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The Outrun

The Outrun | Interview

Rona rennt

| Pamela Jahn |
Die irisch-amerikanische Schauspielerin Saoirse Ronan ist längst keine Entdeckung mehr. Aber in Nora Fingscheidts neuem Film „The Outrun“ übertrifft sie sich noch einmal selbst.

Zehn Prozent, sagt die Statistik. Die Zahl prägt sich ein. Sie bezeichnet die Erfolgsquote derjenigen, die bei einer Alkoholabhängigkeit einen Erstentzug schaffen und danach trocken bleiben. Wer rückfällig wird, so wie ein Großteil der Betroffenen, fängt wieder bei null an. Jedes Mal.

Auch Rona (Saoirse Ronan) hängt an der Flasche, seit einer ganzen Weile schon. Eingestehen will sie es sich natürlich nicht. Eigentlich hat die 29-jährige Biologin ein gutes Leben in London, mit Partner und Freunden. Doch irgendwann häufen sich die Blackouts und üblen Kater danach. Darunter leidet nicht nur ihre Beziehung, sondern auch ihr Job. Gleichzeitig finden die Dämonen aus ihrer Kindheit immer hartnäckiger Zugang in ihrem verwirrten Kopf. Aufgewachsen ist die junge Frau auf den schottischen Orkney-Inseln, weit ab vom Schuss. Nur hatten ihre Eltern schon immer genügend eigene Probleme, da blieb wenig Zeit für Liebe und Geborgenheit.

Schon jetzt klingt das alles furchtbar nach Klischee. Vermutlich hat man es in diesem Suchtdrama mit einer Protagonistin zu tun, die irgendwann einfach den Absprung nicht geschafft hat und sich nun ihre komplette Zukunft verbaut. Einmal Alkoholiker, immer Alkoholiker, so die abgegriffene Plattitüde. Verlangen. Einbruch. Rückfall. Das ist der Catch-22, in dem auch Rona gefangen ist.

Die deutsche Regisseurin Nora Fingscheidt versucht in The Outrun erst gar nicht, gegen die Vorurteile anzugehen, die jeder Geschichte dieser Art anhaften. Ihre Verfilmung des gleichnamigen Romans von Amy Liptrot stürzt sich unmittelbar hinein in den inneren Kampf und beschäftigt sich mit der Frage, wie aus Selbstzerstörung Heilung entstehen kann. Kennt man Fingscheidts früheren Erfolgsfilm Systemsprenger (2019), überrascht es wenig, mit wie viel Mitgefühl und gleichzeitig vollends unglamourös sie sich in Liptrots verworrene, poetisch verknüpfte Gedankenwelt hineinversetzt. Auf verschiedenen Erzählebenen versucht Rona im Hier und Jetzt zusammenzubringen, was hinter ihr und was vor ihr liegt. Um diesen waghalsigen Kopfsprung zu wagen, braucht Fingscheidt eine Schauspielerin im Zentrum, die mehr kann, als glaubhaft eine riskante Rolle zu verkörpern. Kaum jemand wäre dafür besser geeignet als Saoirse Ronan. Mit gerade einmal dreißig Jahren hat die 1994 in New York geborene Irin bereits vier Oscar-Nominierungen vorzuweisen. Bekannt wurde sie mit dreizehn neben James McAvoy und Keira Knightley in Joe Wrights Literaturverfilmung Atonement (2007). Als Hauptdarstellerin fiel sie nur zwei Jahre später in Peter Jacksons The Lovely Bones auf, sowie später in der Colm-Tóibín-Verfilmung Brooklyn (2015) und in Greta Gerwigs Lady Bird (2017). 

Das Faszinierende an Ronan ist ihre Fähigkeit, wahrhaftig zu sein, selbst in der Rolle einer jungen Trinkerin. Auch das klingt erst mal platt. Aber nicht nur der Entzug ist eine Qual, auch die Sucht, und Ronan zeigt jede Facette aus Sturheit, Angst und Verletzlichkeit, die zu ihrer Figur dazu gehört. Am besten erklärt vielleicht der britische Regisseur Steve McQueen, der die Schauspielerin unlängst in seinem neuen, von AppleTV+ produzierten Kriegsdrama Blitz (Streaming-Start 22. November 2024) besetzt hat, Ronans besonderes Talent: „Man spürt sie. Das ist ihre große Gabe. Sie ist eine echte Künstlerin, keine Darstellerin. Zwischen den beiden Begriffen besteht ein feiner Unterschied.“

Gleiches lässt sich für ihren Auftritt in The Outrun unterschreiben. Ronan ist Rona: Vom Alkohol endgültig aus der Bahn geworfen, kehrt sie zu Beginn des Films in ihre nordschottische Heimat zurück, um dort einen (ersten) Entzug zu wagen. Es wird nicht ihr letzter sein. Aber Rona rennt, erst kopflos, dann immer bewusster gegen die Krankheit an.

 


Interview mit Saoirse Ronan

Frau Ronan, „The Outrun“ spielt vornehmlich auf Orkney, einer kleinen Inselgruppe vor der Nordostküste Schottlands. Die Landschaft dort ist rau, die Böden sind sumpfig, die Luft ist salzig. Wie naturverbunden sind Sie privat?
Saoirse Ronan: 
Sehr! Ich bin in einem ländlichen Teil Irlands aufgewachsen. Als Kind habe ich im eiskalten Wasser schwimmen gelernt und immer Tiere um mich gehabt. Kurz: Ich bin glücklich, wenn ich auf dem Land sein darf. Natürlich lebe ich jetzt die meiste Zeit in Städten, aber das ist eigentlich nicht meins. Daher war es für mich aufregend, diesmal einen Film zu drehen, bei dem ich – zumindest vor der Kamera – nicht viele Menschen um mich hatte und mit Robben schwimmen konnte. Ich habe mich ein bisschen wie zu Hause gefühlt.

Dann war die Szene, in der Sie bei der Geburt eines Schafs mithelfen, sicher auch kein Problem für Sie?
Ich habe sogar ein Video davon auf meinem Handy, wir haben vor dem richtigen Dreh geübt. Ich hatte kurz davor einen Film in Australien fertiggestellt, der postapokalyptisch war, alles war tot. Es gab keine Art von organischem Leben mehr auf der Erde. Wir haben außerhalb von Melbourne gedreht, in einer Gegend, wo alles sehr karg und trocken ist. Sobald wir fertig waren, flog ich nach Orkney, weil die Lammzeit in dem Jahr etwa vier Monate früher losging als geplant. Es war das erste Lamm, das ich jemals zur Welt gebracht habe, und ich hatte große Angst, einen Fehler zu machen. Aber am Ende des Films hatte ich sieben Lämmer geboren und fühlte mich wie ein Vollprofi.

Ronas Geschichte im Film basiert auf den Tagebucheinträgen der schottischen Autorin Amy Liptrot und dem gleichnamigen Roman, der daraus entstanden ist. Hat Sie die Intimität der Geschichte unter Druck gesetzt?
Es ist wirklich beängstigend, wenn man einen Film über echte Menschen macht, weil man so viel Verantwortung auf den Schultern trägt. Amy ist eine noch relativ junge Frau, sie hat Kinder und einen Mann, und natürlich sind auch ihre Eltern im Film sehr präsent. Wir wussten, dass sowohl Amy als auch ihre Familie danach für immer mit dem Ergebnis leben müssen. Trotzdem haben wir nicht davor zurückgeschreckt, so ehrlich wie möglich in ihre Vergangenheit zu schauen. Aber ohne Amys uneingeschränkte Unterstützung wären wir wahrscheinlich nicht in der Lage gewesen, den Film auf diese Weise zu realisieren. Und ich hätte Schwierigkeiten gehabt, mich voll und ganz in die Figur hineinzuversetzen.  

War es Ihnen deshalb auch so wichtig, an den Originalschauplätzen zu drehen?
Ja, das kleine Haus, Rose Cottage, war monatelang ihr Zuhause und später kehrte sie dorthin zurück, um ihr Buch zu schreiben. Wir drehten auch auf der Farm, auf der sie aufgewachsen ist. Ihr richtiger Vater ist kurz im Film zu sehen. Orkney ist klein. Das Café, in dem sie im Film nach einem Job sucht, war ihr zweites Zuhause. In vielen Szenen treten Menschen auf, die ihr während des Entzugs geholfen haben oder mit denen sie seit ihrer Kindheit befreundet ist. Der gesamte Film baut darauf, das reale Leben und die Fiktion miteinander zu verschmelzen.

Eine der ehrlichsten und traurigsten Momente im Film ist, wenn Rona gesteht, sie wisse nicht, ob sie jemals nüchtern glücklich sein kann. Für jeden Nicht-Alkoholiker ist das unheimlich schwer zu verstehen.
Einer der wichtigsten Ansatzpunkte für mich, in Amys Psyche vorzudringen, war die nichtlineare Struktur ihres Schreibstils. Im Film kommt ihr Bruder nicht vor, aber im Buch beschreibt sie ein Erlebnis, wie sie als Kinder beide ein Lamm über die Wiese jagten. Sie spricht darüber, wie sie sich in dem Moment fühlte, welche Gerüche sie in der Nase hatte und welche Bilder im Kopf, all diese sensorischen Aspekte, die in unseren Erinnerungen verknüpft sind. Und plötzlich schwenkt sie von einem Windstoß, den sie auf ihrer Haut verspürte, zu einem komplett anderen Bild, nämlich wie ihr Jahre später ein Typ ins Gesicht schlägt, kurz bevor er sie zu vergewaltigen droht. Es gibt viele Aspekte in ihrer Vergangenheit, die wir im Film aussparen mussten, aber im Buch ist man auf einmal für eine Minute in dieser völlig anderen Welt, bevor sie wieder zur ursprünglichen Erinnerung aus ihrer Kindheit übergeht. 

Nora Fingscheidt hat dieses Eindringen in Ronas Gedankenwelt im Film als „Nerd“-Ebene beschrieben. Trifft es das gut?
Ja, in Ronas Kopf herrscht manchmal großes Chaos. Aber ihre Tagebucheinträge sind sehr emotional und poetisch in der Art, wie sie über das Leben denkt. Deshalb haben wir die Passagen, die man im Voiceover hört, fast alle unverändert aus der Romanvorlage übernommen. Es war wichtig, diese spezifische Struktur und die frei fließende Energie, die Amy im Buch erzeugt, beizubehalten, damit man die Figur in ihrer ganzen Ambivalenz versteht. Dabei fällt mir ein: Sagt Ihnen der Name Alastair Campbell etwas?

Der britische Journalist und ehemalige Kommunikationschef von Tony Blair?
Ja, er hat sich sehr offen über sein eigenes Problem mit Alkoholmissbrauch geäußert und sagt heute, dass Amys Buch für ihn eine Art Bibel war. Der Grund dafür, dass der Roman so viele verschiedene Menschen berührt hat, ist, dass sie ihre Erfahrungen auf eine ganz eigene Art und Weise wiedergibt. Und deshalb ist The Outrun auch kein Suchtdrama, wie man es zu kennen glaubt. Der Film begibt sich sehr tief in die Seele und den inneren Heilungsprozess, den die Hauptfigur durchlebt.

Ist es nicht emotional unheimlich anstrengend für eine Schauspielerin, das auf die Leinwand zu übertragen, ganz gleich wie gut das Drehbuch ist?
Es war nicht anstrengend, im Gegenteil. Wenn man eine Figur spielt, die jeden Sinn für Vernunft verliert, gibt es nichts, was wirklich ausgeschlossen ist. Es gibt kein Regelwerk, an das man sich halten muss. In jeder Szene konnte ich sie so gemein und böse und verzweifelt und widersprüchlich und lustig und fröhlich darstellen, wie ich wollte, weil es keinen direkten Weg nach vorne gab. Ich fand das toll. Aber es war eigentlich nicht der Grund, warum ich Rona unbedingt spielen wollte.

Sondern?
Ich habe selbst Erfahrungen mit Alkoholismus gemacht. Es gibt Menschen, die mir sehr nahestehen, die unter einer Sucht gelitten haben. Und wenn man unmittelbar zu spüren bekommt, was die Abhängigkeit mit einem Menschen macht, verursacht das so viel Schmerz, Trauer und Wut. In dieser Erfahrung war ich jahrelang gefangen. Aber irgendwann hatte ich das Gefühl, an einem Punkt in meinem Leben angekommen zu sein, an dem ich mich in diese Emotionen aus der Sicht der süchtigen Person hineinstürzen wollte, um auch die andere Seite besser verstehen zu können.

Wie ging es Ihnen danach?
Es war sehr kathartisch für mich. Aber während der Dreharbeiten gab es Momente, in denen es ziemlich überwältigend war, wie sehr mich das Ganze berührte. Zum Beispiel gibt es eine Szene zwischen mir und Paapa Essiedu, der im Film Ronas Freund spielt. Darin versucht er, alle Weinflaschen in der Küche zu leeren, und Rona schreit ihn an, dass er nur versuchen würde, sie zu kontrollieren, und dass sie einfach ein komplettes Wrack ist. Das fand ich sehr schwierig.

Ist der Alkoholismus eines der größten Probleme in unserer modernen Gesellschaft?
Ja, absolut. Denn man kommt überall und jederzeit und völlig legal an eine Flasche heran. Dazu kommt, dass Alkohol mit so vielen Festen und Feierlichkeiten in unserem Leben verbunden ist, dass man sich fast genötigt sieht, etwas trinken zu müssen, um den anderen nicht den Spaß zu verderben. Weihnachten, Hochzeiten, was weiß ich.

Beobachten Sie den Alkoholkonsum in Ihrer Heimat mit besonderer Sorge?
Unbedingt. In Irland und Großbritannien gibt es diesen sozialen Druck, sich mit Alkohol volllaufen zu lassen. Man gehört nicht dazu, wenn man nicht mittrinkt. Zwar scheint die jüngere Generation jetzt allmählich die Auswirkungen sowohl auf unsere psychische Gesundheit sowie unsere allgemeine körperliche Verfassung zu erkennen. Stichwort: Achtsamkeit. Die Menschen merken langsam, dass wir auf uns selbst aufpassen müssen. Aber diese extreme Trinkkultur ist so fest verwurzelt in meiner Heimat, dass es schwer ist, davon loszukommen. Es ist etwas, das mich wirklich enttäuscht und verärgert, um ehrlich zu sein. 

Kann man nur hoffen, dass die Menschen irgendwann lernen, besser mit Sucht und Abhängigkeit umzugehen?
Man darf die Hoffnung zumindest nicht aufgeben. Was mir im Umgang mit den abhängigen Menschen in meinem eigenen Leben sehr geholfen hat, ist die Einsicht, dass eine Trockenphase keine Garantie für die Ewigkeit ist. Selbst wenn es den Menschen gelingt, von der Flasche loszukommen, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass sie irgendwann einen Rückfall erleiden. Egal, ob sie bei den Anonymen Alkoholikern sind oder auf welche Weise auch immer sie sich für eine Entgiftung entscheiden, ist die langfristige Erfolgsquote erschreckend niedrig. Wie geht man damit um? Das Schlimmste, was man tun kann, ist dem oder der Betroffenen den Rücken zuzukehren. Man muss für sie da sein, wenn es passiert.

Sie haben in der Vergangenheit eher souveräne Frauenrollen gespielt. War Ronas Figur in ihrer ganzen Verletzlichkeit auch in der Hinsicht eine Herausforderung?
Ich hatte keine Angst davor, mich fallen zu lassen, wenn Sie das meinen. Aber noch vor ein paar Jahren hätte ich die Rolle wahrscheinlich nicht so frei spielen können, um Amy und ihrer Geschichte wirklich gerecht zu werden.  

Was hat sich geändert?
Ich habe das ganze Ausmaß meiner persönlichen Erfahrungen weiß Gott noch nicht erfassen können, geschweige denn überwunden. Aber ich möchte meine Gefühle heute nicht mehr unterdrücken. Es ist an der Zeit, dass ich mich meiner eigenen Vergangenheit stelle, um die Menschen in meinem Leben besser zu verstehen, die von der Sucht betroffen waren. 

Sie haben das Projekt von Anfang an auch als Koproduzentin begleitet. Warum hat Sie Nora Fingscheidt als Regisseurin überzeugt?
Die Produzentin Sarah Brocklehurst hatte als Erste die Rechte an dem Buch, ich habe mich zwei oder drei Jahre später daran beteiligt. Als die Sache konkret wurde, standen wir vor einem großen Rätsel, was die Regie angeht. Wir wussten nicht so recht, wo wir anfangen sollten zu suchen, weil die Struktur des Buches so einzigartig ist. Erst als wir es Nora zeigten, begannen sich die Dinge zu fügen. Sie war so begeistert von der Eigenart des Buches und von dem Anderssein, das Amy als Person ausmacht, dass sie die Geschichte unbedingt erzählen wusste. Außerdem fand ich es sehr hilfreich, dass Nora eine Außenstehende war. Sie hatte diese andere Perspektive, die keiner von uns gehabt hätte. 

Man kann die verschiedenen Handlungsebenen, die Rona durchlebt, sehr gut an ihrer wechselnden Haartönung erkennen. Welche Farbe hat Ihnen im Film am besten gefallen?
Ich mochte ihr grelles Orange sehr gern, und ich mag Pink. Das ist wahrscheinlich ein Überbleibsel meiner Rolle in Lady Bird. Seitdem finde ich pinke Haare toll.