Die 14. Ausgabe von this human world ist zu Ende. Wie auch das Filmprogramm quantitativ nur einen Bruchteil der eigentlich angedachten Fülle bieten konnte, bietet sich als Rückschau ein besonderer Fokus an: vier Filme, deren experimentelle Beschäftigung mit Formen von Archivierung sowie mit gesprochenen Stimmen beeindruckende dokumentarische Praxis hervorbringt.
Szenen einer Ehe … oder besser, wie der Titel Radiograph of a Family verrät, ein Röntgen, eine durchdringende Strahlung, die sich bildlich mehrere Bahnen durch die Oberfläche bricht: Das Gerüst einer Beziehung wird aus Fotografien und Videoaufnahmen zusammengesetzt, eine Frau und ein Mann werden vorgestellt, sie in Teheran und er in Genf. Als die beiden nach anfänglicher Niederlassung in der Schweiz – erst ist mittlerweile als Radiologe akademisch erfolgreich – auf ihren Wunsch in den Iran zurückkehren, um dort ihr gemeinsames Kind in die Welt zu begleiten, ähnelt das Leben und Treiben in der dortigen Hauptstadt noch stark dem mitteleuropäischen. Reiche Archivaufnahmen zeigen allmählich die Unruhen, die in die Iranische Revolution münden sollten; mittendrin werden die religiöse, von der islamischen Utopie überzeugte Mutter der Filmemacherin und ihr säkularer, westliche Klassik hörender Vater auf eine große Beziehungsprobe gestellt.
Firouzeh Khosrovani erzählt über diese ineinander montierten Bilder, informiert und gibt Kontext, die mindestens ebenso einprägsame akustische und sprachliche Ebene stellen aber Dialoge und Briefe der beiden Eheleuten dar, die von einer Schauspielerin und einem Schauspieler eingesprochen werden. Dass deren Intonation den Vorgang der poetischen Dramatisierung noch stärker betont als notwendig, stört nur manchmal. Bevor der Film Gefahr läuft, diese auto(-semi-)fiktionalen Erinnerungsdokumente zueinander in Konkurrenz wirken zu lassen, behauptet sich wiederum ein besonderer visueller Kniff mit Fortdauer des Films immer deutlicher als Bindeglied zwischen allem Gesehenen und Gehörten: Abermals und abermals und stets vom gleichen Start- zum gleichen Endpunkt führt ein langsam und schnurgerade durch aneinandergereihte Raumabschnitte gleitender Shot durch das Elternhaus. Diese Einstellungen durch die unterschiedliche Raum-Einrichtung spiegelt den Komplex von Beziehung und gesellschaftspolitischer Situation in deren verschiedenen Phasen – andere Möbel, andere Bilder, andere Teppiche, andere Lebensweisen. Sie fangen dabei, indem sie fast wie perfekte 3D-Animationen wirken, die Heimlichkeit und die Unheimlichkeit des Artifiziellen ein, das Realität abbilden will. Und plötzlich, ganz zum Schluss, ist der Raum belebt.
Flüchtige Realitätsspuren
Radiograph of a Family wurde verdientermaßen mit dem Award der International Competition bedacht, und auch dass der Eröffnungsfilm des Festivals – Flee von Jonas Poher Rasmussen – bereits mit einigen Preisen ausgezeichnet wurde (u. a. den World Cinema Jury Prize in der Doku-Kategorie bei Sundance und gleich drei Europäische Filmpreise; darüber hinaus ist Flee Dänemarks aktueller Oscar-Kandidat), überrascht nicht. Flee arbeitet vorwiegend mit Animation, diese ist aber ein Gegenteil fotorealistischer Renderings: Amin und seine Geschichte einer Flucht aus Afghanistan, die er seinem filmschaffenden Freund Jonas nun endlich zur Gänze und in allen wahren Details erzählt, sind in zurückhaltenden, aber doch nicht strengen Linien und Farben gezeichnet; die Notwendigkeit dazu ergab sich aus der Tatsache, dass es für Amin schlicht zu riskant ist, sein Gesicht zu zeigen. Die Art und Weise, wie das „echte“ Footage der (nicht nur) kriegerischen Zustände in Kabul sich darin einfügt, zeugt von großem Fingerspitzengefühl. Mitunter wird auch abrupt direkt vermittelt, wie genau sich die Zeichnungsabfolgen an die physischen Wirklichkeiten halten, doch menschliche Tiefe findet sich ohnehin in allen Konturen und Flächen, die sich zu Amins Stimme verschieben.
Wieder wird, bei allem Fokus auf eine Einzelperson, eine Familie durchleuchtet. Der hürdenreiche, maßlos physisch und psychisch erschöpfende Prozess des Fliehens, des durch Gewalt erzwungenen Zurücklassens alles Bekannten, Heimischen und Sicheren ist der nicht-humane Protagonist, zusammengehalten vom familiären Gefüge, das einem einzigen Organismus gleich nichts weniger versucht, als am Leben zu bleiben. Auch wenn das heißt, dass sich individuelle Wege trennen müssen.
Der Blick auf Reisen
Eine gänzlich andere Form von Ortsverlagerung untersucht Courtney Stephens in ihrer Arbeit Terra Femme: Ausgehend von akribischer Recherche in Videoarchiven und zugehörigen Berichten und Biografien inszeniert sie einen sanften, aber doch rauschhaften Essay aus amateurfilmischen Reisetagebüchern von Frauen primär des (frühen) 20. Jahrhunderts. Ihre ursprüngliche Frage danach, ob und wie sich in solchen ein „female gaze“ finden ließe, weicht rasch vielen anderen: Mit welchem Geld wird gereist? Wessen Interessen werden mitverfolgt? Wer darf überhaupt wohin reisen, und wem ist es möglich?
Bearbeitungen dieser Fragen ergeben sich immer wieder in Wellen aus der Kombination von mal suggestivem, mal analytischem Voiceover der Filmemacherin und den Aufnahmen der verschiedenen Frauen mit Kamera, die oft weniger divers sind als sie scheinen – dann etwa, wenn in gleicher Manier Exotismen bedient werden, oder die gleichen Sehenswürdigkeiten gefilmt werden. Ist darin aber der universal prägende „colonial gaze“ von weiblicher Kamerahand geführt in einigen Fällen tatsächlich ein anderer? Fernab von meist durch imperialistischen Wohlstand ermöglichten Freizeitreisen in ferne Länder tun sich jedoch freilich auch weniger privilegierte Orstverlagerungen auf: Da ist die Frau, die von ihrem Mann mit dem Scheidungsbescheid gleich ein Überseeschifffahrts-Ticket nach Europa mitgeliefert bekommt, da sind aber auch die ehemals Versklavten und ihre Nachfahren, die erstmals den Süden der USA verlassen. Die Entwicklung ihrer Ausgangsfrage fasst Stephens einmal nüchtern zusammen: „looking for documents of feminist freedom and finding other forms of domination“.
Terra Femme bereist Bilder und Historie in einem kurzweiligen Trip, der sowohl dazu einlädt, sich mit dokumentarischen Fakten überfordern zu lassen als auch dazu, sich fragmentierten Erinnerungsströmen kontemplativ hinzugeben. Seiner Autorin gelingt dabei das, was sie in einer der Amateurfilm-Serien besonders bewundernd ausgemacht hat: das Anti-Monumentale.
Hier und Jetzt?
Als jener Film der vier hier besprochenen, der am wenigsten mit Video-Archivmaterial arbeitet, konzentriert sich Die vergangenen Zukünfte von Johannes Gierlinger auf Zusammenhänge der kollektiven Gedächtnispflege anhand der Geschehnisse der Märzrevolution 1848 und jüngster Erinnerungs- und Protestkultur in Wien. Archivbilder funken als beinahe zuckende Zwischenschnitte zweimal auf: Einmal die antisemitischen Wegbereiter Lueger und von Schönerer, einmal Neda Agha-Soltan, berühmt gewordenes Todesopfer iranischer Proteste gegen die Wiederwahl von Präsident Ahmadineschād. So weit, so willkürlich? Der dritte Einsatz ist dann mehr als ein Nadelstich: Schwarzweiß-Aufnahmen ohne Ton zeigen die (ebenfalls tödliche) Jagd von Polizisten auf die protestierende Bevölkerung nach dem Notwehr-Urteil bezüglich der tödlichen Schüsse von Mitgliedern der rechten „Frontkämpfervereinigung“ in Schattendorf.
1927 liefert zwar die Bilder, die Genealogie von Protest, mangelhaftem Gedenken und wiederaufkeimendem Faschismus zieht Gierlinger aber von 1848 in die Gegenwart. Eine Spurensuche führt eine nachdenkliche junge Schauspielerin (diese ist, als „originelles“ Stilmittel inszeniert, leider eher eine prätentiöse Schwäche des Films) und die eingelesene innere Stimme des Regisseurs unter anderem auf den Jüdischen Friedhof in Währing und zu verschiedenen Denkmälern, dessen stark unterschiedliche Inhaltlichkeit hinterfragt werden. Zwar nicht Fullscreen-füllend eingeblendet, aber natürlich doch auch Archivmaterial sind die vorsichtig mit weißen Handschuhen von einem Historiker bewegten schriftlichen Zeugnisse der Umbruchszeit der Märzrevolution; währenddessen hüllt Gierlinger die zeitgenössischen Demonstrationen und Proteste u. a. gegen die Identitäre Bewegung in 16mm-Film, als wolle er verdeutlichen, dass auch diese Aufnahmen einmal als hundert Jahre alte Dokumente betrachtet werden werden. Die große Ironie dabei ist: Auch die Bilder von Linken, die Widerstand ausrufen, erinnern in der ersten Sekunde oft tagesaktuell an die von eben jenen Rechtsextremen, gegen die im Film auf die Straße gegangen wird, angeführten Aufmärsche, die sich derzeit in Österreichs Hauptstadt ereignen. Wieder andere Bilder zeigen, wie die Exekutive eine linke 1.-Mai-Kundgebung schützt – am 1. Mai 2021 hingegen stürmten Beamte unverhältnismäßig gewaltvoll die Wiese vor der Votivkirche, auf der Menschen friedlich den Tag der Arbeit feierten. Die vergangenen Zukünfte fragt oft nach dem Machen und Verstehen von Geschichte, holt zeitübergreifend gedanklich viel aus, holt sich selbst dabei unverhofft ein. Und wirft so die Frage danach auf, wie beschaffen und wie alt „Archivmaterial“ überhaupt sein muss.