Das Österreichische Filmmuseum lädt Ende April zur Wiederentdeckung einiger Arbeiten des britischen Nonkonformisten Peter Watkins.
In Diary of an Unknown Soldier (1959), einem seiner ersten „pseudo-dokumentarischen“ 8mm-Amateurfilme, der im Nirgendwo der Schützengräben des Ersten Weltkriegs spielt, ließ Peter Watkins seinen unbekannten Soldaten innerlich monologisieren: „I can see the details of a battle in my mind. This is what I’m going to go through.“ Das waren programmatische Sätze, denn der Fokussierung auf „den einzelnen Menschen“ (der in Watkins’ Filmen durchgängig von Laiendarstellern verkörpert wird) und sein Schicksal im Angesicht von Kriegen, Faschismen und Revolutionen blieb der streitbare Humanist auch in seinen späteren professionellen Arbeiten treu. Beginnend mit Culloden (1964), seiner ersten Zusammenarbeit mit der BBC, die durch Diary of an Unknown Soldier und The forgotten Faces (1960) – einer Neewsreel-artigen Rekonstruktion des Ungarn-Aufstands von 1956 – auf den damals 25-Jährigen aufmerksam geworden war, entwarf Watkins ein radikales politisches und ästhetisches Filmkonzept. Dieses bezog seine agitatorische Kraft zu gleichen Teilen aus der zeitgenössischen Direct-Cinema-Dringlichkeit und einer bis dato ungesehenen fiktionalen Zuspitzung realpolitischer Verhältnisse und Bedrohungen. Egal ob sich Watkins dabei historischer Geschehnisse wie der Schlacht von Culloden des Jahres 1746 bediente oder der Zustände im modernen England, das sich in The War Game (1965) einem Angriff mit Nuklearwaffen gegenübersieht: Die mit minimalen Mitteln hergestellten Fiktionen waren realistischer als vieles, was nicht nur der englische Dokumentarfilm zu diesem Zeitpunkt zu bieten hatte – vom Spielfilm ganz zu schweigen.
Kriegsspiele im Kopf
Die Schlacht von Culloden wurde zwischen schottischen Highland-Clans unter der Führung Charles Edward Stuarts (auch „Bonnie Prince Charlie” genannt, Sohn James Edwards, des katholischen Anwärters auf den britischen Thron) und protestantischen Regierungstruppen geschlagen. Sie endete mit der Abschlachtung von 5000 Clansmen durch die Royal Army, die gerade einmal 50 Tote zu beklagen hatte. Der erschreckende Realismus, der Watkins und seinem winzigen Ensemble bei der „Verfilmung” dieses Blutbads epischen Ausmaßes gelang, war verständlicherweise nicht den mageren production values dieser 3000-Pfund-Produktion zu verdanken, sondern dem für Watkins typischen Kunstgriff, die Protagonisten direkt in die Kamera sprechen zu lassen, als wäre es eine zeitgenössische Reportage aus dem Vietnamkrieg.
Die BBC brüstete sich mit dem alle Erwartungen übertreffenden Ergebnis und handelte sich mit ihrer zweiten – und letzten – Zusammenarbeit mit Watkins bei The War Game einen der peinlichsten Momente ihrer Geschichte ein: Die vom blanken Horror eines atomaren Holocaust à la Watkins in Panik versetzten Programmverantwortlichen ließen den Film (auf Anweisung der Regierung?) in der Versenkung verschwinden. 1966 gewann The War Game einen Acadamy Award. 1985, zwanzig Jahre nach seiner Entstehung, wurde er erstmals in Großbritannien ausgestrahlt.
Watkins sollte der BBC nie verzeihen und hob in den kommenden Jahren in Theorie und Praxis zum Angriff gegen die von ihm „Monoform“ genannte Gleichmacherei in den (und durch die) Massenmedien an, die heute in Gestalt der „Universal Clock“ – dem modularen Baukastensystem austauschbarer Sendeplätze und Inhalte – die Norm ist.
Impulsives Chaos
Watkins nächste subversive Arbeit, eine Trilogie dystopischer Science-Fiction-Filme, ließ sich schwerer als gedacht gegen die korrumpierende „Monoform“ in Stellung bringen: Sein letzter in England fertig gestellter Film, Privilege (1966), eine grelle Swinging-Sixties-meets-Faschismus-Extravaganza mit Popstar Paul Jones, sowie der folgende The Gladiators (Schweden 1968), in dem das Volk mit kriegerischen „Friedensspielen“ bei Laune gehalten werden soll, sind Beiträge zur Counterculture à la mode und damit nur die Kehrseite aus damaliger Sicht abzulehnender Kulturerzeugnisse. Punishment Park (USA 1970), der Alptraum vom kalifornischen Vernichtungslager, wo Nixons Amerika sich seiner „subversiven Elemente“ entledigt, erweiterte die von Watkins’ frühen Filmen geschlagene Bresche im Sinne einer partizipatorischen Utopie des Filmemachens: Die linken Studenten, die hier unter fiktiver Anwendung des realen „Internal Security Act” aus dem Jahr 1950 [die verpflichtende Registrierung aller kommunistischer Organisationen, Anm.] von Polizisten zur Strecke gebracht werden, konnten im Watkins’schen Psychodrama ihren echten Gefühlen – vier Kommilitonen waren am Campus der Kent-State-University von der Nationalgarde erschossen worden – freien Lauf lassen. Genau das taten auch ihre Antagonisten, nämlich die – schauspielernden – Reaktionäre.
Nach einer Reihe von Koproduktionen mit skandinavischen TV-Sendern, die heute nahezu unmöglich zu sehen sind – einzig von Edvard Munch (1973) gibt es eine DVD-Ausgabe und eine neue Kinokopie; The Seventies People (1974), The Trap (1975) und Evening Land (1976) bleiben bis auf weiteres verschollen –, beschloss Watkins, ein „Remake” von The War Game zu machen. Bald wurde ihm aber klar, dass diese neuerliche Annäherung an die Gefahren des Atomzeitalters ohne staatliche Unterstützung/Behinderung auskommen müsse, dafür jedoch mit der Hilfe vieler Einzelpersonen sowie Friedens- und Anti-Atomkraft-Gruppen, die alle gleichermaßen in den Schaffensprozess mit einzubeziehen wären. Das Ergebnis heißt The Journey, wurde 1987 fertig gestellt und dauert 14 Stunden und 30 Minuten.
La Commune (Paris, 1871) aus dem Jahr 1999, Watkins’ bislang letztes Werk, scheint alle vorangegangenen Themen seiner Filme noch einmal zu bündeln: Ein Ensemble aus über 200 Laiendarstellern und professionellen Schauspielern erarbeitete sich gemeinsam in langen Recherchen die Ereignisse der Pariser Kommune von 1871. Das fast sechsstündige filmische Ergebnis ist in seiner chaotisch und impulsiv wirkenden Prozesshaftigkeit faszinierend, weil es bei den Protagonisten ähnlich widersprüchliche Gedanken und Gefühle zu evozieren scheint, wie sie auch die Kommunarden 1871 gehabt haben mochten: Stolz und Schock über den geglückten Coup.
Filmmuseum im April
Vor der Werkschau zu Peter Watkins (25.4. bis 3.5.) zeigt das Filmmuseum im April eine Retrospektive der Arbeiten des gebürtigen Wieners Josef von Sternberg. Neben den Klassikern mit Marlene Dietrich wie Der blaue Engel (1930), Morocco (1930) oder Shanghai Express (1932) stehen vor allem selten gezeigte Filme aus den 20er Jahren dieses Meisters im Umgang mit Licht und Schatten auf dem Programm. „Ich lasse den Wind des Lebens durch jede Szene wehen“, wird der fatalistische Realist Sternberg zitiert, und schon allein dies zu überprüfen ist den Besuch jedes einzelnen Films wert.