Virtuos erzählt Alfonso Cuarón in der Netflix-Produktion „Roma“ vom bürgerlichen Alltag und von sozialen Rissen im Mexiko Anfang der siebziger Jahre. Es ist ein meisterhaft inszeniertes Denkmal für sein einstiges Kindermädchen, und noch viel mehr als das.
In diesem Film läuft so einiges den Bach runter. Oder, um die Metapher des Einstiegsbildes aufzugreifen, durch den Kanaldeckel. Zunächst sieht man nur Bodenkacheln und einen Abfluss, durch den Abwaschwasser rinnt. In einem lang gezogenen Zoom-out wird dann der Blick auf diesen Ort frei, der eine zentrale symbolische Rolle spielen wird in Roma, und der Blick auf die Frau, der Roma zuvorderst gewidmet ist. Der Ort ist die Garage des Hauses einer gutbürgerlichen Familie im titelgebenden Stadtteil von Mexico City; eigentlich keine Garage, sondern eine durch ein Tor versperrbare, beengte Zufahrt zwischen zwei Einfamilienhäusern. Es ist ein Transit-Ort zwischen einer inneren, scheinbar heilen Familienidylle und der bedrohlichen äußeren Welt der Straße. Die Frau wiederum stellt des Filmemachers einstiges Kindermädchen dar und zugleich einer der Haushälterinnen jener wohlhabenden Arztfamilie, in der Alfonso Cuarón in den sechziger und siebziger Jahren aufgewachsen ist.
Die Frau heißt Cleo, anfangs putzt sie den Boden der Garage, in welcher der spätabends aus der Klinik heimkehrende Dr. Antonio millimetergenau parkt, um bei der Sicherung seiner Karosse vor dem gefährlichen Außen deren Außenspiegel nicht zu beschädigen. Hernach wird er von seiner an der Schwelle des Hauses Spalier stehenden Familie empfangen: von Gattin Sofía (Marina de Tavira), den vier Kindern, dem Hund und den beiden Hausmädchen. Denn Cleo teilt sich die umfangreiche Hausarbeit mit einer Kollegin, mit der sie vor dem Schlafengehen in einer klaustrophobisch engen Schlafkammer noch zusätzlich schlank haltende Leibesübungen macht. Man muss diese Cleo nur ein paar Minuten lang beobachten, bei ihrem raumgreifend inszenierten Job in der großzügig angelegten Villa, beim Wäsche-Aufhängen auf dem Dach oder bei Erledigungen in der Stadt, um zu ermessen, dass es hier vor allem um soziale Klüfte geht: zwischen betuchten Bürgern und armen Schluckern, zwischen Weißen und Indigenen, und wie sich bald herausstellen wird: zwischen Männern und Frauen.
Cleo stammt von mexikanischen Ureinwohnern ab, gespielt wird sie grandios von Yalitza Aparicio. Einer der raren Fixpunkte der an vielen Stellen ziemlich lose wirkenden Handlung ist eine frühe Wende, als sie von Fermín (Jorge Antonio Guerrero) schwanger wird – in einer Position wie der ihren eine durchaus heikle Situation. Fermín dazu zu bringen, seine Vaterschaft anzuerkennen, wird fortan Cleos Movens sein, bis zu einer herzzerreißenden Szene gegen Ende des Films.
Roma ist ein autobiografisch inspiriertes Werk, und Cuarón schaut durchweg zärtlich auf seine Protagonistin. Dennoch hat er mehr als eine Hommage an die geliebte Miterzieherin seiner Kindheit vorgelegt, nämlich eine realitätsnahe, insgesamt hoch intime Familienalltagsstudie, aus der sich allmählich auch (melo-)dramatische Elemente kristallisieren. Als zweite Hauptfigur, gerade in diesem Zusammenhang, stellt sich nolens volens die Mutter des Hauses heraus, als dritte dann noch die Großmutter. Dr. Antonio lässt seine Familie nämlich umstandslos hinter sich und ersetzt seine Gattin Sofía, wie sich später manifestiert, durch eine Jüngere. Auch für Cleo, die zu dieser Zeit eigene Probleme hat, bedeutet das zunächst natürlich eine weitere Belastung. Und so gerät man wie beiläufig an jenen Punkt des Films, an dem eine Gruppe finanziell abhängiger und rücksichtslos verlassener Frauen in dessen Zentrum steht. Eine verlassene Familie, deren unterschiedlich verankerte Mitglieder – das wird sich von nun an immer deutlicher zeigen – mehr miteinander gemein haben als man anfangs denken könnte.
Gewissermaßen gerahmt ist dieses private Geschehen, welches Cuarón in zumeist nuancierte, mitunter aber auch regelrecht gleißende Schwarzweißbilder gießt, von einem Ereignis, das als „Fronleichnams-Massaker des 1971“ in die Geschichte Mexikos eingegangen ist. Dutzende linksgerichteter Studenten waren damals im Zuge politischer Proteste von einer paramilitärischen Einheit namens Los Halcones (Die Falken) niedergemetzelt worden. Eine geradezu grotesk anmutende Szene um das Training dieser Paramilitärs baut Cuarón organisch in Cleos Kampf um ihr Kind ein; an anderer Stelle bricht sich die Gewalt – eine weitere der zahlreichen zeichenhaften Szenen des Films – in einem Kaufhaus Bahn, wo die Großmutter mit Cleo gerade ein Gitterbett aussucht. Nicht, dass Cuarón insgesamt übertrieben plakativ inszenieren würde, aber mit Sinnbildern und Metaphern hält er sich nicht eben zurück.
Erstmals seit seinem Durchbruch mit Y Tu Mamá También (2001) ist der Filmemacher für Dreharbeiten in seine Heimat Mexiko zurückgekehrt. Dazwischen inszenierte Cuarón u.a. den dritten Teil der Harry Potter-Reihe, adaptierte den Science-Fiction-Thriller Children of Men (2006) für die Leinwand und feierte seinen größten Erfolg mit dem Weltraum-Kammerspiel Gravity (2013), als dessen Alleinstellungsmerkmal einer der bislang versiertesten Einsätze der 3D-Kinotechnik gelten darf. Der TV-Serie Believe um ein junges Mädchen mit übersinnlichen (und freilich unkontrollierbaren) Kräften, die Cuarón mitentwickelt hat, war weniger Anerkennung beschieden – es blieb bei der Premierensaison 2014, und die wurde nicht einmal zur Gänze ausgestrahlt.
Vielleicht hat es ja einen Rückschlag gebraucht, um einen Film wie diesen zustande zu bringen. Die Kritik ist jedenfalls begeistert von Roma, und sie ist es zu Recht: Eine derartige Gratwanderung zwischen Stille und Wucht kriegt man selten zu sehen. Cuarón beweist damit erneut sein gutes Gespür für dramatische Zuspitzung und seine Fähigkeit, ganz unterschiedliche Narrative in jeweils adäquate filmische Formen zu bringen. Laut eigener Aussage handelt es sich um einen Stoff, den er immer schon verfilmen wollte und nun erstmals – dank Netflix – in der ihm vorschwebenden Budget-Dimension umsetzen konnte. Mit Roma macht Cuarón eine Narbe in der Gesellschaft Mexikos sichtbar, erforscht deren soziale Hierarchien und verarbeitet zugleich wichtige persönliche Erinnerungen und Transformationen. Roma ist ein erratischer, wunderschöner und dezidiert sozialkritischer Film, der weit über den Nukleus einer weiblich dominierten Restfamilie hinaus von einer ganzen Gesellschaft in einer Umbruchszeit erzählt: vom Zusammenprall paternalistischer, gesellschaftlich überkommener und staatlich autoritärer Strukturen mit revolutionären Gruppierungen, von gesellschaftlichen Bruchlinien, die sich hinter den sichtbaren Kulissen zu Rissen ausweiten, und davon, was es für die Frauen dieser Gesellschaft bedeutet, wenn ihnen überraschend der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Der ältere Mann ist bei Cuarón patriarchal und feig, der jüngere gewissenlos, wie ferngesteuert und misogyn. Und während Männer im Hintergrund den bewaffneten Kampf vorbereiten, sind die Frauen gezwungen sich zusammenzutun. Wenigstens ist es irgendwann nicht mehr Cleos Hauptaufgabe, die Hundehäufchen in Dr. Antonios Garage zu entfernen und den Fliesenboden aufzuwischen.
Abschließend sei angemerkt, dass dies entschieden ein Film für die große Leinwand ist. Auf der jüngsten Viennale entwickelten seine leicht ausgebleichten, schwarzweißen 65mm-Bilder in drei Vorführungen im Wiener Gartenbaukino ihre beeindruckende Wirkung. Doch produziert wurde er von Netflix, und so steht er mehrheitlich nur dessen zahlenden Abonnenten (oder in minderer Qualität nicht zahlendem Raubkopier-Publikum) zur Verfügung. Es ist ein Verlust, ausgerechnet diesen Film, der auch virtuos mit Totalen und panorama-artigen Sequenzen arbeitet, auf einen Kleinbildschirm heruntergerechnet zu sehen. Roma ist vermutlich der erste mit einem Goldenen Löwen von Venedig prämierte Film, der keinen breiteren Kinostart erleben wird. Die USA betreffend scheint Netflix allerdings dieselbe Ausnahme für Roma zu machen, wie sie auch für The Ballad of Buster Scruggs von den Coen-Brüdern und für Susanne Biers postapokalyptischen Thriller Bird Box mit Sandra Bullock kolportiert wird. Gemein ist allen drei Filmen, dass Oscar-Gewinner in sie involviert sind. Das Motiv für die Abweichung von der bisherigen Unternehmenspolitik von Netflix ist also klar: Erst durch eine zumindest limitierte Vorab-Kinoverwertung erwirbt ein Film das Recht, im Ringen um Academy Awards mitzumischen.