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Kolumne: Buttgereit

Recht auf Unwissenheit

| Jörg Buttgereit |
Wir wissen lange vorher viel zu genau, was wir zu sehen bekommen.

Filmproduzenten wollen dem Publikum gerne geben, wonach es verlangt. Schließlich geht es im Filmgeschäft um Gewinnmaximierung. Bevor ich Here, den neuen Film von Robert Zemeckis mit Tom Hanks und Robin Wright (also dem Dream-Team aus Forrest Gump) gesehen habe, war mir nicht bewusst, dass der aus nur einem statischen Blickwinkel im Wohnzimmer eines Einfamilienhauses erzählt wird. Dabei ist dieser Moment, in dem ich mich nach einigen Minuten Laufzeit frage, ob und warum sich die Kamera überhaupt nicht bewegt, für die Wirkung von Here unerlässlich. Ich würde sogar behaupten, dass der Überraschungsmoment, dieser bestimmte Augenblick der Erkenntnis, für den Zuschauer und das Kino generell unendlich kostbar ist. 

Stellen sie sich vor, sie hätten beim Ansehen eines bestimmten Science-Fiction-Films im Jahre 1968 nicht schon vorher gewusst, dass der Astronaut Taylor mit seinem Raumschiff in der Zukunft auf einem Planeten bruchlandet, der von Affen regiert wird. Oder was für ein Untier die junge Frau, die Nachts angetrunken im Badeort Amity schwimmen geht, in die pechschwarze Tiefe zieht. 

Die Werbestrategen der Filmverleiher haben uns um das Staunen im Kino gebracht. Wir wissen lange vorher viel zu genau, was wir zu sehen bekommen. Doch ich kämpfe für mein Recht auf Unwissenheit. Nicht einfach in der Informationsgesellschaft. Aber durch das Ignorieren von Pressetexten, Kritiken und Trailern schaffe ich es immer wieder, relativ jungfräulich in einem Film zu landen. Ich habe zum Beispiel nicht gewusst, dass Joker: Folie à Deux ein Musical ist. Sie können sich sicher vorstellen, wie ungläubig irritiert ich in der Pressevorführung dieser Comicverfilmung gesessen habe, als Joaquin Phoenix plötzlich in der Klapsmühle Arkham Asylum zu singen anfängt. Der Umstand, dass ich Filme manchmal schon Wochen oder Monate vor Kinostart sehen kann, hilft mir natürlich bei meinem Vorhaben. Here konnte ich 10 Wochen vorher sehen. Aber Beim Joker-Sequel war die Pressevorstellung gerade mal drei Tage vor dem Start. Überall hingen schon Plakate. Da bin ich als Batman-Fan schon etwas Stolz auf meine wohlgehütete Jungfräulichkeit. Fasziniert von dem traurig schönen Film bin ich umgehend in einen Plattenladen und habe die Soundtrack-LP mit den Songs aus Joker: Folie à Deux gekauft. In den siebziger und achtziger Jahren hatte ich die LPs zu Filmen, die ich mit Sehnsucht erwartete, schon lange vor dem Filmerlebnis auf dem Plattenteller liegen. Im Berliner Europa Center war das Schallplattengeschäft Bote & Bock, das auch US-Importe führte. Hier konnte ich die Soundtracks zu Alien oder The Thing lange vor dem deutschen Filmstart erwerben. Denn zu jener Zeit liefen US-Filme hierzulande erst viele Monate nach dem heimischen Start an. Auf den gehypten Batman mit Jack Nicholson als Joker mußten man 1989 unendliche vier Monate warten, in denen ich überzeugt war, Prince und nicht Danny Elfman hätte die Filmmusik gemacht. Heute undenkbar. Jerry Goldsmiths Score zu Alien bei der Erstsichtung schon auswendig zu kennen, hat meinen Filmgenuss aber nicht geschadet sondern, diesen intensiviert.