Eine True-Crime-Gesellschaftsstudie als mythisches Kunstwerk
Eine besondere Dienstreise: Die Autorin und Lehrbeauftragte Rama fährt mit dem Zug in die Gemeinde Saint-Omer, um einer Gerichtsverhandlung beizuwohnen. Angeklagt ist eine junge Frau namens Laurence Coly, wegen nichts Geringerem als des Mordes an ihrer eigenen, 15 Monate jungen Tochter. Im von glänzenden Holzverarbeitungen geprägten, hellen Raum, der dem Film einen Großteil seiner Bilder liefert, wird lediglich nach dem Warum der Tat gefragt, denn die Angeklagte bestreitet im Grunde gar nicht, dass es kausal betrachtet ihre Hände waren, die ihr Kind dem Ertrinken preisgaben. Die Schuld für die Tragödie sieht Laurence Coly jedoch anderswo, in Sphären, die das den Fall behandelnde Rechtssystem an seine Grenzen bringt. Der beobachtenden Protagonistin Rama, die sich dem Prozess in schriftstellerischer Absicht widmet, dringt das Geschehen indes bald kaum erträglich tief in den eigenen Leib.
Gewissermaßen ist Alice Diop, die sich mit vielfach ausgezeichneten Filmen – zuletzt Nous (2020) – bereits als exzellente Dokumentaristin sozialer Gefüge in Vor- oder Randorten Frankreichs bewiesen hat, selbst die recherchierende Hauptfigur: Saint-Omer basiert auf einem tatsächlichen Kriminalfall, dessen Urteil 2016 verkündet wurde. Mit dem Zusammenbringen von Re-Enactment, Gerichtsdrama und der Reflexion kreativen Schaffens, das in die eigene psychische Dunkelheit führen kann, erzeugt sie eine einnehmende, herausfordernde Wirklichkeit, die mehr als Einzelschicksale erzählt. Wieso hat die so wundervoll gewählt Französisch sprechende – wie jemand „überrascht“ anmerkt – junge Frau, die ein Philosophie-Studium absolvieren wollte, ihr Kind der Flut ausgesetzt? Eine Frage, die sich schnell in eine Vielzahl weiterer zerlegt. In den Statements der Angeklagten sowie ihrer Mutter und des Kindsvaters treten komplexe Zusammenhänge aus Herkunft, kolonialen Mechanismen, kulturellen Differenzen, zeitgenössischer patriarchaler Selbstverständlichkeit wie auch Alltagsrassismus zu Tage. Mit Rama sitzt dabei eine Person im Saal, die all dies von (fast) allen anderen unbemerkt noch auf vielen weiteren Ebenen plagt – selbst mit senegalesischen Wurzeln, trägt ihre Figur überdies den Medea-Mythos in sich und legt ihn wie einen unheimlichen Schleier über das Gesamtgeschehen. Wie offen und transparent Diop dieses Element des Künstlerischen – Rama nennt etwa Medea im Arbeitstitel des geplanten Romans und sichtet sogar Pasolinis Version mit Hotel-Wlan –, in die fiktionalisierte Realität einbrechen lässt, kann dabei als weitere Stärke ihres Filmschaffens erkannt werden, das bereits viele solcher offenbarte und wohl auch weiterhin tun wird.