Das 22. Nippon Connection Festival von 24. bis 29. Mai in Frankfurt konnte nach zwei digitalen Jahren endlich wieder ein begeistertes Publikum vor Ort begrüßen.
Gerade für ein Event, bei dem die (Film-)Kultur eines ganzen Landes gefeiert wird, ist der partizipative Aspekt besonders wichtig, werden doch neben den über hundert japanischen Filmen auch zahlreiche Workshops angeboten, bei denen man tief ins japanische Food-, Anime- oder Handwerksuniversum eintauchen kann. Als studentisches Projekt mit gerade einmal 13 Filmen hat Nippon Connection einst klein angefangen, sich aber dank des unerwartet großen Publikumsinteresses sehr schnell zur mittlerweile weltweit größten Werkschau außerhalb Japans entwickelt. Es gibt einen großen Anteil an Stammgästen aus aller Herren Länder, die sich gern in Shades-of-Pink gehaltenen T-Shirts an den authentischen Gerichten laben, an Sake-Verkostungen teilnehmen oder die Verkaufsstände nach Souvenirs durchsuchen. Die zwei Hauptspielorte, das Naxos Theater und der Mousonturm, liegen quasi nebeneinander, dort spielt sich auch das soziale Leben des Festivals ab. Man hängt gemütlich in der Sonne ab, lässt sich kulinarisch verwöhnen, trinkt Kirin-Bier und diskutiert über das vielfältige Filmprogramm, das übersichtlich in die Sektionen Nippon Cinema, Vision, Docs, Anime und Retro gegliedert ist.
Der Fokus liegt dabei eindeutig auf dem japanischen Gegenwartskino, man erhält einen sehr guten Überblick über die Vielfalt des japanischen Filmschaffens, von den immer populären Animes über brisante Dokumentarfilme bis hin zu formal interessanten Experimenten und publikumswirksamen Genrefilmen reicht das Spektrum. Obwohl in Japan natürlich viel mehr Filme produziert werden als in Österreich und bei der Nippon Connection nur ein gewisser Teil der Jahresproduktion gezeigt werden kann, fühlt es sich ein wenig so an, als wäre man bei der Diagonale. Ein Schwerpunkt war heuer den in Japan immer wichtigen Coming-of-Age-Filmen gewidmet. Die gesamte Retrospektive zeigte in Filmen von u.a. Oshima Nagisa oder Hani Susumu sehr klar, wie sich die Gesellschaft seit den sechziger Jahren geändert hat, dass es mehr Freiheiten für Jugendliche gibt, aber gleichzeitig noch immer sehr starre Regeln in der japanischen Kultur das Aufwachsen von Nonkonformisten stark erschweren. Ein typischer Film für den internationalen Arthouse-Festivalcircuit ist Any Crybabys Here?, der sehr atmosphärisch im japanischen Perchtenmilieu von der schwierigen Phase nach der Adoleszenz erzählt, in der das Übernehmen von Verantwortung mit jugendlichem Leichtsinn um die Oberhand kämpft. Koproduziert von Kore-Eda Hirokazu, wird das Thema Vaterschaft umkreist, manchmal mit Längen, aber meist stimmig bis zum herzzerreißenden Finale, auch wenn die Konflikte wie so oft in solchen Moodpieces eher angedeutet als wirklich auserzählt werden, was wahrscheinlich auch einiges über die Konfliktscheu der japanischen Kultur aussagt.
Vor allem die Liebesfilme haben aber auch bei allen lokalen Bezügen oft einen sehr universalen Ansatz. Man kann sich ob der originellen Plots durchaus amerikanische oder auch französische Remakes vorstellen. We Made a Beautiful Bouquet bringt in einer beeindruckenden Tour de Force das Phänomen des Sich-Verliebens auf den Punkt. Trotz der späteren Ernüchterung, die vor allem durch die Zwänge der japanischen Arbeitswelt forciert wird, bleibt der Ton in dieser Komödie mit Tiefgang durchwegs leicht, es ist selten, dass ein Happy-Break-Up-Film bis zum Schluss glaubwürdig bleibt und die Zuschauer mit einem Lächeln auf den Lippen in den Abend entlässt, wo vielleicht schon die nächste große Liebe auf einen wartet.
Dass man sich nicht immer im Guten trennen kann, zeigt Sensei, Would You Sit Beside Me in einer clever geschriebenen Rachegeschichte um ein Paar, bestehend aus einer Manga-Autorin und einem Illustrator, bei denen sich die Kräfteverhältnisse durch die Kunst des Geschichtenerzählens bis zum eleganten Finale subtil verschieben. Manga-Verfilmungen sind weiterhin hoch im Kurs, bei einem Film wie Parasite in Love kann man sich die Vorlage visuell sehr gut vorstellen. Die Geschichte zweier Außenseiter mit (selbst-)destruktiven Kräften spielt teilweise etwas inkonsistent mit der Idee, dass wir nicht wir selbst sind, wenn wir uns verlieben, sondern in dem Fall von einem Parasiten im Gehirn dazu gezwungen werden. Auch relativ cheesy klingt die Prämisse in Just the Two of Us, wo ein Körperbehinderter und seine blinde Betreuerin in eine erstaunlich glaubwürdige Affäre schlittern. Der Film umschifft aber zielstrebig fast alle sentimentalen Klippen, die hier auf dem Weg zur Erlösung lauern und überzeugt auch – wie fast alle Werke – mit grandiosen Schauspielerleistungen.
Dem Hauptdarsteller Nagase Masatoshi wurde auch der heurige Ehrenpreis verliehen, er stand nach den Filmen, in denen er zu sehen war, per Liveschaltungen für Q&A’s zur Verfügung. Die Anzahl der Gäste erreichte klarerweise noch nicht das Vor-Covid-Niveau, trotzdem waren bei etlichen Filmen Regisseure, Schauspieler oder Produzenten vor Ort, um die zahlreichen Fragen des Publikums zu beantworten. So konnte auch Allegra Pacheco aus Venezuela beantworten, was sie dazu brachte, sich des Phänomens der salary men in Japan dokumentarisch zu nähern. Als Fotografin fielen ihr bei einem längeren Tokyo-Aufenthalt immer wieder Männer auf, die ihren Rausch in aller Öffentlichkeit am Gehsteig ausschlafen, weil sie die letzte U-Bahn versäumt haben. Sie fotografiert diese Männer mit Kreideumrandung als Verbrechensopfer, kommt mit ihnen ins Gespräch und dokumentiert in Folge das stressige Leben einiger dieser Angestellten von größeren Firmen, die ihr Leben der Company widmen und meist ihre Familie vernachlässigen. Sogar das Saufen mit Kollegen und Chef wird hier ritualisiert und dient letztendlich dazu, den Zusammenhalt zu stärken und die Produktivität zu steigern.
Preise wurden auch vergeben – zwar nicht hoch dotiert, aber gerade wenn das Publikum sie vergibt, sind sie doch eine willkommene Anerkennung für die Arbeit der Filmemacher. Ausgezeichnet wurden The Asadas, Just the Two of Us und Tokyo Kurds, eine Jury vergab noch einen Award an Unlock Your Heart. Leider ohne Preis blieb Intolerance, dessen anfänglich wuchtige Aggression später einer allumfassenden Sehnsucht nach Verbindung weicht. Die Geschichte um einen extrem beklemmend inszenierten Verkehrsunfall, der massive Auswirkungen auf eine Kleinstadt-Community hat und Fragen von Schuld und Sühne, Rache und Vergebung, Wahrheit und Lüge aufwirft, erinnert in seiner gleichzeitigen Härte und Empathie stark an die frühen Meisterwerke von Atom Egoyan.
Die Konzentration auf ein Land mit seiner faszinierenden Kultur schafft bei Nippon Connection eine einzigartige Atmosphäre. Nach zehn Filmen hat man das Gefühl, zumindest einzelne Wörter schon perfekt nachsprechen zu können, und die Lust, nach Japan zu reisen und das Land persönlich und nicht nur auf der Leinwand zu erkunden, ist grenzenlos.