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Jean Renoir

Renoiriana – Das gut Gesagte bezeugt das gut Gesehene

| Jörg Becker |

Mit seinem neuen Buch „Partie/Renoir“ öffnet Helmut Färber das Tor zum Oeuvre Jean Renoirs.

„Er macht in einer Einstellung, was andere in zehn machen…“ (J.L. Godard, aus Anlass von Jean Renoirs Eléna et les Hommes, 1956)

In der ersten Hälfte seines Buches widmet sich Helmut Färber einem Film des französischen Regisseurs Jean Renoir (1894-1979) aus dem Jahr 1936, Une Partie de campagne (Eine Landpartie), ein in Renoirs mit 15 Filmen produktivster Phase in den 1930er Jahren vor Klassikern wie La Grande Illusion (1937) und La Règle du jeu (1939) entstandener, vergleichsweise wenig beachteter Kurzfilm. In einer detaillierten Beschreibung von Bildkomposition, Schauspielführung und Lichtgestaltung inklusive einer Nachschrift des Dialogs legt der Autor deren für die Kunstauffassung Renoirs exemplarischen Charakter offen. Ein Beispiel von Filmphilologie im besten Sinne ist so entstanden: grundiert mit aller in einem eigenen Kapitel ausgiebig annotierter Renoirliteratur, den bisherigen Filmprotokollen bzw. Drehbuchpublikationen und Archivunterlagen zu Une Partie sowie allen verfügbaren Schrift- und Gesprächsquellen des Regisseurs bewegt sich Färber am Verhältnis des vorgängigen Skripts (Découpage) zum Drehergebnis entlang und beschreibt Änderungen und Besonderheiten des Films, lässt Einstellung für Einstellung, Satz um Satz den Film für sich selbst sprechen. Das bleibt immer genau, aber mit einem gehörigen Abstand zum Werk, weil der Erkenntnis eingedenk, dass keine noch so gelungene Darstellung die Gründe für die spezifische Attraktion eines Films mitzuteilen vermag. Ursprünglich hatten die Dreharbeiten bei natürlichem Tageslicht stattfinden sollen, doch dann begann es nach wenigen Tagen zu regnen, und in den kurzen Regenpausen zwischen langen Wartezeiten wurde schleunigst gefilmt. Schließlich musste Renoir wegen einer anderen Verpflichtung, zum Dreh von Les Bas-fonds (Nachtasyl, nach Maxim Gorki, gedreht 1936), die Arbeit abbrechen; erst zehn Jahre darauf, im Dezember 1946, kam der Film Une Partie de campagne, von einer versierten Cutterin im Auftrag seines Produzenten Pierre Braunberger zu einer Filmlänge von 40 Minuten montiert, in die Kinos und zählte zu einem der größten Nachkriegserfolge Renoirs.

Une Partie de campagne nach einer 1881 erschienenen Novelle Guy de Maupassants erzählt vom Sonntagsausflug einer Pariser Kaufmannsfamilie im Jahr 1860; die Geschichte eines zarten amourösen Werbens zweier Urlauber, das Mutter und Tochter jener Familie gilt und dem Mädchen, Henriette, lange nachhängen wird, wurde mit außergewöhnlicher Empfindung für die sommerliche Landschaft aufgenommen an den Ufern des Flusses Loing in Sorques (Commune de Montigny-sur-Loing, Departement Seine-et-Marne), von Juni bis August 1936. Zu den Assistenten zählten Jacques Becker, Henri Cartier-Bresson, Luchino Visconti und für Requisiten und Kostüme Claude Heymann und Yves Allegret.

An der aus wenigen Einstellungen bestehenden Schlussszene lässt sich lernen, was ein Epilog ist, wie fundamental über solches Nachspiel die Dimension einer Erzählung in die Tiefe umschlagen kann (so wie im Gegensatz dazu der Prolog, quasi vor dem Vorhang, aus der Nähe einführt): Jahren später trifft Henriette jenen Mann wieder, am Ort ihrer einstigen, einzigen intimen Begegnung, jetzt in einem anderen, herbstlichen Licht gehalten; beide sind sie längst jeder für sich verheiratet, und augenblicklich vermag der Film hier an eine verlorene Zeit zu erinnern, mit dem Rückblick auf einen Moment des Begehrens, der eine einmalige, von allem, was folgen sollte, grundverschiedene Glücksvorstellung aufkommen ließ. Im Epilog scheinen die Menschen jenes Sommertags, die sich da zu einer späteren Zeit wiederbegegnen, als die Schatten ihrer selbst.

Das Ende der Erzählung geht in Regen, in einer Natursequenz auf, „von der Geschichte eines Tages zu der eines Lebens“, vom Akzidentiellen, Geschehenden, zum Existenziellen, aus dem der Film nicht mehr zurückkehren kann. Die herausragende Gestalt des Films, Henriette, gespielt von der ganz außergewöhnlichen Sylvie Bataille (nach dem Tod ihres ersten Mannes Georges Batailles mit dem Psychoanalytiker Jacques Lacan verheiratet), die Färber in einem eigenen Kapitel würdigt – für sie habe Renoir seinen Film eigentlich gemacht, heißt es -, wird in der Erzählung des einen Sonntags zu einer anderen – „von einem Glück, von ihrer, von Henriettes Sehnsucht und Ahnung, all diesem umgebenden, so innig wahrgenommenen Naturleben selber zugehörig, mit ihm eins, Teil von ihm zu sein“. Durchweg weist Färber Korrespondenzen zum Gesamtwerk Renoirs auf, bringt ein Netz von Verwandtschaften und Ähnlichkeiten zum Ausdruck, er charakterisiert Figuren, deren Varianten in der Personnage anderer Werke auftauchen. „Von fern erinnert, was in Partie mit Henriette geschieht, an die Marie in Toni und an die Harriet in The River. Die Marie wie die Harriet erleben, …, aus einer Nichterfüllung eine Art Wiedergeburt aus dem Wasser. Die Henriette erlebt, mit einer Fahrt über das Wasser, aus einer Erfüllung ein Wissen – für immer, und während der Regen fällt – um einen Verlust.“

Bei Färber findet sich eine Poesie, in der das gut Gesagte das gut Gesehene bezeugt, entstanden aus der Neigung, die wahrgenommenen Einstellungssequenzen deskriptiv zu übersetzen, und so zäsuriert und rhythmisiert der Autor seinen Text mitunter wie zu Gedichtzeilen, in denen die Sukzession der Bildwahrnehmung im Übergang der Schnittfolge nachgezeichnet ist. „Verwandlung, ein sich Entfernen./ Kein losbrechendes Gewitter, sondern:/ Schilf, weite Landschaft, Licht, Wolken,/ Regen auf dem Wasser./ Im Regen verschwindet die erzählte Geschichte.“

„Renoirs Kamera löst sich nicht allein von den Figuren, sondern auch von der gesamten Periode der Fiktion … Als ob der Tag auf dem Land, der im 19. Jahrhundert begonnen hatte, im 20. Jahrhundert endet.“ (Zitiert Färber aus Gilberto Perez: „The Material Ghost. Films and their Medium“, Baltimore/London 1998) Färber: „Sie blickt Henri an, bewegt leicht den Kopf,/ und hinter ihr das sich Bewegen der Bäume im Wind,/ und ihre Lippen bewegen sich, als setze sie an zu sprechen,/ und öffnet den Mund wie zu einem Wort, aber es ist ein Verstummen,/ das aus ihr spricht,/ und indem ihr Blick, mit dem sie Henri anblickt, sich bewegt,/ bewegt in ihren Augen sich der Widerschein des Lichts,/ mit einem Aufblitzen,/ und danach noch geht über ihr Gesicht der Schatten eines Lächelns/ oder der Schatten von etwas, das ein Lächeln gewesen wäre,/ indem sie schon sich umwendet“. Mitunter erinnert die Syntax, die eigenwillig der vitalen Spannung der Bildeindrücke in ihrer Folge und den daraus wahrnehmbaren Empfindungen nahe ist, an Stummfilmdrehbücher eines Carl Mayer.

Der gesehene und der beschriebene Film, so scheint es gewissermaßen die ‚Kritik der Urteilskraft‘ des Autors zu begreifen, der sich diesen Film als Beispiel für den Film zum Gegenstand wählt, verhalten sich zueinander etwa so wie das Reale und das Apperzeptiv-Imaginäre, sprachsymbolisch gefasst. „Niemals wird ein Schreiben den Film, den wirklichen, in sich enthalten können“, so Färber „– und wird immer von dem Wahrnehmen, das es ganz doch hinziehen möchte auf ihn, den Film, etwas wegziehen auf sich und auf einen Film, der nicht der wirkliche ist, …“ Filmkritisches Schreiben ist Erinnerungsarbeit, das Nachvollziehen der visuellen Aura eines Films zugleich eine Frage der Wahrnehmung; in der Zeitschrift FILMKRITIK, für die Helmut Färber zwischen 1962 und 1974 durchgehend tätig war, schrieb er 1969: „Der Gegenstand beim Schreiben über Filme – für Filme, durch sie – ist nicht der Film selbst, sondern die Filmerinnerung. Ihre Beschaffenheit bestimmt die Intensität des Schreibens, Lesens, insgesamt der Verbindung mit einem Film.“

In der zweiten Hälfte des Bandes – unter dem Titel „Renoiriana“ – schafft Färber unterschiedliche thematische Zugänge zum Gesamtwerk von Renoir, den er stets aus den zahlreichen Primärquellen im Original mit der Übersetzung zitiert und sich bestens auf die fast vergessene Textform der Anmerkung versteht, über die er ein Fundament von Verweisen, historischen Zeugnissen und Exkursen implementiert. In diesen Studien geht es etwa um den Schauspieler für einen Film und das Finden der zu verkörpernden Rolle, um die ‚äußere Wahrheit‘ der Darstellung, wenn Renoir etwa in einer Kolumne für die kommunistische Tageszeitung „Ce Soir“ über die ausgiebigen Arbeitsstudien berichtet, die Jean Gabin und Fernand Ledoux für La Bête Human (1938) nach Emile Zola bei der Eisenbahn und auf der Lokomotive betrieben, für den Film, den Renoir einmal mit den griechischen Tragödien verglich. Wenn diese Bemühung ausgeschöpft ist, komme man bei der ‚vérité intérieure‘ an;  Naturalismus und Abstraktion. Renoir spricht über seine ‚Erfindung‘, aus dem Lesen des Rollentextes, ohne jede Spur von Betonung und Ausdruck  – Probenarbeit ‚à l’italienne‘ – eine Rolle erst zu entdecken, ganz zuletzt daraus die Gestik zu entwickeln. Beschrieben wird u.a. die bedeutsame Überschreitung der Regel in Le Carosse d’or (1952), wenn der Film für einen Augenblick seine Theater-Rolle verlässt, sich in die entgegengesetzte Richtung wendet und so als Film zu erkennen gibt. Zur Sprache kommen die Umstände, unter denen Renoir nach seiner Emigration aus dem von den Nazis okkupierten Frankreich bei der 20th Century Fox den Film Swamp Water (1941) drehte, für dessen konventionelle Gestaltung zahllose Eingriffe des Produzenten Darryl F. Zanuck (dessen „Memos“ das belegen) und das buchhalterische Vorgehen der Studios verantwortlich sind. Von da an wusste Renoir, er war „im Reich von Vater Ubu“ gelandet. Die Erörterung der Frage, wie das Schreiben in den Film gelangte – um die Spur der Geldausgaben dafür nachzuzeichnen und so zur Ereignisgeschichte, zur Story wurde – ist nur einer der erhellenden Exkurse dieser Studien. Ein anderer, wie Renoirs La Marseillaise (1937), der Film der Arbeiterklasse zur Zeit der Front Populaire, entstand, als ein Teil der französischen Bourgeoisie den Sieg Hitlers wünschte. Von der „Wunde der modernen Gesellschaft, der Langeweile“ (l’ennui) handelte Le Testament du Docteur Cordelier (1959), einer modernen Version von „Dr. Jekyll and Mr. Hyde“, und Färber stellt hier Vergleiche an mit einer Diderot-Figur aus dem 18. Jahrhunderts, aus der Epoche der Klassik, als dessen Angehöriger Renoir sich wohl am ehesten sah, denn mit der das bürgerliche Zeitalter dominierenden melodramatischen Kunst konnte er nicht viel anfangen. „Der Geist der Klassik, in welchem man versucht, die Dinge mehr im Innern zu behalten als sie äußerlich zu zeigen, ist heutzutage natürlich sehr schwer zu fassen für ein Publikum, das seit hundert Jahren von romantischen Tränen überflutet wird. (…) Mein persönlicher Wunsch – auch wenn es mir nicht gelingt – war immer, klassisch zu sein.“ (Jean Renoir, „Je suis un raconteur d’histoires“ / Ich bin ein Geschichtenerzähler, 1954)

Die vorliegende Quintessenz jahrzehntelanger Renoirstudien  des Autors zielt gewissermaßen in die Seele des Kinos, die Kinematografie, für welche die Bilder noch nicht zu Zeichen oder Signalen degradiert sind, und beseelt so, fern akademischer Veröffentlichungskonkurrenz („publish or perish“) und frei von dem darin vorherrschenden lektüresperrigen, zu ambitionierter Abstraktion um ihrer selbst willen tendierenden Jargon, jeden Leser, der bereit ist, aus dem Film wie für das Filmemachen positiv zu lernen. Ein profundes Werk von langer Dauer ist damit entstanden, ein Band, der die ignorierten Möglichkeiten des Films für dessen Gegenwart wiederbeleben will, so wie es Färbers bereits erschienene Monographien zu exemplarischen Filmbeschreibungen von Kenji Mizoguchi (Saikaku ichidai onna / Das Leben der Frau Oharu, 1952) von 1986, David Wark Griffith (A Corner in Wheat, 1909) von 1992, und Yasuhiro Ozu (Soshun / Früher Frühling, 1956) von 2006 unternahmen. Mit ihnen gelingt es, aus Filmwerken, in die viel eingegangen ist, herauszulesen, woraus sie gemacht, wie sie komponiert sind, voll Respekt vor der Poesie ihrer Visualität, der Einzigartigkeit ihrer handwerklichen Kunst und der einmaligen Kooperation eines Filmkollektivs von Freunden.