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Red Rocket

Randlagen

| Jörg Schiffauer |
Mit „Red Rocket“ wirft Sean Baker einen Blick auf die Vereinigten Staaten abseits des amerikanischen Traums.

Als Mikey (Simon Rex) aus dem Bus steigt, der ihn zurück an den Ort gebracht hat, in dem er aufgewachsen ist, befindet er sich so ziemlich am Tiefpunkt seines Lebens. Nach fast zwei Jahrzehnten in Kalifornien kommt er nun nach Texas City, Texas zurück. Dass diese Rückkehr nicht ganz freiwillig ist, sieht man nicht nur an seinem etwas malträtierten Gesicht, sondern auch daran, dass Mikey nichts weiter besitzt als das Shirt, das er anhat und ganze 22 Dollar. Also bleibt ihm wenig anderes übrig, als am Haus seiner Frau Lexi anzuklopfen und um vorübergehende Aufnahme zu bitten. Kein leichtes Unterfangen, haben sich die beiden doch vor geraumer Zeit getrennt, und – was schnell deutlich wird – das Ende der Beziehung ist keineswegs harmonisch erfolgt. Doch Mikey verfügt über Charme – auch wenn der etwas eigenwillig erscheint –, dank dessen es ihm gelingt, Lexi zu überreden, bei ihr einziehen zu dürfen.

In dem bescheidenen Einfamilienhaus findet Mikey also bei seiner Frau und deren Mutter Unterschlupf, doch das entspannt seine missliche Lage nur vorübergehend. Die Suche nach Arbeit erweist sich auch als ziemlich problematisch, besonders als Mikey Auskunft über seine bisherigen Berufserfahrungen geben muss. Die Jahre in Los Angeles hat er nämlich damit verbracht, unter seinem Künstlernahmen Mikey Saber eine veritable Karriere als Darsteller in Pornofilmen aufzubauen. Nur sind halt solche einschlägigen Fachkenntnisse in Texas City wenig gefragt, selbst Aushilfsjobs bleiben ihm verschlossen. Doch zu Mikeys Eigenschaften gehört die Fähigkeit, sich aus beinahe jeder Situation mit seinem flinken Mundwerk herausreden zu können. Also knüpft er Kontakte zur lokalen Drogenzwischenhändlerin, die er noch aus längst vergangenen Highschool-Zeiten kennt und verdingt sich fortan als Marihuana-Dealer. Weil er mit diesem Geschäft ziemlich erfolgreich ist und selbst die Beziehung zu Lexi sich entspannt, scheint Mikey wieder auf die Beine zu kommen. Doch bei einem Besuch in einem Laden mit dem unübertrefflichen Namen „Donut Hole“ begegnet er der dortigen Verkäuferin, einem noch nicht einmal 18-jährigen Mädchen namens Strawberry (Suzanna Son). Mikey ist schnell hingerissen von der recht selbstbewussten jungen Dame, bald schon kommen sich die ungleichen Charaktere näher. Nach und nach kommt Mikey der Gedanke, Strawberry – deren richtiger Name Raylee lautet – könnte ihm zu einem Comeback in der Hardcore-Industrie verhelfen.

Ausgeträumt
Sean Baker hat in seinem bisherigen Œuvre wiederholt jene Schichten der US-Gesellschaft beleuchtet, für die der viel zitierte „American Dream“ nicht einmal mehr eine ferne Illusion ist. Mit Red Rocket, seinem nunmehr achten Spielfilm, führt er diese thematische Schwerpunktsetzung nun konsequent weiter. Das lässt sich hier schon anhand des Schauplatzes in den ersten Einstellungen erkennen. Denn Texas City, 60 Kilometer von Houston entfernt an der Bucht von Galveston gelegen, scheint wirklich kein besonders attraktiver Platz zum Leben zu sein. Eine gigantische Ölraffinerie dominiert das Stadtbild, fungiert dabei in Red Rocket wiederholt als mächtiger, fast ein wenig furchteinflößender Bildhintergrund. Die allumfassende Präsenz dieser wenig ansehnlichen Industrieanlage in der Gemeinde wird im weiteren Verlauf geradezu sinnbildlich: So beruht nämlich ein wesentlicher Teil von Mikeys Erfolg als Dealer darauf, dass er sich Arbeiter der Raffinerie als lukrativen Kundenstock zu erschließen imstande ist. Kurzum, man muss also schon einigermaßen verzweifelt sein, um sich wie Mikey ausgerechnet nach Texas City zu flüchten, selbst wenn man bedenkt, dass er dort seine Jugend verbracht hat. Doch zu den für Sean Bakers Arbeiten charakteristischen Merkmalen zählt, dass er nicht nur die Tristesse solcher Orte oder Milieus betont, sondern auch – oder gerade – die eigenwilligen Reize dieser Schauplätze zu entdecken versteht.

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Als augenscheinlichstes Beispiel dafür kann wohl der erwähnte, in absurd knallbunten Farben schillernde Donut-Shop dienen. Dabei ist es einem Zufall zu verdanken, dass das pittoreske Geschäft ein zentraler Schauplatz von Red Rocket geworden ist, wie Sean Baker im Rahmen eines Publikumsgesprächs bei der letztjährigen Viennale nach der Aufführung seines Films gestand. Laut der ursprünglichen Drehbuchfassung waren besagte Szenen eigentlich um einen Foodtruck angesiedelt, doch als Baker zwecks Motivsuche durch Texas City fuhr, entdeckte er eben „Donut Hole“. Sein erster Gedanke sei gewesen, dass die Filmgötter persönlich ihn zu diesem Laden geführt hätten, das Skript wurde sogleich entsprechend adaptiert. Diese kleine Episode hat allerdings nicht nur anekdotischen Charakter, sie macht vielmehr deutlich, wodurch sich Sean Bakers Regiearbeiten auszeichnen. Das ist zunächst ein Sensorium für Schauplätze und Örtlichkeiten, die ein Amerika abseits bekannter Bilder zeigen. Ob es das von der Ölindustrie geprägteTexas City von Red Rocket, das heruntergekommene Motel in The Florida Project oder das in San Fernando Valley befindliche Apartment der Protagonistin von Starlet ist, Baker beleuchtet mit seinen Filmen ein „Real America“, das für Millionen von US-Bürgern eine Lebenswirklichkeit repräsentiert, die abseits von gerne strapazierten Erfolgsgeschichten verläuft. Von dem in der Unabhängigkeitserklärung verankerten „Streben nach Glück“ ist für diese Menschen nicht viel mehr übrig geblieben als ein Monat, in dem man einmal nicht mehr darum raufen muss, die Miete bezahlen zu können.

Die spezielle Authentizität, die Red Rocket ebenso wie das gesamte Schaffen Sean Bakers auszeichnet, ist jedoch nicht nur der Atmosphäre der Originalschauplätze geschuldet, sondern auch einer ganz speziellen Auswahl der Schauspieler, pflegt er doch fortgesetzt auch mit nichtprofessionellen Darstellern zu arbeiten. Was sich nicht nur darauf beschränkt, dass Baker wie im Fall von Red Rocket Nebenrollen mit in der Region von Texas City ansässigen Menschen besetzt hat, auch die Darsteller zentraler Charaktere haben oft einen eher ungewöhnlichen Karriereverlauf. Simon Rex kann zwar auf einige Erfahrung recht unterschiedlicher Natur im Entertainment-Business vorweisen, auf die Sean Baker im anschließenden Interview näher eingeht, doch eine schauspielerische Leistung wie die, die er in der Rolle des redegewandten Schlitzohrs Mikey abzuliefern versteht, erscheint ebenso außergewöhnlich wie unerwartet. Ebenso bemerkenswert ist der Coup, der Baker mit der Besetzung von Strawberry gelungen ist, liefert doch Suzanna Son, die zuvor Musik studiert hatte, ein fulminantes Schauspieldebüt ab, das man sich im Hinblick auf ihre zukünftige Laufbahn merken sollte. Dieser markante Erstauftritt setzt eine Reihe fort, die Sean Bakers bemerkenswertes Gespür für verborgene Talente unter Beweis stellt. In Starlet (2012), der Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft zwischen zwei Frauen höchst unterschiedlichen Alters, absolvierte die 1925 geborene Besedka Johnson ihren ersten – und einzigen – Auftritt als Schauspielerin. Der in dieser Konstellation und Stimmigkeit ein wenig an jenen einzigartigen Moment in der Filmgeschichte erinnert, für den Carlo Battisti, eigentlich Professor für Romanische Philologie, sorgte, als er mit siebzig Jahren die Titelrolle in Vittorio De Sicas Neorealismus-Klassikers Umberto D. spielte. Battistis unvergessliche Verkörperung des einsamen Pensionärs blieb ebenfalls sein einziger Ausflug ins Schauspielfach. Auch Johnsons Gegenüber, eine junge Frau von Anfang 20, die sich durch die Untiefen von Los Angeles schlägt, wird mit Dree Hemingway von einer Quereinsteigerin verkörpert. Die Tochter der aus Woody Allens Manhattan bekannten Mariel und Urenkelin des Literaturnobelpreisträgers Ernest hatte zuvor vornehmlich als Model gearbeitet, ehe sie in Starlet gleich eine feine Talentprobe ablegte.

Die unkonventionellen Wege, die Baker beschreitet, um ideale Besetzungen für seine Figuren zu finden, verleihen seinen Filmen eine besondere Glaubwürdigkeit, die auch in The Florida Project (2017) ihren Niederschlag findet. Im Mittelpunkt steht hier Halley, eine alleinerziehende Mutter, die mit ihrer sechsjährigen Tochter Monnee in einem heruntergekommenen Motel lebt, das sich unweit von Disney World befindet. Die Rolle Halleys übernahm mit Bria Vinaite wiederum eine Newcomerin, die für ihr Schauspieldebüt hoch gelobt wurde. Die Stimmigkeit von The Florida Project entspringt zu einem wesentlichen Teil aus dem Zusammentreffen von nicht-professionellen Darstellern wie Vinaite und einer Schauspielgröße vom Kaliber Willem Dafoes, der die Rolle des Managers der billigen Absteige übernommen hatte. Eine Dynamik, die sich auch in Red Rocket zwischen dem redegewandten Mikey – verkörpert durch eine an sich schon schillernde Figur wie Simon Rex – und Strawberry in Gestalt der Newcomerin Suzanna Son entwickelt und ein Kraftzentrum der Geschichte ist.

Kontinuierliche Arbeit
Sean Baker zählt mittlerweile zu den festen Größen des US-amerikanischen Independentfilms, doch diesen Status musste er sich über die Jahre erst erarbeiten. Der 1971 geborene Baker wuchs in New Jersey auf und absolvierte ein Filmstudium an der renommierten New York University Tisch School of the Arts. Sein Regiedebüt lieferte er 2000 mit Four Letter Words ab, mit Take Out (2004) und Prince of Broadway (2008) konnte er erste Achtungserfolge einfahren. Starlet, der im Wettbewerb des Locarno Film Festivals lief und auch auf dem Programm der Viennale stand, sorgte schließlich dafür, dass Sean Baker nicht mehr nur als Geheimtipp gehandelt wurde. Die charakteristischen Elemente seiner Arbeiten sind hier exemplarisch zu finden: Baker zeigt in Starlet anhand der beiden Protagonistinnen ein Amerika, das im Alltag so manche Härte bereithält. Baker macht das in seinen Filmen schon deutlich, doch seine Inszenierungen erweisen sich nicht als jene unerbittliche Bestandsaufnahme wie etwa bei Debra Granik – eine andere Repräsentantin des Neuen Amerikanischen Realismus – in Down to the Bone (2004). Vielmehr ist Bakers Blick eingebettet in eine Form des Erzählens, die man als eine Art Poetischen Realismus bezeichnen könnte. So ist etwa der Ausgangspunkt der ungewöhnlichen Freundschaft in Starlet – der Titel bezieht sich übrigens auf den Namen des Chihuahua der von Dree Hemingway verkörperten Jane – jener private Flohmarkt, auf dem Jane eine Thermoskanne ersteht, in der sie später mehrere tausend Dollar findet. Zunächst möchte sie der Besitzerin Sadie das Geld zurückgeben, doch als sich herausstellt, dass die ältere Dame von ihrem Mann, einem professionellen Spieler, einiges geerbt hat und nicht dringend auf das Geld angewiesen ist, zögert Jane mit der Rückerstattung. Stattdessen hilft sie Sadie im Alltag, wobei sich die sehr unterschiedlichen Charaktere langsam annähern und eine eigenwillige Freundschaft entsteht.

Deutlich wird auch Bakers empathischer Umgang mit Figuren, die sich an gesellschaftlichen Randzonen bewegen und deshalb leicht vorschnell klischeebehaftet beurteilt werden. Über weite Strecken zeichnet er Jane als junge Frau, die zwischen Drogenkonsum und Herumhängen offensichtlich noch ihren Platz im Leben sucht, doch ihr herzensgutes Wesen manifestiert sich wiederholt. Als man dann ihre Profession, nämlich Actrice in Hardcorefilmen, erfährt, bröckeln die üblichen damit verbundenen Vorurteile einfach nur noch ab. Auch in The Florida Project findet sich narrative Koexistenz zwischen Realismus und poetisch anmutenden Elementen. Das triste Motel, eine Art letzte Zuflucht vor der Obdachlosigkeit, trägt den Namen Magic Castle, der von Willem Dafoe verkörperte Manager agiert wie eine Art Herbergsvater, der immer ein offenes Ohr für die Sorgen der Motelgäste hat. Das sind keineswegs eskapistische Strategien, vielmehr sucht und findet Sean Baker einen narrativen Modus, der seinen Blick auf schwierige Lebenssituationen nicht nur auf Elendsbetrachtungen reduziert und die sich in solchen Lagen befindlichen Menschen bloß in die Opferrolle drängt.

Dass Baker dabei auch formal zu experimentieren bereit ist, zeigt sich an Tangerine (2015) – im Mittelpunkt steht eine transsexuelle Prostituierte an einem Weihnachstabend in den Straßen Hollywoods –, der komplett auf iPhones gedreht wurde.

Spätestens mit The Florida Project, der zahlreiche Preise einheimsen konnte und bei den Filmfestspielen von Cannes seine Weltpremiere feierte, ist Sean Baker ein etablierter Name. Mit Red Rocket, der in Cannes im Wettbewerb um die Goldene Palme lief, hat er seine Arbeit, was Form, Figuren und Motive und angeht, konsequent weitergeführt. Dabei hat er eine Stilsicherheit entwickelt, mit der er selbst einen ambivalenten Charakter wie Mikey Saber als jenen tragikomischen (Anti)-Helden zu zeichnen versteht, dem man trotz einiger Vorbehalte – die nicht unproblematische Beziehung zu Strawberry spielt da hinein – ein gehöriges Maß an Empathie nicht verwehren kann.