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Leave No Trace

Leave No Trace

Rückzug

| Jörg Schiffauer |

Von literarischen Zirkeln könnte die Protagonistin in Debra Graniks Leave No Trace nicht weiter entfernt sein. Tom (Thomasin McKenzie), ein 13-jähriges Mädchen, und ihr Vater Will (Ben Foster) leben zurückgezogen als eine Art Nomaden in den dichten Wäldern Oregons. Der Kriegsveteran Will hat, wie sich später herausstellt, schwer mit den Erfahrungen seiner Militärzeit zu kämpfen und ist psychisch einigermaßen angeschlagen. Die alltägliche Welt mit ihrem Regelwerk, vor allem aber die Gesellschaft anderer Menschen ist Will unerträglich geworden, weshalb er sich mit seiner Tochter in die Einsamkeit der Natur zurückgezogen hat. Obwohl die Lebensbedingungen schwierig und entbehrungsreich sind, kommen die beiden gut zurecht und führen ein offenbar zufriedenes Leben abseits materieller Werte, bedingt auch durch ihr enges, vertrauensvolles Verhältnis. Doch weil besagter Wald in einem Naturschutzgebiet liegt, ist das Campieren dort illegal. Trotz aller Vorsicht werden Will und Tom eines Tages von Parkaufsehern entdeckt. Die Behörden entfernen sie zwar, reagieren ansonsten jedoch durchaus mitfühlend. Vor allem aus Sorge um das junge Mädchen versucht man die beiden wieder in die Gesellschaft einzugliedern, und das durchaus mit sanften Mitteln. Ein kleines Haus samt Arbeitsplatz auf einer Farm sind bald gefunden, doch vor allem Wills Traumata machen es ihm unmöglich, sich auf so ein Leben – das penible Zurechtschneiden von Tannen, um sie christbaumgerecht zu machen, wird zum Sinnbild für die damit verbundenen Einengungen – einzulassen. Also begeben sich Vater und Tochter wieder auf Wanderschaft, zurück in möglichst unberührte Natur. Sie finden schließlich Zuflucht bei einer Gruppe Aussteiger, die sich auch zu einem Leben abseits der Gesellschaft entschlossen haben, wenn auch nicht mit der Radikalität Wills. Ein abgestellter Trailer, wo Vater und Tochter für sich sein können, wo aber doch eine Anbindung an eine Gemeinschaft möglich ist, scheint die ideale Lösung für ihre Bedürfnisse zu sein – zumindest Tom erscheint dies als nahezu perfekter Kompromiss. Doch ihr Vater kann sich weniger damit anfreunden.

Debra Granik zählt zu den profiliertesten Proponenten des „Real America“, jener Strömung, deren Vertreter das alltägliche Leben in den Vereinigten Staaten in das Zentrum ihrer Arbeiten stellen. Es sind kaum eine Handvoll Filme, die Granik realisierte, doch sie zählen zum Spannendsten, was das US-amerikanische Kino in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten hervorgebracht hat. Dabei sind es immer die Ränder der US-amerikanischen Gesellschaft, das  Dasein von Menschen, deren Leben sich abseits der Vorstellungen vom viel zitierten „American Dream“ abspielt, auf die Debra Granik ihren ruhigen, aber stets ungemein präzisen Blick richtet. So steht im Zentrum von Down to the Bone (2004) eine junge Frau, die zwischen ihrer Familie und dem Job in einem Supermarkt gegen ihre Drogensucht kämpft, Winter’s Bone (2010), jener Film, der Granik weit über die Independent-Szene hinaus bekannt machte, handelt von einem siebzehnjährigen Mädchen, das sich auf die Suche nach ihrem ins kriminelle Milieu abgerutschten Vater begibt, die Dokumentation Stray Dog (2014) porträtiert einen Vietnam-Veteranen und Biker.

Wie in ihren bisherigen Regie-Arbeiten vermeidet Granik auch in ihrem neuen Film – der übrigens auf einer wahren Geschichte basiert – Schuldzuweisungen einfacher Art bezüglich der Lage, in der sich die Protagonisten befinden. Selbst die Gründe für Wills Traumatisierung werden nur angedeutet. Leave No Trace ist kein Sozialdrama, sondern eine ungemein präzise und nuancierte Beschreibung einer bestimmten Lebenssituation. Die Existenz von Will und Tom nahezu ohne materiellen Besitz erweist sich zunächst als höchst ungewöhnliche, aber plausible Alternative zur modernen Konsumgesellschaft. Eine Plausibilität, die auch darin begründet liegt, dass Granik und ihr Kameramann Michael McDonough wunderbare Bilder für die Natur finden, die abseits von Klischees und Verklärung deren Schönheit und Faszination widerspiegeln. Doch Graniks Inszenierung verliert sich nicht in naiv angehauchten „Zurück-zur-Natur“ Romantisierungen, Leave No Trace macht auch Bruchstellen deutlich. Denn natürlich ist dieses Leben nicht ganz freiwillig, trotz aller Nähe zu ihrem Vater wird der heranwachsenden Tom immer wieder bewusst, dass ihr durch ein solches Eremiten-Dasein weite Teile der Welt verschlossen bleiben. Eine Erkenntnis, die das Mädchen bald in eine Art Zwickmühle zwingen wird, aus der es kaum ein Herauskommen zu geben scheint. Zwar möchte sie mit ihrem Vater zusammenbleiben – das ungebundene Leben in der Natur ist ihr trotz der Entbehrungen gar nicht so unangenehm –, doch die Rigidität, mit der Will auch alle sozialen Kontakte zu vermeiden sucht, wird zunehmend zum Problem. „I don’t have the same damage as you“, wird Tom ihrem Vater entgegenhalten, und spätestens hier wird deutlich, dass die starke emotionale Bindung der beiden nicht alle Differenzen überbrücken wird können. Mit Thomasin McKenzie hat Debra Granik, die zuvor bereits den Karrieren von Vera Farmiga und insbesondere Jennifer Lawrence mit den weiblichen Hauptrollen in Down to the Bone bzw. Winter’s Bone eine Initialzündung verlieh, erneut eine Darstellerin gefunden, der man nach ihrer Leistung in Leave No Trace ohne Risiko eine veritable Laufbahn prophezeien kann.

Ungeachtet der Konfliktsituation verläuft Graniks Inszenierung über weite Strecken unaufgeregt, der Verzicht auf unnötige dramatische Zuspitzungen erweist sich als ungemein stimmig. Die kleine Kolonie von Aussteigern – die übrigens tatsächlich existiert, wie Debra Granik anlässlich ihres Besuchs bei der diesjährigen Viennale zu erzählen wusste –, in der Will und Tom Unterschlupf finden, erscheint wie eine beschauliche Oase, eine Form von Utopia, inmitten einer dahinrasenden Welt, in der Misstrauen vorherrscht. Auch hier zeigt Debra Granik kein idealisiertes Paradies, vielmehr repräsentieren dieser Ort und seine Bewohner eine alternative Lebensform, der nicht jeder nacheifern kann, über deren Kern man aber zumindest nachdenken sollte. Auch für Tom und Will hält dieser Platz keine maßgeschneiderte Lösung bereit, doch sie werden sich um einen Weg  bemühen, der zumindest eines bietet – Hoffnung.