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Michael Berger – Eine Hysterie

20 Jahre dok.at | Analyse

Realitätsvirus

| Michelle Koch :: Alejandro Bachmann |
Wer ist näher an der Wirklichkeit dieses Landes? Der österreichische Dokumentarfilm oder die Politik seiner politischen Führung? Eine Erkundung.

„Wir brauchen etwas weniger frommes Beharren auf um Klasse und Nation herum artikulierte politische Prinzipien und etwas mehr vom Prinzip der politischen Verhandlung.“
Homi K. Bhabha, „Die Verortung der Kultur“

Liebe Österreicherinnen und liebe Österreicher!“ So wendet sich Bundeskanzler Sebastian Kurz in den in hochfrequenter Taktung stattfindenden Pressekonferenzen im Rahmen der Corona-Krise wiederkehrend über die Fernsehapparate und Browserfenster des ORF an die Zuschauerinnen und Zuschauer. Zu Beginn, um die Maßnahmen zu verkünden, die im sogenannten Lockdown ihren vorläufigen ersten Höhepunkt finden. Später, um Durchhalteparolen an eben jene alle vor den Fernsehapparaten zu richten, die sich von dieser begrifflichen Rahmung angesprochen fühlen. Man könnte diese Bemerkung für eine Spitzfindigkeit halten, wüsste man nicht um die Genauigkeit, mit der die Türkisen ihr Wording durchdenken, auch (oder: vor allem), wenn es um das Herbeizitieren eines Gefühls von „wir“ und „die“ (besser: „wir“ gegen „die“) geht, die diese Mitte-rechts-Regierung von Anfang an bedient. Weitere Äußerungen im Laufe der Krise – etwa die Bitte, die Bevölkerung des Kleinwalsertals möge zum Besuch des Kanzlers die Häuser reichlich beflaggen (die Grenznähe mache diese Form von Nationalismus in besonderer Weise erforderlich, sagt Kurz später), oder die Anmerkung, das Virus komme mit dem Auto über die Grenze – bedienen das immer gleiche Bild nationaler österreichischer Identität: Jenseits der Staatsangehörigkeit, jenseits der geografischen Grenze gibt es niemanden, den diese Regierung adressiert und mitdenkt: „Innen“ & „Außen“, „das Eigene“ & „das Fremde“, „Sicherheit“ & „Gefahr“ teilen sich bei ihr starr entlang der Idee von „wir“ und „die“ auf, während das Covid-19-Virus in seinen grenzüberschreitenden Bewegungen das genaue Gegenteil eben solcher Grenzziehungen Tag für Tag spürbar macht.

Aus dieser Perspektive ist der österreichische Dokumentarfilm ein Virus, das den audiovisuellen Erscheinungsraum berechnend gesetzter (und vielfach naiv übernommener) ideologischer Sprechakte ins Wanken bringen kann, um solcherart verdeckte Realitäten in Bildern und Denkfiguren zurück in die Wahrnehmbarkeit zu führen. Christa Blümlinger, die Mitte der achtziger Jahre als eine der ersten den Versuch unternommen hat, die Geschichte, die aktuelle Situation und die Ansprüche für die Zukunft des österreichischen Dokumentarfilms zu beschreiben, sieht darin eine seiner primären Funktionen: „So scheint die Praxis des Dokumentaristen als Intervention, als Akt der Vorwegnahme. Eine entwickelte dokumentarische ‚Landschaft‘ (Alexander Kluge) könnte dem Zuseher die Möglichkeit geben, sich darin zu begreifen, visuelle Verdrängungen und Spiegelungen des kollektiven Unterbewußten seiner Gesellschaft zu realisieren. Das Entstehen und die Entwicklung dokumentarischer Filme sind gewissermaßen auch als Vexierbild des herrschenden (Des)Interesses der am politischen, ökonomischen und kulturellen ‚Block der Macht’ (Antonio Gramsci) Beteiligten an der (kritischen) Reflexion der filmischen und vorfilmischen Realität(en) zu sehen.“ (Christa Blümlinger: „Zur Theorie des Dokumentarfilms“, in: „Blimp“, Heft 12, Sommer 1989, S. 22.)

„Im Westen gibt es so viele schöne Länder, aber mein Tipp war Österreich“, äußert Ratko Rebic´ einmal in Gekommen bin ich der Arbeit wegen, Goran Rebic´s und Walter Zellers 1987 entstandenem Grenzgang zwischen dokumentarischen und fiktionalen Modi. In 20 Minuten beschreibt der Mann sein Ankommen in Österreich, das Mitte der sechziger Jahre im niederösterreichischen Ebergassing seinen Anfang nimmt, um ihn über Trautmannsdorf, Schwadorf, Wienerherberg und Brunn am Gebirge nach Wien zu führen. In Rembrandt-artiger Chiascuro-Ausleuchtung blickt der Mann mit verschränkten Armen direkt in die Kamera, erzählt langsam und genau, ein wenig auch gequält (vielleicht ob des unangenehmen Aktes des Erinnerns) von diesem Ankommen, das vorerst gerade das nicht ist, sondern eine Aneinanderreihung von Suchbewegungen und Enttäuschungen, ein Verbleiben im Schwebezustand: Erst findet er keine Arbeit, dann doch noch, wird aber wegen der Bekanntschaft mit einem randalierenden Trinker umgehend wieder entlassen. Im nächsten Ort klappt es endlich mit der Arbeit, aber die Unterkunft ist menschenunwürdig. Die Filmemacher fahren mit ihm diese Stationen seiner Vergangenheit ab, lassen sie sich von ihm zeigen – die Baustellen und Hinterhöfe, die Werkstätten und Landstraßen – und schreiben so ihn und seine Geschichte in die trostlose Landschaft ein. Hier und da reinszenieren sie anekdotische Vignetten, etwa ein Trinkgelage Ratkos. Die subjektive Kamera schwankt, kreist, wackelt um den verrauchten und mit Zigaretten und Bierflaschen gedeckten Tisch. Sie ist Ausdruck eines Rauschs, aber auch Ausdruck eines unsicheren Lebensgefühls in der Fremde, die für Ratko Österreich ist.

Der österreichische Dokumentarfilm beschäftigt sich immer wieder mit diesen Identitäten, die Teil Österreichs sind (als solche von der Politik aber eben nicht, allenfalls defizitär adressiert werden). Zum ersten Mal sehr sichtbar wohl in Ulrich Seidls Good News (1990), der die Arbeits- und Lebensrealitäten ausländischer Zeitungs-Kolporteure kontrastiert mit der Gleichgültigkeit ihrer österreichischen Leserschaft und so eine Migrationsgesellschaft im Wiener Alltag offenbart. Aber Differenz schreibt sich als Teil der österreichischen Identität nicht nur mit der Ankunft von Menschen aus anderen kulturellen Zusammenhängen im Staatsgebiet ein, sie ist immer schon Teil einer globalisierten, von weltweiten Märkten bestimmten Wirtschaft. Am eindrücklichsten erzählt und reflektiert dies in den letzten Jahren, neben einigen Filmen von Nikolaus Geyrhalter, Thomas Fürhapters Michael Berger – Eine Hysterie (2010). In einer dramaturgischen Schleife, die wie ein Möbiusband das Ablaufen einer chronologischen Zeit und die Markierungen nationalstaatlicher Ideen von „Innen“ und „Außen“ in fragiler Uneindeutigkeit hält, wird das Leben Michael Bergers – von Anfang der siebziger Jahre bis zum Jahr 2008 und zwischen Salzburg, Wien, Paris, London, New York, Miami, Kuwait und den Bermudas – entfaltet. Berger war in London als uneheliches Kind einer Mutter aus Salzburg auf die Welt gekommen, absolvierte in Österreich die Matura, arbeitete in New York als Investmentbanker, gründete mit 24 Jahren einen Hedgefonds mit Investoren aus der ganzen Welt, wurde 2003 in den USA des Finanzbetrugs im großen Stile schuldig gesprochen und schließlich auf der Westautobahn zwischen Salzburg und Wien festgenommen. Statt uns das Gesicht seines „flüchtigen“ Protagonisten zu zeigen, montiert Fürhapter Bilder – stille Landschaftstableaus, mehrheitlich leere Innenräume, Fahrten entlang von Straßen –, die mal ganz direkt, mal nur in Andeutungen Verbindungen mit der im Off vorgetragenen Nacherzählung der Ereignisse zeigen. Die Bilder oszillieren dabei zwischen einer ganz klaren Zuordenbarkeit (Hochhäuser in Manhattan, Strände in Florida, geduckte Arbeiterhäuser in der österreichischen Provinz) und anonymen Nicht-Orten (Flughäfen, Hotelzimmer, Managerbüros, Tennisplätze, Gerichtssäle). So entsteht das Bild eines Mannes, der seit seiner Geburt in Bewegung zwischen Nationalstaaten ist, der ein Geschäft leitete, das Geld aus verschiedensten Ländern investiert, von einem österreichischen Managermagazin zum erfolgreichsten „Auslands-Österreicher“ ernannt wird, irgendwann auf der Liste der „Most Wanted“ landet und von Finanzaufsichtsbehörden und Geheimdiensten auf der ganzen Welt gesucht wird, um schlussendlich aus einem österreichischen Gefängnis frei zu kommen, weil eine österreichische Justiz ihre eigenen gesetzlichen Verfahrensfristen nicht einhält.

Das Geld, das hier (oder dort) verdient und dort (oder hier) investiert wird, spielt auch in Kurdwin Ayubs Paradies! Paradies! eine nicht unerhebliche Rolle. „Warum willst du so eine teure Wohnung kaufen, wenn wir in Österreich leben?“ Der in Wien praktizierende Arzt Omar Ayub will in die Zukunft investieren: in seine und in jene seiner Heimat Kurdistan im Norden des Irak, aus der er 1991 mit seiner Familie geflohen ist und in der er sich nach einem Vierteljahrhundert in Österreich eine Wohnung kaufen will, um früher oder später „nach Hause“ zurückzukehren. Kurdwin Ayub begleitet ihren Vater zu Familientreffen und Besichtigungen von Luxusappartements. Auf der mit der Handkamera festgehaltenen Reise durch das von Omar angepriesene „Paradies auf Erden“ entfaltet sich nach und nach das Bild eines desolaten, von kriegerischen Konflikten heimgesuchten Landes: neben millionenschweren Neubauten öde Stadtlandschaften mit zerbombten Straßen und zerstörten Gebäuden, in unmittelbarer Nähe die Kampfzonen, in denen sich Peshmerga und IS Gefechte liefern. Omars nostalgische Glorifizierung seines einstigen Zuhauses kann der Realität nicht weiter standhalten: Der Irak ist kein Label, mit dem sich gute Geschäfte machen lassen, heißt es einmal. Weder der Erwerb einer Immobilie noch die finanzielle Unterstützung in kurdische Widerstandskämpfer kann ihm die Heimat oder ihn der „Heimat“ wieder näherbringen.

Hin- und hergerissen zwischen Patriotismus, Nostalgie und der Erkenntnis, eigentlich nicht mehr hierhin zu gehören, wird sich der Mann aus dem Westen schmerzlich bewusst, dass er die ersehnte Stabilität, Orientierung, Sicherheit nicht finden wird, dass Heimat in diesem konkreten Sinne nicht existiert. Ayub erzählt von einem Dazwischen, das irgendwo zwischen Erinnerung an Kurdistan und der Gegenwart in Österreich, den kurdischen Patienten in der Wiener Praxis und dem Weihnachtsbaum am Flughafen von Erbil verhandelt werden muss. In einem skurrilen wie ernüchternden Generationen-Porträt zeichnet sie die persönliche Geschichte ihrer Familie und – wie Madeleine Bernsdorf es formuliert – „deren transnationale (Gefühls-)Ökonomien in Interaktion mit machtvollen kriegerischen Konflikten“: eine Geschichte über Migration, Zugehörigkeit, Entwurzelung und misslingende Heimkehr, die sich zum universalen Narrativ eines Europa der Gegenwart verdichtet.

Der österreichische Dokumentarfilm bildet nicht ansatzweise jene Dichte postmigrantischer Lebensrealitäten ab, die in Österreich den Alltag bestimmen, aber er tut es wiederkehrend und immer öfter, seitdem Österreich sich 1981 in Form eines Filmfördergesetzes zur Etablierung eines „nationalen Kinos“ entschieden hat. Die drei hier erwähnten Filme deuten an, dass ein Nachdenken über das, was man mit „Österreich“ meinen könnte, welche Realitäten damit bezeichnet werden, ein Aushandeln sein muss, das zwischen den Stimmen aller an ihr Beteiligten und den Formen ihrer visuellen Reflexion stattfindet. In dieser Weise ist der österreichische Dokumentarfilm der Realität eines Landes um ein Vielfaches näher als die Politik seiner politischen Führung.