Über Filme sprechen und einander zuhören. Mehr Wissen macht mehr Spaß: seit mehr als zehn Jahren das Ziel des Projekts „Kinderkinowelten“.
Sich bei Bewegtbildern und deren Verknüpfung mit Ton im Kino zurückzulehnen und mit Abstand deren Faszination an Schönheit oder an Überzeugungskraft anzusehen, wird trotz der kulturellen Bedeutung dieses Mediums zu selten gemeinsam gemacht. Dabei das Gesehene und das Gehörte für den anderen / für die andere in Worte zu fassen, ist schwierig. Oft fehlen die entsprechenden Begriffe, nicht nur um die Bild-Ton-Kompositionen zu vermitteln, sondern auch um den eigenen inneren Erlebnisreichtum auszudrücken. Ein nicht unwichtiger Nebenaspekt bei diesen Gesprächen: Man lernt, einander geduldiger zuzuhören, wodurch zusätzlich das gemeinsam Erlebte noch verstärkt werden kann.
Mit „Ich wusste gar nicht, dass man sich so lange über einen Film unterhalten und nachdenken kann“, brachte eine Schülerin der vierten Klasse einer Neuen Mittelschule das Ziel der Kinderkinowelten auf den Punkt.
Film wie jede andere Kunstform als Dialog zu sehen, bei dem erst das Publikum Sinn und Sinnlichkeit verleiht, bleibt immer wieder ein spannendes Abenteuer. Ob es der Literaturwissenschafter Michail Bachtin oder der uns vielleicht bekanntere Egon Friedell ist, beide kommen zu einem ähnlichen Schluss: „Der wahre Dichter jedes Kunstwerks kann immer nur das Publikum selbst sein.“ (Friedell) und „Das Dialogprinzip besagt, dass jedes künstlerische Werk aus dem Dialog heraus entsteht, von diesem beeinflusst ist, sich im Dialog verändert und dadurch modifiziert und für die eigene Lebensrealität nutzbar gemacht wird.“ (Bachtin)
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Seit mehr als zehn Jahren bieten wir vom Institut Pitanga – dieser Name möge Fantasien wecken –, aufbauend auf das alljährlich in Graz und Wien stattfindende Internationale Kinderfilmfestival bundesweit ausgewählte Filme mit zeitversetzten Gesprächen in erster Linie für den schulischen Bereich an. Ein gebuchter Termin besteht, und das ist uns sehr wichtig, aus zwei Teilen: Der erste Teil findet am besten im Kino, aber auch in einem dem Kinosaal technisch ebenbürtigen Medienraum statt: Bei den Vorführungen wird jede Filmerzählung anmoderiert, um das Bewusstsein und die Wahrnehmung des Publikums zu schärfen. Zusätzlich werden altersadäquate Beobachtungsaufgaben gestellt, die sowohl formale als auch inhaltliche Aspekte berücksichtigen. Nach dem Ende der Vorführung werden kurze assoziative Gespräche geführt und spontan Eindrücke ausgetauscht. Dabei geht es darum, individuelle und gruppenspezifische Themen für den nachfolgenden Termin zu finden. Der zweite Termin sollte in einem allen bekannten Raum stattfinden, in dem man sich wohl fühlt.
Mit einigen Tagen Abstand, darauf legen wir aus wahrnehmungs- und erkenntnispsychologischen Gründen besonders Wert, findet die kreative Aufarbeitung des Filmerlebnisses statt, das abhängig vom Interesse, Vorwissen und vom Alter oft zu interessanten und langen Gesprächen führen kann. Dabei wird mit Wahrnehmungsspielen begonnen, die zur Filmerzählung zurückführen, die in der Zwischenzeit in den meisten Fällen nicht in der Vergessenheit versunken, sondern nur, dies wird auch von uns angestrebt, ins Unterbewusste des Langzeitgedächtnisses gesunken ist. Wie die Gespräche auch immer wieder zeigen, werden Erinnerungsbilder aus dem Film durch diese zwischenzeitliche Spanne neu zurechtgelegt, manchmal persönliche Erfahrungen variiert bzw. innerlich für den „Eigengebrauch“ neu geordnet. Bilder aus der Geschichte werden als Erinnerungsfolie der eigenen Lebenserfahrung zugeordnet. Eigenschaften der Filmfiguren werden mit Worten beschrieben, manchmal sogar vorgezeigt oder als Bilder gemalt. An das imaginative katathyme Bilderleben aus der Psychotherapie erinnert diese spielerische Aufarbeitung nicht zufällig, wobei sie um die Frage nach der filmisch spezifischen Darstellungs- und Gestaltungsweise noch erweitert wird: „Bitte schließt die Augen! Bitte beschreibt die erste Filmsequenz, die euch in den Sinn kommt, in fünf Sätzen.“ Immer wieder hält dieser spontane und vorgabenfreie spielerische Zugang zur Seh- und Hörerfahrung Überraschungen für uns alle bereit. Oft werden assoziativ persönliche Erfahrungen eingebracht, die in der Filmerzählung nicht vordergründig zu finden sind, sondern mehr durch das eigene Leben wachgerufen werden.
Bild-Ton-Kompositionen in Worte zu fassen, Gefühle auszudrücken, ästhetisch interessante Passagen nochmals als Standbild oder als Laufbildern erkennend zu genießen, oder auch nur die Grundelemente der Filmsprache mit Großbild und DVD in Erinnerung zu rufen, ergänzen die individuellen Assoziationen. Ausführliche Modelltexte zu den einzelnen ausgewählten Filmen ermöglichen es auch mittelfristig, und das ist ebenso ein Ziel der Kinderkinowelten, dass die Pädagoginnen und Pädagogen ermächtigt werden, selbst mit ihren anvertrauten Kindern über Film unter inhaltlichen und formalen Aspekten sprechen zu können.
Jedes Jahr setzen sich mehr als zehntausend Kinder dank der Kinowelten intensiv, nicht unähnlich dem Schreiben, Lesen und Rechnen, auch mit Film auseinander. Film als „Mutter aller audiovisuellen Möglichkeiten“ wird dabei als eigenständige Erzählform in bewusster Weise gepflegt. Nicht allein zu Hause vor dem Bildschirm zu sitzen und die Möglichkeit, sich danach gemeinschaftlich zu unterhalten und sich auch kritisch zu formalen Überlegungen auszutauschen, prägt das Projekt Kinderkinowelten. Zu großen Überraschungen für Pädagoginnen und Pädagogen, die „ihre“ Kinder zu kennen glauben, kommt es, wenn schüchterne oder „verstockte“ Kinder bei dieser Gelegenheit aus sich heraus gehen und Bemerkungen zur Filmerzählung machen, die uns anderen oft verborgen bleiben.
„Hast du vergessen, Franz, dass du vor 14 Tagen im Kino uns die Aufgabe gestellt hast, nachzudenken, ob dieser Film (der damals gezeigte, Anm.) größere, gleich große oder kleinere Ereignisse zeigt, als sie unser Leben kennt?“ Ich wollte diese Fragestellung im Gespräch nicht wieder aufgreifen, da sie mir, vor der Klasse stehend, zu theoretisch vorkam, obwohl sie wesentliche Darstellungsformen genrebedingter Realitätsmodifikationen indirekt anspricht, die das Publikum jedes Alters berühren, irritieren oder bestätigen. Dann hielten jedoch das neunjährige Mädchen und ihre Freundin, hoffentlich bleibt ihnen dieses Interesse an der Welt wach, einen wohldurchdachten Kurzvortrag mit Beispielen aus dem Film, dass sogar jenen Kindern, die bisher nur wenig zugehört hatten, die Sprache wegblieb.
Franz Grafl ist promovierter Politik- und Theaterwissenschaftler und langjähriger Mitarbeiter des Internationalen Kinderfilmfestivals.