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Schauen und Denken

| Andreas Ungerböck |
Mit einer Auswahl von sechs außergewöhnlichen österreichischen Filmen aus den Jahren 1983 bis 2021 feiert das Filmmuseum mit dem Dokumentarfilmverband dok.at dessen 22-jähriges Bestehen – und ein Filmschaffen, dessen Reichtum die Konventionen des orthodoxen Dokumentarfilms immer wieder sprengt.

22 Jahre dok.at. Ein Grund zum Feiern? Da war doch etwas … Richtig, das 20-Jahre-Jubiläum, zu dem im Oktober 2020 auch ein umfangreiches „ray“-Sonderheft erschienen war. Mehrere Lockdowns und eineinhalb Jahre später kann die kleine, feine Schau, die mehrmals verschoben werden musste, nun doch endlich stattfinden.

Sechs Kuratorinnen und Kuratoren bzw. Journalistinnen und Journalisten wurden eingeladen, jeweils einen österreichischen Dokumentarfilm zu nominieren, der für sie markant und bedeutend ist. Im Anschluss an die Vorführungen werden sie mit den Filmschaffenden ein Gespräch führen. Die Zusammenstellung mag nicht repräsentativ im erwartbaren Sinne sein, dennoch lassen sich an ihr die Qualitäten des österreichischen Dokumentarfilmschaffens ablesen, das im Wesentlichen ein Autorinnen-/Autorenkino ist. Der Schwerpunkt der Auswahl liegt auf der Vielfalt einer jüngeren Generation, doch sie reicht zurück zu Filmschaffenden, die in den achtziger Jahren einen modernen Zugang zum Dokumentarischen etablierten, wie Ruth Beckermann oder Peter Schreiner. Sie demonstriert den weltoffenen Blick eines Kinos, das seine Stoffe ebenso vor der Haustür wie in der Ferne (etwa in China, Rumänien und Georgien) entdeckt. Und sie zeigt, wie man oft gerade im vermeintlich „Kleinen“ und Privaten die großen Entwicklungen beschreiben kann, die unsere Welt prägen: das Leben in Bildern (und Tönen).

Geschichtsunterricht
Chronologisch beginnt die Reise durch den österreichischen Dokumentarfilm mit Wien Retour (1982/83) von Ruth Beckermann und Josef Aichholzer, einem einzigartigen Zeitdokument, das von Renata Schmidtkunz ausgewählt wurde. Im Mittelpunkt des Films steht der ehemalige KPÖ-Politiker Franz West, zum Zeitpunkt, als der Film entstand, 73 Jahre alt. 1909 in Magdeburg als Franz Weintraub geboren, kommt er 1924 mit seiner Familie nach Wien-Leopoldstadt – die sogenannte Mazzesinsel, wo er jüdisches Leben als Normalität und sich als Teil dieser erfährt. Später verliert er das Interesse an seiner religiösen Identität. Er engagiert sich in der Zwischenkriegszeit für das „Rote Wien“, erlebt den Aufstieg und die Verbrechen des Austrofaschismus, wird als Kommunist inhaftiert und flieht 1938 nach Großbritannien. Umrahmt von großartigem Archivmaterial aus dem Wien der 1920er und 1930er Jahre, konzentriert sich der Film ganz auf den charismatischen Mann. 1945 kehrte er als Franz West nach Wien zurück, wo er in die Spitze der KPÖ aufsteigt, von der sich allerdings nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei im Jahr 1968 distanziert. Bis zu seinem Tod im Jahr 1984 ist er Mitarbeiter des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstands.

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Schwebende Collage
Christoph Huber vom Österreichischen Filmmuseum wählte Auf dem Weg (1986-1990) von Peter Schreiner aus, dessen Filme längere Zeit „vergessen“ waren. Erst als Schreiner 2006 mit Bellavista nach über einem Jahrzehnt Pause wieder einen Film vorlegte, habe er dessen Werk entdeckt, so Huber, der von Schreiners Filmen fasziniert war: „Trotz dokumentarischer Wurzeln gehen sie über das hinaus, was man gemeinhin Dokumentarfilm nennt. Sie streben nach maximaler Einfachheit und fangen dabei die widersprüchliche Komplexität des Lebens ein. Weil Schreiner weiß, dass man sich Zeit nehmen muss, um zum Kern der Dinge vorzustoßen.“ Huber bezeichnet Auf dem Weg als „die freieste dieser schwebenden Collagen: eine Art transzendentaler Reisefilm, dessen Fluss unterschiedlichster Bilder und Töne eine hypnotische Suchbewegung formt, deren Beschreibung sie unweigerlich entzaubern würde. Man könnte die magischen Naturbilder erwähnen, die vulkanischen Landschaften und schattigen Wälder. Die bemerkenswerten Szenen von Proben mit Texten von Elio Vittorini oder mit Lied-Improvisationen sowie von Gesprächen, ernst und lachend, mit Freunden. Die atemberaubenden Farb-Blitze im Schwarz-Weiß-Material: klassische Gemälde, Kindermalerei und malende Kinder. Den kosmischen Rahmen eines Sternwarte-Besuchs. Und doch bleibt das Gefühl, das Wesentliche nicht zu treffen.“

Eindringlichkeit
Anna Katharina Laggner wählte mit Goran Rebic´s Am Rande der Welt (1992) einen Film aus, der nicht nur, aber gerade wegen der gegenwärtigen Lage in der Ukraine von erschreckender Aktualität ist. 1991, im Jahr der Unabhängigkeit, und 1992 reiste der Wiener Filmemacher, dem später mit The Punishment (2000) über das Belgrad nach dem NATO-Bombardement ein ähnlich eindringliches dokumentarisches Werk gelang, nach Georgien. In Tbilissi herrschte Bürgerkrieg, wenig später begann der Sezessionskrieg in Abchasien. Rebic´ zeigt Videoaufnahmen der Straßenkämpfe, und er zeigt Frauen in einem Wohnzimmer, die sich mit von Angst und Schrecken geweiteten Augen diese Aufnahmen im Fernsehen anschauen. Laggner: „Am Rande der Welt fängt einen politisch-gesellschaftlichen Schwebezustand ein, ein Taumeln zwischen der Hoffnung auf Frei- und Unabhängigkeit (frei wovon und unabhängig wofür?), divergierenden Vorstellungen darüber, was es bedeutet, eine Nation zu sein und dem Wunsch des Individuums nach Leben, einfach Leben. Am Rande der Welt erzählt von einem Land, das es so tatsächlich nicht mehr gibt: ein Land, das drauf und dran war, zu verschwinden, bevor es überhaupt existierte.“

Termitenkunst
Die in Graz geborene und in Berlin lebende Katharina Copony ist eine besonders sorgfältige Beobachterin, die mit großer Feinfühligkeit an die Menschen herangeht und so einen Zugang erhält, der anderen verwehrt bleibt – sichtbar etwa in ihrem 2016 auf Sardinien gedrehten Film Moghen paris – Und sie ziehen mit über lokale Karnevalsbräuche, bei denen bis vor kurzem „Fremde“ überhaupt keinen Zugang hatten. Eine ähnlich hermetische Welt zeigt sie in Oceanul mare (2009), den Dominik Kamalzadeh für die Schau gewählt hat. Hier porträtiert Copony in Bukarest zwei Frauen und einen Mann, Immigranten aus China. Kamalzadeh: „Generell schätze ich (dokumentarische) Filme, die sich nicht im Thesenhaften verlieren, um Zusammenhänge sichtbar zu machen, sondern stattdessen – Manny Farbers berühmter Begriff der Termitenkunst steht dafür Pate – wie ins Innere eines Stammes führen, um dort von außen unsichtbare Bahnen und (Irr-)Wege freizulegen. Oceanul mare ist dafür ein wunderbares Beispiel: Er ist einerseits das Porträt einer chinesischen Diaspora, die nach 1989 (…) ihr Glück in der Fremde suchte – am besten dort, wo es noch Pioniergeist brauchte. In den Off-Erzählungen, die über anonyme, manchmal gespenstisch wirkende Stadtansichten gelegt werden und die Vorgeschichten der porträtierten Menschen einholen, meint man dann auch das Echo anderer, weiter zurückliegender Auswandererschicksale zu hören.“

Familienbande
Magdalena Miedl entschied sich für Was uns bindet (2017). Aus Ivette Löckers ursprünglichem Plan, einen Film über den Lungau zu machen, jene Gegend, aus der sie stammt, wurde letztlich das Porträt ihrer eigenen Familie. Ausgehend von der eher ungewöhnlichen räumlichen Situation in ihrem Elternhaus – die Mutter lebt „oben“, während der Vater sich im Keller niedergelassen hat, erforscht die Filmemacherin die schwierigen Fragen, die eigentlich jeden Menschen umtreiben, wenn es um Eltern, Geschwister, Familie geht, hier sehr speziell gestaltet durch diese eigenwillige Konstellation. Offenkundig handelt es sich um eine dem Pragmatismus geschuldete Entscheidung, die eine Scheidung verhindert, aber doch für räumlichen Abstand sorgt. Magdalena Miedl: „Was uns bindet schildert unsentimental, wie Erwartungen und Hoffnungen ein Leben lähmen können, wie Bequemlichkeit und Entscheidungsscheu eine Freiheit verhindern, und was das für die nachfolgende Generation bedeutet.“

Denkaufgabe
Ella Raidel, Absolventin der Kunstuniversität in Linz, machte 2011 mit dem 45-minütigen Dokumentarfilm Subverses. China in Mozambique auf sich aufmerksam. Mit Subverses war sie ihrer Zeit um Jahre voraus, weil damals noch kaum jemand die sich anbahnende wirtschaftliche Beziehung zwischen vielen afrikanischen Staaten und der Volksrepublik China wahrnahm. Zur selben Zeit veröffentlichte sie ihre Dissertation über den taiwanesischen Filmemacher Tsai Ming-liang. Raidel kommt das Verdienst zu, die erste substanzielle deutschsprachige Publikation zu diesem großen Regisseur vorgelegt zu haben. 2014 erschien Double Happiness, ein intelligenter, tiefsinniger und mit viel Einfühlungsvermögen gestalteter filmischer Essay. Ausgehend von der viel publizierten Tatsache, dass „die Chinesen“ die oberösterreichische Touristenattraktion Hallstatt, oder zumindest Teile davon, quasi maßstabgetreu nachgebaut haben, wirft Raidel einen sehr präzisen Blick auf China. Dank eigener kluger Beobachtungen und hervorragend ausgewählter Gesprächspartnerinnen und -partner entwirft der Film das Panorama eines Landes an einem heiklen Punkt seiner politischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung. Ella Raidels neuer Film A Pile of Ghosts (2021), vom Autor dieser Zeilen ausgewählt, setzt diese Auseinandersetzung fort, begibt sich aber sozusagen auf das „nächste Level“. Die Kernfrage ist: Was ist echt, was ist fake, was ist inszeniert, was nicht? Es geht (auch) um Architektur und Landschaft, darum, was in China gerade geschieht, einem Land, in dem Bauspekulation zu den einträglichsten Wirtschaftszweigen zählt. Werden die schicken Wohnparks, die von adretten, rhetorisch geschulten Damen und Herren angepriesen werden, jemals bewohnt sein, oder entstehen – siehe Titel – neue Geisterstädte wie die absurde Vorzeige-Stadt Ordos, wo achtspurige Stadtboulevards leer bleiben und die Ampeln völlig nutzlos von Rot auf Grün schalten? Überall ist Baustelle in diesem Film, und auch das romantisch-kaputte „Swallow Hotel“ in Chongqing – hier setzt Raidel in einer angedeuteten Liebesgeschichte erstmals auch auf Spielfilm-Elemente, ohne groß darauf hinzuweisen – wird wohl abgerissen. Wer sich auf diesen Film einlässt (es gibt diesmal gar keine Kommentare oder Erklärungen – sprich: Man muss viel selber denken), wird reich belohnt.