Das Internationale Filmfestival von Pusan bewies erneut, dass der Brennpunkt der Filmwelt nicht unbedingt dort sein muss, wo ihn die meisten vermuten.
Vor gerade einmal zwölf Jahren aus dem (Meeres-)Boden gestampft, hat sich das Festival Anfang Oktober in der Vier-Millionen-Hafenstadt Pusan dank kräftiger finanzieller Unterstützung koreanischer Großfirmen und des Inputs der gesamten nationalen Filmindustrie längst zum größten Festival Asiens entwickelt und Konkurrenten wie Tokyo oder Hongkong weit hinter sich gelassen. Heute bespielt man täglich von früh bis spät nicht weniger als 31 Leinwände (vor wenigen Jahren waren es 17), und jeder Besucher kann sich davon überzeugen: Die Vorstellungen sind so gut wie immer voll. Für Klaustrophobiker ist das nichts, erschließen sich die meisten Kinos doch erst nach einer ungemütlichen Fahrt im überfüllten Lift in die höheren Regionen von längst zu klein gewordenen Multiplexen oder Einkaufszentren. Das gottlob einzige Feuer, das Tag und Nacht brennt, ist die Leidenschaft der Koreaner für das und besonders für ihr Kino.
Quote statt Schlangen
Seit die koreanische Filmindustrie wie ein Phönix aus der Asche der asiatischen Wirtschaftskrise von 1997 stieg, kennt die Begeisterung keine Grenzen. Die Massen drängen nicht nur beim Festival in die Kinos, sondern das ganze Jahr über. Der Umsatz an den Kinokassen hat sich, anders als im Rest der Welt, seit 1997 mehr als verdreifacht. In Pusan haben die Zuschauer zudem den Genuss, ihre heiß geliebten Filmstars buchstäblich hautnah erleben zu können: Kreischende Teenies bei einem Filmfestival sieht und hört man nicht alle Tage – vor der riesigen Bühne im Altstadtviertel Nampodong ist die Hysterie unbeschreiblich, wenn die Leinwandstars ihr Bad in und über den Köpfen der Menge geben.
Südkorea ist mit einem nationalen Marktanteil von an die 50 Prozent oder gar darüber, wie im Jahr 2003, ein einzigartiges Phänomen. Es ist das letzte gallische Dorf gegen die Übermacht der Hollywoodianer. Hilfreich ist dabei eine so genannte „Screen Quota“, die jedes koreanische Kino zwingt, einen entsprechenden Anteil seiner Vorstellungen dem nationalen Film zu widmen – eine protektionistische Maßnahme, die jeden französischen Filmfunktionär blass werden ließe, und gegen die Hollywoods Motion Picures Producers Association (MPPA) seit Jahren – vergeblich – Sturm läuft. Aber die Amerikaner sind vorsichtig: Noch nicht lange ist es her, dass in koreanischen Kinosälen Schlangen ausgesetzt wurden, um die Besucher aus US-Filmen zu vertreiben.
Korea und die USA: ein Thema, das so heiß ist, dass es den Menschen unter den Nägeln brennt, auch wenn das in Europa kaum wahrgenommen wird. Seit Jahren speisen sich viele nationale Blockbuster aus der Sehnsucht nach der Wiedervereinigung mit dem Norden und – brisant – nach dem Abzug der Amerikaner, die seit dem Koreakrieg mehr oder weniger ungeliebte „Gäste“ sind. Welcome to Dongmakgol von Park Kwanghyun ist das jüngste Beispiel, eine politische Parabel, die seit August bereits acht von 48 Millionen Koreanern sehen wollten. Die Geschichte spielt im Krieg in einem verschlafenen Dorf an der späteren Demarkationslinie. Zwei Soldaten des Südens und zwei aus dem kommunistischen Norden, die sich natürlich erst zusammenraufen müssen, retten, zusammen mit einem „guten“ GI, der mit seinem Flugzeug abgestürzt ist, das Dorf vor einem Luftangriff der US-Airforce, indem sie deren Aufmerksamkeit auf sich lenken. Viel deutlicher kann man es nicht formulieren, was die Koreaner bewegt – ebenso wie in der Goobye Lenin! nachempfundenen Komödie Silk Shoes. Ein alter Mann will im Norden, aus dem er stammt, „in Frieden“ sterben. Also heuert sein Gangster-Enkel ein Filmteam an, das ihm vorgaukelt, man werde ihn nach Nordkorea bringen.
Film und Politik
Um Politik macht man im Unterhaltungsfilm keinen großen Bogen: In der in Korea vehement diskutierten bösen Farce The President’s Last Bang von Im Sang-soo geht es um die Ermordung des de-facto-Diktators General Park Chung-hee im Oktober 1979 durch einige seiner engsten Vertrauten. Das daraus resultierende Chaos versuchen nun alle politischen Lager für sich auszunützen, ehe das Militär erneut die Macht in die Hand nimmt. Im Sang-soos Film ist ein schneidender Kommentar zur unrühmlichen jüngeren Geschichte des Landes, das erst 1992 mit Kim Young-sam einen demokratisch gewählten Präsidenten bekam. Die politischen Zusammenhänge und Anspielungen sind für westliche Zuschauer nicht gänzlich nachzuvollziehen, aber der Film überzeugt durch seinen handfesten und respektlosen Umgang mit nationalen Tabus.
Aber nicht nur das Mainstream-Kino wurde in der Reihe „Korean Panorama“ vorgeführt, sondern auch das interessantere unabhängige Filmschaffen – angeführt von den auch im Westen bestens bekannten Regisseuren Hong Sang-soo (A Tale of Cinema) und Kim Ki-duk. Dem Vielfilmer Kim allerdings würde man gerne mal eine Pause gönnen: The Bow, die Geschichte eines alten Mannes und eines sechzehnjährigen Mädchens, bietet eine weitere Variation seiner Standard-Themen auf nicht immer überzeugende Weise.
Der beste koreanische Film lief im Wettbewerb „New Currents“ – und ist auf seine Weise eminent politisch. The Unforgiven, gedreht vom jungen Regisseur Yoon Jong-bin, fuhr nicht nur vier Preise ein; er wird im Jahr 2006 eine ausführliche Festival-Welttournee unternehmen, so viel ist sicher. Yoon bietet vordergründig einen Einblick in das Innenleben der koreanischen Armee, in der – so ist das System – jeder neue Rekrut einen „Senior“ zugeteilt bekommt, der ihn die ganze Ausbildung hindurch begleitet. Aus dieser Konstellation heraus entwickelt The Unforgiven nicht nur eine bemerkenswerte Beziehung zwischen zwei jungen Männern, sondern auch eine beeindruckende Analyse von „Männlichkeit“ und Hierarchie, die weit über koreanische Verhältnisse hinaus Gültigkeit hat. Und auch der Hauptpreis des Festivals ging an einen politischen Film: Die – auch bei der Viennale gezeigte – koreanisch-chinesische Koproduktion Grain in Ear von Zhang Lu schildert das harte Leben einer Frau, die der koreanischen Minderheit in Nordchina angehört.
Goodbye, Hollywood
Womit wir wieder am Anfang angelangt wären. Hollywood ist, von Pusan aus gesehen, ein Dorf an der amerikanischen Westküste. Seit der Etablierung des Pusan Project Plan (PPP) im Jahre 1998 spielt das Festival auch eine entscheidende Rolle in der immer stärker werdenden Vernetzung asiatischer Filmindustrien – vor allem im kleinen Rahmen wie bei Grain in Ear und anderen Independent-Filmen. Doch auch und gerade im Mainstream- und im Blockbuster-Bereich wird der „panasiatische Film“ zunehmend Realität. Dass in Jackie Chans The Myth (2005) nicht nur Bollywood-Queen Mallika Sherawat, sondern auch die enorm populäre koreanische Schauspielerin Kim Hee-seon tragende Rollen spielen, ist ein adäquates Zeichen. Vorgestellt wurden in Pusan auch Typhoon, ein gigantisches Actionspektakel, das demnächst alle Kassenrekorde zumindest in den Produktionsländern Korea, Japan und Hongkong sprengen wird, und Daisy, ein Killer/Cop-Thriller, den Hongkong-Starregisseur Andrew Lau mit koreanischen und chinesischen Darstellern unter anderem in den Niederlanden drehte.
Dass asiatische Filme heiße Ware sind, ist ja nicht ganz neu, mittlerweile haben das auch (fast) alle Festivaldirektoren weltweit erkannt. In Pusan waren sie geschlossen vertreten, und – ein smarter Zug der Koreaner – zwei der prominenteren von ihnen (Thierry Frémaux aus Cannes und Dieter Kosslick aus Berlin) wurden mit einem Preis für „Verdienste um den koreanischen Film“ ausgezeichnet. Es wird sich in den Programmen der beiden Großfestivals niederschlagen. Hollywood hingegen war in Pusan so gut wie nicht vertreten. Es ging keinem ab.