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1971. DOSSIER

Reale Visionen

| Jörg Schiffauer |
Das Zusammenspiel zweier kreativer Köpfe wie Michael Crichton und Robert Wise resultierte in einem höchst außergewöhnlichen Sci-Fi-Film: „The Andromeda Strain“.

Am Anfang steht ein Einsatz, der eigentlich bloße Routine verspricht. Zwei Soldaten der US-Army sollen eine Raumsonde bergen, die nahe eines kleinen, abgelegenen Städtchens namens Piedmont, im Nirgendwo der Wüsten New Mexicos gelegen, abgestürzt ist. Nachdem die Sonde inmitten des Ortes, der gerade einmal ein paar Dutzend Einwohner aufweist, lokalisiert wurde, scheint dem Aufbringen nichts mehr im Weg zu stehen. Schon bald wird den Soldaten jedoch klar, dass an ihrer Mission gar nichts mehr normal ist: In den Straßen Piedmonts finden sie tote Menschen vor. Als der Funkverkehr mit der Einsatzzentrale abrupt abricht, herrscht dort mit einem Schlag höchste Alarmstufe: Offenbar hat die Sonde – so die Vermutung der verantwortlichen Militärs – etwas aus dem All mitgebracht, das eine Bedrohung darstellt. Rasch wird das für einen derartigen Notfall – der den Codenamen „Wildfire“ trägt – vorgesehene Protokoll in Gang gesetzt und ein Team hochrangiger Wissenschaftler um Dr. Jeremy Stone aktiviert. Als Stone und sein Kollege Mark Hall in Piedmont Nachschau halten, wird ihnen bald klar, dass von der Sonde, die sie in der Ordination des Dorfarztes vorfinden, eine tödliche Gefahr ausgeht: Fast alle Bewohner Piedmonts sind – wie auch die beiden Soldaten – offenbar innerhalb kurzer Zeit verstorben, ihr Blut ist geronnen und dabei unfassbarerweise zu Pulverform geworden. Die einzigen Überlebenden sind ein älterer Mann und ein Baby, Dr.Halls Frage, was „einen 69-jährigen Schnapstrinker, der auch noch ein offenes Ulcus hat, genauso reagieren lässt wie ein sechs Monate altes Baby“ bekommt im weiteren Verlauf forschungsleitenden Charakter.

Die Raumsonde hat offensichtlich einen Mikroorganismus eingeschleppt, der sich rasch verbreitet und Potenzial hat, zu einer Bedrohung von globalem Ausmaß zu werden. Das wissenschaftliche Team um Dr. Stone begibt sich in ein geheimes, unterirdisches Labor, wo man mittels diverser Untersuchungen und Testreihen dem todbringenden Erreger, der „Andromeda“ benannt wird, auf die Spur zu kommen versucht – doch dies gerät zu einem Wettlauf gegen die Zeit.

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Wissenschafts-Thriller
Das Szenario um eine aus dem Weltall stammende Bedrohung mag auf den ersten Blick nicht ungewöhnlich erscheinen, doch die Art und Weise, wie dieses Sujet hier angegangen wird, macht The Andromeda Strain zu einer höchst unkonventionellen Hollywood-Produktion. Dass wissenschaftliche Arbeit – und die steht über weite Strecken im Zentrum – nicht nur Grundlage, sondern sogar die Essenz eines hochspannenden Sci-Fi-Thrillers sein kann, ist im Fall von The Andromeda Strain dem kongenialen Zusammenspiel außergewöhnlicher Begabungen geschuldet.

Einen großen Anteil daran hat zweifellos Michael Crichton, Autor der gleichnamigen Buchvorlage. Der 1969 veröffentlichte Roman weist bereits eine ungewöhnliche Form auf, ist er doch wie eine Art Tatsachenbericht über eine „bedrohliche Fünf-Tage-Krise der amerikanischen Wissenschaft“, wie der Autor im Vorwort anmerkt, verfasst. Um das Ganze „realer“ erscheinen zu lassen, hat Crichton den Roman sogar mit einem bibliographischen Anhang versehen, die filmische Adaption suggeriert mittels eines Inserts zu Beginn, dass es sich bei The Andromeda Strain um eine Art Doku-Drama handelt. Ein fundierter wissenschaftlicher Hintergrund sollte in der kreativen Arbeit Michael Crichtons, der an der medizinischen Fakultät der Harvard-Universität promovierte, eine zentrale Rolle spielen. Crichton entschloss sich nach seinem Studienabschluss Ende der sechziger Jahre, nicht als Arzt zu praktizieren, sondern sich ganz dem Schreiben zu widmen. „The Andromeda Strain“ war der erste Roman, den er unter seinem richtigen Namen publizierte – bereits während seines Studiums hatte Crichton fünf Bücher unter einem Pseudonym veröffentlicht – und zu seinem ersten großen Erfolg geriet, der sich durch die filmische Adaption noch vergrößerte. Es war der Auftakt zu einer unvergleichlichen Erfolgsgeschichte, in den nächsten Jahrzehnten sollte Crichton mit seiner ausgeprägten Fähigkeit, hochspannende Geschichten mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zu verbinden, die Populärkultur – bevorzugt im Science-Fiction-Genre, aber keineswegs ausschließlich dort – immens stark beeinflussen. Etliche seiner 28 Romane mit einer Gesamtauflage von insgesamt knapp über 200 Millionen Exemplaren wurden zudem – teilweise höchst erfolgreich – verfilmt. Darunter finden sich neben The Andromeda Strain etwa The Terminal Man (Regie: Mike Hodges), Congo (Frank Marshall), Sphere (Barry Levinson) Rising Sun (Die Wiege der Sonne; Philip Kaufman), Disclosure (Enthüllung; Barry Levinson) oder Timeline (Richard Donner). Einen besonderen Platz nimmt dabei die Zusammenarbeit mit Steven Spielberg ein, der mit Jurassic Park (bei dem Crichton auch als Ko-Drehbuchautor fungierte) und dem Sequel The Lost World die erfolgreichsten Verfilmungen von Michael-Crichton-Büchern gelangen. Das Multitalent Crichton wandte sich selbst recht bald und erfolgreich dem Film zu, bereits 1973 schrieb und inszenierte er den dystopischen Thriller Westworld, der allseits Lob hervorrief und als so stilbildend galt, dass 2016 eine auf dem Original basierende Fernsehserie produziert wurde. Vier Jahre später inszenierte Crichton – das Skript stammte ebenfalls von ihm – den Thriller Coma, der vor dem Hintergrund eines Krankenhausbetriebs Fragen ethischer Natur aufwirft (Kritik an ungezügelten Entwicklungen in wissenschaftlicher, technischer und ökonomischer Sicht sind immer wiederkehrende Motive bei Michael Crichton). Zu seinen weiteren Regiearbeiten zählen The First Great Train Robbery (die Romanvorlage des Heist-Movies stammt ebenfalls von Crichton), die Sci-Fi-Thriller Looker und Runaway  und der Thriller Physical Evidence. Zudem beruht die Serie Emergency Room – von 1994 bis 2009 eine der erfolgreichsten TV-Produktionen überhaupt – auf einem Drehbuch, das Michael Crichton bereits in den siebziger Jahren verfasst hatte, er selbst fungierte bei der Serie als einer der Produzenten.

Der Vielseitige

Dass Crichtons Mischung aus wissenschaftlichen Fakten und Fiktion in The Andromeda Strain eine so gelungene filmische Form fand, ist mit Robert Wise einem Regisseur geschuldet, der unverständlicherweise zu den immer noch unterschätzten Figuren des US-amerikanischen Kinos zählt. Wise begann seine Laufbahn bereits in den dreißiger Jahren als Editor bei RKO Pictures, dabei zeichnete er etwa für die Montage von Orson Welles’ Citizen Kane verantwortlich. Seine erste Inszenierung übernahm Wise 1944 bei The Course of the Cat People, als er für den ursprünglichen Regisseur einsprang. Im weiteren Verlauf seiner Karriere erwies sich Robert Wise als höchst stilsicherer Regisseur, der die unterschiedlichsten Genres zu meistern verstand. Zu seinem Œuvre zählen Science-Fiction-Filme (The Day the Earth Stood Still, 1951), Kriegsfilme (The Desert Rats, 1953), Western (Tribute to a Bad Man, 1956), Biopics (Somebody Up There Likes Me, 1956), Beziehungsdramen (Two for the Seesaw, 1962),Horror (The Haunting, 1963), Musicals (West Side Story, 1961; The Sound of Music, 1965) oder Katastrophenfilme (The Hindenburg, 1975).

Robert Wise zeichnete sich im Umgang mit derart unterschiedlichen Stoffen durch eine für ihn typische, von hoher Präzision geprägte Arbeitsweise und einen schnörkellosen, unprätentiösen Regiestil aus. Dabei blieb Wise – der ab Ende der fünfziger Jahre vermehrt als Produzent bei seinen Filmen agierte – nicht nur Garant für gehaltvolles Genrekino, immer wieder verband er auch publikumswirksame Stoffe mit brisanten Themen. In Odds Against Tomorrow (1959), einem klassischen Film noir, wird etwa die Frage des in der US-Gesellschaft herrschenden Rassismus deutlich angesprochen. Ein Jahr zuvor setzte Robert Wise mit dem auf der Lebensgeschichte von Barbara Graham beruhenden I Want to Live! ein True-Crime-Drama in Szene, das als eindringliches Plädoyer gegen die Todesstrafe Message Cinema allererster Güte repräsentiert und zu seinen herausragenden Arbeiten zählt. Der mit großem Budget produzierte The Sand Pebbles (Kanonenboot am Yangtse-Kiang,1966, mit Steve
McQueen in der Hauptrolle), der eine Episode um ein Kanonenboot der US-Navy während des Chinesischen Bürgerkriegs in den zwanziger Jahren behandelt, erweist sich als klar erkennbare Kritik an der militärischen Intervention der Vereinigten Staaten in Vietnam.

Robert Wise konnte auch wegen seiner Doppelfunktion als Produzent und Regisseur das Wagnis eingehen, mit The Andromeda Strain einen Sci-Fi-Thriller – der mit 6,5 Millionen Dollar ein recht hohes Budget aufwies – zu drehen, der wissenschaftliches Arbeiten – für die fachliche Beratung zeichnete auch das höchst renommierte California Institute of Technology verantwortlich – in den dramaturgischen Mittelpunkt rückt (dass Wise auf große Schauspielernamen verzichtete und auf ein Ensemble aus wenig bekannten Darstellern vertraute, ist nur eine weitere Besonderheit). Angesichts der Souveränität, mit der Wise höchst unterschiedliche Sujets aufzubereiten verstand, überrascht es wenig, dass ihm mit The Andromeda Strain eine formidable Arbeit gelingen sollte. Die angesprochene schnörkellose Präzision von Robert Wise erwies sich als kongeniale Form für einen Plot, in dem neben wissenschaftlichen Diskursen Computergrafiken und Aufnahmen des todbringenden Organismus unter einem Elektronenmikroskop eine zentrale Rolle spielen. Für die visuelle Attraktivität dieser Sequenzen war übrigens mit Douglas Trumbull ein Vorreiter in Sachen Special Effects modernen Zuschnitts verantwortlich, ein nicht unwesentlicher Grund für den Erfolg des Films, der allein in Nordamerika beinahe das Doppelte seiner Produktionskosten einspielte.

Aktualität
Auch mit zeitlichem Abstand zur Uraufführung, die im März 1971 stattfand, betrachtet, hat The Andromeda Strain mit seinem betont nüchternen Erzählduktus nichts an Effektivität und Spannung eingebüßt. Angesichts der aktuell realen pandemischen Lage, wird zudem deutlich, wie Michael Crichton und Robert Wise unterschiedlichste Facetten der Thematik ins Spiel zu bringen verstanden und dabei geradezu prophetische Qualitäten entwickelten. So wird etwa in einem kurzen Nebenstrang darauf verwiesen, dass man es bei einem „biologischen Notfall“ – wie die Krise in The Andromeda Strain bezeichnet wird – mit Grundrechten schon bald nicht mehr so genau nimmt. Als die staatlichen Stellen das wissenschaftliche Team von „Wildfire“ zu Beginn der Krise aktivieren, holt man Dr. Jeremy Stone direkt von einer abendlichen Cocktailparty in seinem Haus ab. Weil Stone aus Gründen der Geheimhaltung nichts über seine Mission verraten darf, ist seine Frau – die Waffen tragenden Soldaten, die ihren Mann begleiten, tun ihr Übriges – höchst beunruhigt. Als sie telefonisch ihren Vater, einen hochrangigen Politiker, kontaktiert, um die Sache aufzuklären, wird der Anruf abrupt unterbrochen, eine Stimme schaltet sich dazwischen und erklärt, dies geschehe aus Gründen der nationalen Sicherheit – ein Eingriff in Privatsphäre und Grundrechte, der auch angesichts einer Notlage bedenklich erscheint. Auch der unausweichliche Konflikt zwischen Politik und Experten, wenn es um Maßnahmen – respektive deren Verhältnismäßigkeit – zur Eindämmung von „Andromeda“ geht, wird thematisiert. Die Wissenschaftler um Dr. Stone fordern nämlich, den tödlichen Mikroorganismus in Piedmont und Umgebung mittels Atomexplosion zu neutralisieren, um die Verbreitung zumindest zeitlich zu stoppen – ein radikales Mittel, das natürlich auch Kritik und Fragen der Öffentlichkeit nach sich ziehen würde, ganz einmal abgesehen davon, dass das Zünden einer nuklearen Waffe in der Zeit des Kalten Krieges immer eine risaknte Angelegenheit darstellt. Als sie im Rahmen einer Videokonferenz erfahren, dass die Politik noch zögert, reagieren die Wissenschaftler empört und fordern mit Nachdruck den sofortigen Abwurf der Bombe. Das jedoch löst heftigen Widerspruch von Seiten eines Beraters des Präsidenten aus: „Nur weil er voreiligen Wissenschaftlern misstraut, überlegt es sich der Präsident noch“. Die Ironie dabei: Obwohl die Forderungen der Experten zu diesem Zeitpunkt in bester Absicht, nämlich um eine weltweite Pandemie zu verhindern, erfolgen und auf den ihnen vorliegenden Fakten basieren, wird sich später herausstellen, dass gerade die abwägende Haltung des Präsidenten, der auch nicht-epidemiologische Fragen berücksichtigt, eine größere Katastrophe verhindert.

Selbst die Frage, ob „Andromeda“ nicht ganz zufällig, sondern durch eine Suche nach biologischen Waffen, die eine der Aufgaben der Raumsonde gewesen sein soll, eingeschleppt wurde, wird angerissen und keineswegs als „Verschwörungstheorie“ weggewischt (ein Ansatz, der die höchst kritische Stimmung gegenüber tradierten Autoritäten wie Regierungen, die in der Umbruchsstimmung der sechziger Jahre vorherrschte, widerspiegelt).

Die Notwendigkeit eines nach allen Seiten offenen Diskurses samt der Bereitschaft, eigene Ansichten stets einer kritischen Prüfung zu unterziehen, um komplexen Problemen gerecht werden zu können, ist ein zentrales Motiv von The Andromeda Strain. Die Sätze, mit denen Michael Crichton schon im Vorwort des Romans dies herausstreicht, klingen dabei wie eine exakte Beschreibung aktueller Zustände: „Wie bei den meisten Krisen, stellen die Vorgänge um „Andromeda“ eine Mischung aus Weitblick und Dummheit, Harmlosigkeit und Unwissen dar. Fast alle Beteiligten erlebten Augenblicke hervorragenden Scharfsinns ebenso wie Augenblicke unerklärlicher Verbohrtheit.“