Jessica Hausner zeigt in „Club Zero“, wie radikale Ideen in modernen Gesellschaften Fuß fassen. Im Interview spricht sie über die Hintergründe ihres neuen Films, reale Wahrheiten und falschen Glauben.
Es ist wie so oft: Auf den Atem kommt es an. Was beim Yoga funktioniert, hilft auch gegen Heißhunger, wenn die Lust auf Süßes mal wieder keine Grenzen kennt. Zweimal Luft holen genügt, ganz langsam, ganz bewusst. Danach schmeckt das Stück Schokolade gleich ganz anders. Glauben Sie nicht?
Gesunde Ernährung, lehrt Frau Novak (Mia Wasikowska) ihren Schülern, ist eine Frage des Bewusstseins. Der Selbstkontrolle. Und ja, des Glaubens. Die junge Lehrerin ist neu am britischen Elite-Internat, ihr Kurs in „Bewusstem Essen“ liegt im Trend. Die Motive der teilnehmenden Jungen und Mädchen sind unterschiedlich: Helen (Gwen Currant) will zum Klimaschutz beitragen, Ragna (Florence Baker) ihr Gewicht kontrollieren, um höher auf dem Trampolin zu springen, und Ben (Samuel D. Anderson) braucht bessere Noten für sein Stipendium. Der Balletttänzer Fred (Luke Barker) möchte durch einen nachhaltigen Lebensstil seine Gesundheit verbessern, und Elsa (Ksenia Devriendt) sieht das Ganze als ultimative Protestaktion gegen die Konsumgesellschaft. Aber Frau Novak reicht das nicht. Für sie ist bewusste Ernährung ein Zeichen von physischer und geistiger Reinheit. Höchstes Ziel sei der komplette Verzicht auf Nahrung. Und spätestens hier wird die Sache kompliziert.
Die Filme von Jessica Hausner setzen immer da an, wo man mit einfachen Argumenten nicht weiterkommt. Die 1972 geborene Wienerin zieht es dahin, wo es schwierig wird, unangenehm und komplex. Seit ihrem Regiedebüt Lovely Rita (2001) hat sich Hausner mit ihren nonkonformen Geschichten und Erzählformen eine eigene Handschrift erarbeitet, die nicht nur im österreichischen Kino speziell und besonders ist. Ihre Spannung und Dynamik ziehen ihre Filme aus einer stilisierten Wirklichkeit, in der die Absurditäten unserer Welt zum Vorschein kommen. Die Parallelwelten, in denen sich ihre Figuren bewegen, mögen auf den ersten Blick fremd und entrückt wirken, dennoch treffen ihre Werke stets den Nerv der Zeit. So wie unlängst bei Little Joe (2020), Hausners erstem englischsprachigen Film. Darin stand eine genmanipulierte Blume im Mittelpunkt, die ihren Besitzer bei richtiger Pflege mit Glück bestäuben würde – vorausgesetzt man glaubt daran.
Auch in Club Zero ist die Kraft der Überzeugung alles oder nichts. Ihr Mut zur Entsagung wird den Jugendlichen um Verhängnis. Aber der Übergang vom harmlosen Schulkurs zum gefährlichen Kult ist fließend und Hausners Film skizziert, welche riskanten Ausmaße jeder noch so gute Wille annehmen kann. Die Bilder, die der Kameramann Martin Gschlacht dafür findet, sind so klar und rein, dass sie dem Betrachter förmlich ins Auge stechen. Passend dazu hat Markus Binder einen Soundtrack komponiert, der vehement gegen jeden Anflug von Harmonie rebelliert. Ständig knarrt und quietscht es im Ohr.
Im Zusammenspiel von inneren und äußeren Widerständen findet der Film seinen Rhythmus – es ist ein heikles, fragiles Gleichgewicht. Die absolute Ruhe, die Hausners Inszenierung dabei ausstrahlt, wirkt oft gespenstisch, wie in einem bösen Traum. Als die Eltern der betroffenen Kinder endlich aufwachen, ist es längst zu spät.
Interview
Frau Hausner, was steckt hinter der Geschichte von „Club Zero“?
Jessica Hausner: Für mich ist der Kern des Films die Beziehung zwischen den Eltern, den Lehrern und den Kindern. Ich wollte zeigen, wie diese drei Seiten miteinander korrespondieren – und wie nicht. Ich denke, es gibt in der Konstellation einen Mangel an Aufmerksamkeit und Kommunikation, und diese Lücke macht es möglich, dass die Lehrerin, Frau Novak, mit ihren extremistischen Ideen bei den Jugendlichen auf Interesse stößt und sie mitreißen kann.
Ist diese Kluft zwischen Kindern und Erwachsenen, von der Sie sprechen, heute größer als früher?
Jessica Hausner: Ja. Ich denke, das hat sich sehr geändert. Und ich habe das Gefühl, dass es auf die Frage hinausläuft, wie viel Erwachsene im Durchschnitt arbeiten müssen. In Österreich gibt es gerade wieder eine Diskussion über die Verkürzung der Arbeitszeit. Einige Unternehmen sagen, es sei machbar, andere sind dagegen. Für mich liegt die Antwort in der Gleichstellung der Geschlechter. Mit anderen Worten: Die Arbeit sollte zwischen Männern und Frauen gerechter aufgeteilt werden. Ebenso muss die Kinderbetreuung zwischen Eltern gerechter geregelt werden. Aber diese Probleme sind in unserer Gesellschaft bis jetzt überhaupt nicht gelöst. Also muss jeder für sich selbst kämpfen. Die Verantwortung lastet auf unseren privaten Schultern, weil die Gesellschaft sich so schwer tut, in der Hinsicht einen Schritt nach vorne zu tun.
Sind wir dem Untergang geweiht?
Jessica Hausner: Das ist ein sehr nihilistisches Wort.
Ihr Film ist auch nicht sehr hoffnungsvoll, was unsere Chancen angeht.
Jessica Hausner: Ich versuche, Fragen aufzuwerfen, die mich beschäftigen, und die stelle ich zur Diskussion.
Warum ist Essen ein so sensibles Thema?
Jessica Hausner: Essen ist sehr intim. Aber es ist auch gesellschaftlich und sozial von großer Bedeutung. Etwa die Tatsache, dass wir zum Essen zusammenkommen, ob in der Familie oder im Bekanntenkreis. Wenn man sich beispielsweise mit Freunden zum Essen trifft und eine Person sagt, sie isst nichts, ist das für alle Beteiligten irgendwie seltsam. Als nicht Essender fühlt man sich schuldig, die anderen sind beleidigt. Andererseits ist das Nicht-Essen, oder besser: das Fasten, ein Teil der Religion. Und die Verweigerung von Nahrung war auch immer Teil politischer Proteste, zum Beispiel in Form von Hungerstreiks. Es ist ein komplexes und kompliziertes Thema.
Im Film gibt es eine Szene, in der eine der Schülerinnen, Elsa, sich vor ihren Eltern übergibt und das Erbrochene danach wieder mit der Gabel isst. Warum war diese Szene notwendig?
Jessica Hausner: Elsa versucht, einen Punkt zu machen, und sie wählt dafür eine radikale Aktion. Davor sagt sie, dass die Lebensmittelindustrie unsere Körper und den Planeten zerstört, und dass unser Essverhalten kommerziell bedingt ist. Damit hat sie ja nicht unrecht. Mit dem, was folgt, will sie ihre Eltern schockieren. Es ist ein Schrei nach Hilfe, nach Aufmerksamkeit. Jeder Radikalismus ist ein Statement der Hilflosigkeit. Sie will, dass ihre Eltern ihr endlich zuhören und versuchen, sie zu verstehen.
Wann werden in Ihrem Film die vielen Wahrheiten, die Sie eben auch schon angesprochen haben, zu schrecklichen Ideen?
Jessica Hausner: Das ist ein langsamer und komplexer Prozess. Es passiert Schritt für Schritt. Mia Wasikowska und ich haben im Laufe der Recherche einige Sektenmitglieder getroffen, oder besser gesagt: Menschen, die in ihrem Leben einmal Teil einer Sekte waren, aber es geschafft haben, dem zu entkommen. Und sie haben es ähnlich beschrieben. Allmählich wird man dazu gebracht, mehr und mehr absurde Dinge zu glauben oder zu tun. Und weil man bereit war, die erste Lüge zu glauben, ist man auch bereit, den nächsten Schritt zu gehen. Es ist merkwürdig, wie man in so eine Manipulation des Geistes hineingezogen wird.
Wie ist es bei Menschen, die an Wunder glauben?
Jessica Hausner: Die katholische Religion ist vergleichbar mit einer Sekte im Stil von Club Zero. In der Hoffnung auf Erlösung beginnen Menschen, absurde Dinge zu glauben. Ob das jetzt ein Wunder ist oder Lichtnahrung – beides basiert auf der Sehnsucht nach spiritueller Geborgenheit.
Kämpfen Sie manchmal mit Ihren eigenen Überzeugungen?
Jessica Hausner: Ich glaube nicht an Gott, ich bin kein katholisch religiöser Mensch. Abgesehen davon neige ich immer dazu, die Dinge zu hinterfragen, das ist mein Job. Wenn ich denke, dass etwas richtig ist, vermute ich im nächsten Moment, dass es falsch ist.
Die jungen Schauspielerinnen und Schauspieler im Film sind in einem ziemlich verletzlichen Alter. Wie sind Sie in den Proben an die verschiedenen Themen herangegangen, die Sie in „Club Zero“ behandeln?
Jessica Hausner: In der Vorbereitungszeit sind wir zunächst das Drehbuch durchgegangen. Wir haben über die einzelnen Szenen und Dialoge gesprochen, auch über meine Ideen. Mich hat ihre Meinung interessiert und überhaupt, was sie davon verstehen. Wir hatten während der Proben, aber auch am Set, immer Psychologen und Bezugspersonen vor Ort, weil es uns wichtig war, dass nicht zufällig jemand die Sache zu ernst nimmt. Wir haben also ständig mit den Jugendlichen gesprochen. Und nicht nur ich, denn als Regisseurin ist man eine Art Respektsperson. Wir hatten immer auch andere Leute am Set, an die sich die Jugendlichen wenden konnten, wenn sie irgendwelche Fragen oder Bedenken hatten.
Es ist wahrscheinlich ein schmaler Grat, wenn Sie Kinder casten, die irgendwie dünn aussehen müssen, ohne junge Menschen anzusprechen, die tatsächlich Probleme mit ihrem Essverhalten haben.
Jessica Hausner: Ja, absolut. Deshalb habe ich auch von vornherein sehr deutlich gemacht, dass wir nicht wollten, dass irgendjemand für diesen Film abnimmt. Im Gegenteil. Wir haben schon sehr früh entschieden, dass wir diesen Effekt durch Make-up und Kostüme erzeugen wollten. Wir hatten zum Beispiel Pullover in verschiedenen Größen. Und ich mag dieses künstliche Make-up wie in den Filmen von Akira Kurosawa, das immer diesen leichten Grünschimmer hat.
Wie zuvor bei „Little Joe“ haben Sie erneut in Großbritannien gedreht. Trotzdem haben Sie den Film nicht nur mit britischen Schauspielern besetzt.
Jessica Hausner: Ich wollte vermeiden, dass der Film als eine britische Geschichte gesehen wird. Club Zero ist kein Kommentar zum britischen Schulsystem. Es geht hier um einen größeren Aspekt des Lebens in unserer Gesellschaft, sagen wir einmal der europäischen Gesellschaft. Wenn Sie so wollen, spielt der Film in Europa.
Warum haben Sie sich entschieden, die Handlung in einem Elite-Internat anzusiedeln?
Jessica Hausner: Ich denke, dort ist der Druck auf die Kinder besonders stark. Schon der Name der Schule „The Talent Campus“ weist darauf hin. Auch die Schulleiterin betont immer wieder, wie talentiert die Kinder sind, oder zumindest wollen die Eltern das hören. Sie erwarten viel von ihren Kindern, sie sollen begabt und brillant sein, zehn Sprachen sprechen, Trampolin springen, was weiß ich. Es lastet jedenfalls eine Menge Druck auf diesen jungen Leuten, eben auch gerade weil sie zu einer gewissen Elite gehören. Natürlich hätte es auch eine andere Schule sein können. Ich denke, alle Kinder stehen heute unter dem Druck, dass sie gute Leistungen erbringen und sich gut verkaufen können müssen, um irgendwie eine Chance im Leben zu haben.
Bens Mutter ist eine Ausnahme in diesem Mikrokosmos, sie ist nicht reich. Und wie sich herausstellt, ist sie die einzige kluge Frau hier. Warum dringt sie mit der Wahrheit zu niemandem durch?
Jessica Hausner: Ein Teil des Humors im Film liegt in der Absurdität der Dinge. Und dazu gehört eben auch, dass der einzige Elternteil, der tatsächlich versteht, was vor sich geht, nicht ernst genommen wird.
Das Tragische ist, dass ausgerechnet sie damit scheitert.
Jessica Hausner: So klar, wie Sie es darstellen, ist es nicht. Wir sehen nur, dass sie die Meinung ihres Sohnes nicht ändern kann. Er hält an dem verrückten Glauben fest, den Frau Novak ihm und seinen Klassenkameraden und -kameradinnen suggeriert hat.
Ist Sarkasmus vielleicht der einzige Weg, um zu erklären, wie lächerlich manche Situationen in unserem Leben sind?
Jessica Hausner: Ja. Ich habe diesen subversiven Humor, das Absurde auch in meinen früheren Filmen immer verwendet. Dadurch ist es mir möglich, eine leicht distanzierte Haltung einzunehmen, so als würde uns ein Fremder beobachten und denken, was machen die da, das ist ja seltsam.
Es scheint, als würden Sie sich in Ihren Filmen in letzter Zeit mehr auf die Bildsprache konzentrieren als das früher der Fall war. Hat sich Ihre Art des Filmemachens in der Hinsicht verändert?
Jessica Hausner: Ich versuche, mich in zwei Personen aufzuteilen, die Autorin und die Regisseurin. Das gibt mir mehr Möglichkeiten, alles zu überdenken, wenn ich anfange, über die Visualisierung nachzudenken. Beim Schreiben lege ich Wert darauf, die Geschichte so präzise wie möglich zu Papier zu bringen, und das Drama gut zu entwickeln. Und dann denke ich: Okay, und wie setze ich das jetzt um, damit das, was zwischen den Zeilen steht, vermittelt wird? Die Visualisierung ist die eigentliche Phase, in der der Film entsteht.
Wollen Sie zukünftig auch wieder auf Deutsch arbeiten?
Jessica Hausner: Vielleicht. Ich denke, das hängt sehr stark von der Geschichte ab. Ich habe es sehr genossen, mit englischsprachigen Schauspielerinnen und Schauspielern zu drehen. Vor allem die Zusammenarbeit mit Mia Wasikowska war toll. Wir haben uns super verstanden. Mal sehen, was daraus wird.
Warum war sie die Richtige für die Rolle der Frau Novak?
Jessica Hausner: Ich mag die Art und Weise, wie sie Dinge verbergen kann. Sie hat dieses besondere Talent, das nur wenige Schauspielerinnen besitzen, dass man sich nie ganz sicher sein kann, was gerade in ihr vorgeht. So sehr man sich auch anstrengt, es herauszufinden, es gelingt einem nicht. Und trotzdem möchte man es gerne wissen. Mia macht einen neugierig.
Wie intensiv haben Sie mit der Besetzung über den Stil des Films gesprochen?
Jessica Hausner: So viel wie nötig. Die meisten erstaunten Reaktionen kommen immer während der Kostümproben. Dann schaue ich mit den Darstellern nochmal in meine Filme rein. Dann verstehen sie eigentlich schnell, dass dieser künstliche Stil beabsichtigt ist, dass sie nicht alleine so rumlaufen werden, sondern alles in ein Gesamtkonzept passt, und am Ende alles Sinn macht.
Was war die Idee hinter der Schuluniform?
Jessica Hausner: Meine Schwester ist seit Jahren meine Kostümbildnerin. Sie ist immer eine der ersten Personen, die meine Drehbücher liest. Und meistens hat sie direkt visuelle Ideen. Wenn wir über Farben sprechen, entscheiden wir meistens zusammen, warum wir diesen oder jenen Ton wählen. Und in diesem Fall wussten wir bereits früh, dass wir im St Catherine’s College drehen wollten. Dort gibt es diese dunklen Holz- und Ziegelwände. Im Kontrast dazu brauchten wir eine helle Farbe für die Schuluniform. Und das Gelb erinnerte uns an kleine Blumen oder Bienen. Es sollte den Schülern ein unschuldiges Flair verleihen.
Ihre Filme sind bewusst keine Mainstreamware. Sie ecken auch gerne an mit dem, was Sie tun. Lesen Sie eigentlich Kritiken?
Jessica Hausner: Nicht wirklich. Nur wenn mir jemand sagt, ich solle eine bestimmte Besprechung lesen. Ansonsten versuche ich es zu vermeiden.
Haben Sie schon einmal etwas aus einer Rezension gelernt?
Jessica Hausner: Das ist eine interessante Frage. Wenn eine Kritik einen interessanten Aspekt aufwirft, dann vielleicht. Manchmal versuche ich auch zu verstehen, was ich gemacht habe, indem ich lese, was andere Leute darüber denken. Also, wenn Sie so fragen: Ja, wahrscheinlich schon.