie ganz bei sich, und wir sind geblendet von ihrer Abbildung, die den bescheidenen 1.37-Rahmen zu sprengen scheint. Musik und Montage tun jedoch alles, um den zauberhaften Eindruck wieder zu verflüchtigen. Sie vernichten aufkeimende Empathie durch eine ästhetische Distanz, die intime Einblicke in die Suchbewegungen juveniler Identität gar nicht erst suggeriert. Es handelt sich, das unterstreicht Van Sants ausgeklügelte Filmsprache, um ein geschlossenes Universum.
Paranoid Park ist kein Porträt einer „Skater-Community“, ebenso wenig wie man streng genommen von einem Coming-of-Age-Drama (wie noch bei Van Sants Finding Forrester, 2000) sprechen kann. In Alex wird – von der gefährlichen Aura des Titelareals ausgehend – etwas ausgelöst. Ob er dadurch reift, bleibt offen. Keine Entwicklung eines moralisch wachsenden Helden ist hier zu sehen, sondern lediglich kunstvoll gebrochene Momentaufnahmen rund um einen passiven, in sich gekehrten, driftenden Teenager. Immerhin: Alex trennt sich von der programmierten Prom-Queen (deren Vorwürfe werden von beschwingter Musik übertönt), lässt stattdessen Macy, ein befreundetes Mädchen, näher an sich ran. Macy ist nicht so hübsch wie Jennifer, vermag aber geschickt mit ihm umzugehen. Sie animiert ihn, das, wie er sagt, „auf einer anderen Ebene“ Erlebte aufzuschreiben. Ob das zu Papier Gebrachte danach jemand liest, hält sie für ähnlich unbedeutend wie Van Sant. Ob Macy den Burschen der Welt zurückbringen kann? Auch das lässt der Regisseur offen.
Unzugänglicher Kosmos
Paranoid Park erzählt, wie auch frühere Arbeiten Van Sants, von einem Kosmos, in dem Erwachsene keine Rolle spielen. Sie berühren die Kids buchstäblich nicht, bleiben unscharf im Hintergrund. In den Fokus darf nur der treffsicher gecastete Detective Liu, der in Alex’ Schule unter Anwendung freundlich schwerer Korrektheit den Todesfall aufzuklären sucht. Die langen, linoleumgespiegelten Schulkorridore aus Elephant (2003) greifen erneut Raum, das wundersame Stück mit dem sprechenden Titel Walk through resonant landscape II hallt, ebenfalls aus Elephant, wider. Was das Thema jugendlicher Identitätssuche betrifft, hat Paranoid Park durchaus mit älteren Filmen Van Sants zu tun, Mala Noche (1985) oder My Own Private Idaho (1991) – formal hat er sich dagegen so weit von diesen Filmen entfernt, dass man den Urheber kaum als ein und denselben erraten könnte.
Der Mann hat quasi über die Jahre dazugelernt. Entscheidende Erfahrungen machen die Kids in ihren peer groups, Van Sant beobachtet sie dabei und räumt ihnen geradezu obsessiv den notwendigen Platz ein. Alex lässt er eine Voiceover sprechen, dennoch darf dieser seine Geheimnisse für sich behalten. Das äußere Geschehen bettet Van Sant – ohne sich um Logik, Plot und Psychologie zu kümmern – in eine ästhetisch eindrückliche Atmosphäre. Man könnte es auch so drehen: Wäre ein Filmtext imstande sich selbst zu schreiben, Gus Van Sant wäre als Erster verdächtig, dazu den Anstoß zu geben.