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Wiener Festwochen / Filmmuseum

Schöpferisch und splitterhaft – Die Filmschau „Europa erzählen“

| Jörg Becker |
„Europa Erzählen“ – Filme aus den Jahren 1929 bis 2012: fünfzig Erzählungen von Europa, fünfzig Beispiele für die kommende Aufklärung.

Europa lässt sich nicht so einfach erzählen. Das ist der Ausgangspunkt der Schau des Österreichischen Filmmuseums im Rahmen der Wiener Festwochen. Es fehlt das einende Narrativ, wie man es gegenüber „Amerika“ kennt, das immer schon zur Gänze in seinem Mythos verschmolzen erschien. Eine „Erzählung Europa“ könne es nicht geben, vielmehr bestünde ein aufgeklärtes Verständnis des Kontinents und seiner Union in der Anerkennung seiner unfügsamen Herkünfte, widerstreitender historischer Kräfte  – vereint in jener Komplexität, die mit Brüssel und seinem EU-Apparat eine ökonomische Superbürokratie aufgesetzt bekommen hat, der die vielerorts anwachsenden Neo-Nationalismen eine interessenorientierte Rückkehr zu nationaler Autonomie entgegenstellen. Die Repräsentanz Europas in Erzählungen scheint nur jenseits nationaler Mythen vermittelbar, mit Schlaglichtern auf Regionalität und Heimat, Sesshaftigkeit und Wanderung, mit Bildern des Übergangs von Grenzen und Lebensformen, auch aus außereuropäischem Blickwinkel.

Schauplatz Europa

Im Film begegnet man Europa als Transitgebiet, das nach der Befreiung aus dem Konzentrationslager von einer Passagierin durchquert wird – in Pasazerka (1961-1963) von Andrzej Munk –, oder auch in den Schweizer Kantonen, wo ein moderner Odysseus, ein Handlungsreisender die Woche über einen Parfumkonzern vertritt – in Christian Schochers Reisender Krieger (1981). Europa bietet den Lebensraum für Bewohner einer spektakulär-automatisierten Playtime (1967, Jacques Tati) oder das unwirtliche, kalte Terrain für eine Vogelfreie, mit dem Blick auf eine Aussätzige jenseits des Schutzes zivilisatorischer Einfriedungen – in Agnès Vardas Sans toit ni loi (Vogelfrei, 1985). Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs ist Zentraleuropa ein Raum für Flüchtende, Displaced People, in Leopold Lindtbergs Die letzte Chance (1945), und in Topio stin Omichli (Landschaft im Nebel, 1988, Theo Angelopoulos) sind es Geschwisterkinder, die im Exil ihren Vater suchen. Europa ist auch erzählbar in Partikeln des Erinnerns oder Fortlebens kolonialen Denkens, etwa in Chocolat (1988, Claire Denis) oder Tabu (2012, Miguel Gomes), sowie als Ort der Furcht vor massenhafter Zuwanderung von Flüchtlingen, Asylsuchenden aus anderen Erdteilen, die bis dahin nur als Ressourcen- oder Absatzgebiete Beachtung fanden. Das Programm zeigt, wie man Fragen stellt zu den ökonomischen Verhältnissen der Wirtschaftsunion und wie man sie als trocken-objektive und kriminelle Vorgänge abbilden kann, etwa am Beispiel von Gerhard Benedikt Friedls Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen? (2004), in dem die unglaublichsten Fakten auf die alltäglichsten Bilder der Bundesrepublik treffen, und mit der Darstellbarkeit des Kapitals auch die Dimension des Politischen in Frage steht. Oder an Nicolas Klotz‘ Film La Question humaine / Heartbeat Detector (2007), in dem ein Betriebspsychologe den Auftrag zu einem verdeckten Persönlichkeitsgutachten über den Konzernchef erhält, wobei er über die Motive zu diesen Nachforschungen im Unklaren bleibt, doch bald auf die Spur einer unterdrückten Vergangenheit gerät.

Amnesie – Das Alte und das Neue

Einhergehend mit dem Sturz der Zarendynastie und dem autokratischen System entstehen in der Aufbauphase der sozialistischen Sowjetunion zukunftsenthusiastische Konstrukte eines „Neuen Menschen“. In Oblomok Imperii (Der Mann, der das Gedächtnis verlor, 1929, Friedrich Ermler) macht die Dramaturgie des Systemvergleichs das Werden des Neuen Menschen sowohl als Erinnerungsprozess wie auch in der Bewunderung seiner Modernisierungsleistungen als Bewusstwerdung einer ganzen sozialen Klasse deutlich. Dieser Film steht für ein eigenes Genre, das zwischen 1924 und 1932 in der nachrevolutionären Sowjetunion entstand: Ein russischer Arbeiter bleibt nach dem Erstem Weltkrieg und dem Bürgerkrieg traumatisiert und ohne Gedächtnis auf einer kleinen Bahnstation hängen. Zehn Jahre später werden durch eine Frau am Fenster eines haltenden Zuges seine Erinnerungen wieder lebendig, und er begibt sich auf die Suche nach seinem alten Leben. Aber nichts ist wie früher, das einstige Sankt Petersburg ist zum sozialistischen Leningrad geworden, als Erzählung begründet sich ein eigenes Sujet: Das Alte und das Neue. In der neuen Gesellschaft findet der Mann nicht nur sein Gedächtnis und schließlich seine Ehefrau wieder, sondern entwickelt auch ein neues soziales Bewusstsein.

In Oblomok imperii überwältigt den Arbeiter die Wahrnehmung, durch den revolutionären Innovationsschub während seiner Amnesie zum Betriebsbesitzer, Herrn der Produktionsmittel und Subjekt der Geschichte avanciert zu sein („Weißt du etwa nicht, dass wir die Herren verjagt haben?“), auf die kläglichen Überreste des Kaiserreichs zurückblickend und ein verwandeltes Privatleben im Rahmen des Kollektivs vor Augen. Demgegenüber ist woanders ein Rückschlag von katastrophisch-verbrecherischem Ausmaß denkbar, kraft der Belebung alter Ängste des durch anonymen willkürlichen Terror manipulierbaren Menschen, nach den Plänen, die Das Testament des Dr. Mabuse (1932/33) von Fritz Lang hinterlassen hat.

Proletarischer Internationalismus

„Der imperialistische Krieg wird durch den internationalen Kampf und die Solidarität des Proletariats niedergeschlagen“, schließt eine zeitgenössische Moskauer Rezension der Premiere von Okraina (Vorstadt, 1933, Boris Barnet). Während man zur Zeit des Weltkriegs schon einmal auf deutsche Kriegsgefangene einprügelt, erbost über den Feind, marschieren in der Folge der Revolution der deutsche Gefangene und der russische Handwerker in einer Reihe; Menschen, die gleiche Arbeit tun, welche keine Grenzen kennt, „Werktätige aller Länder“, haben kein Interesse daran, einander umzubringen, so sagt uns der Film, unter der politischen Voraussetzung, dass Nationalismus und dessen Konfliktaustragung durch Krieg allein im Interesse der besitzenden Klasse liegen könne.

Liebesdimensionen

Eine Liebesgeschichte, die mit den Folgen der Teilung in zwei deutsche Staaten, kulminierend im Mauerbau, verknüpft ist, in der Phase des Eisernen Vorhangs, der manifesten Trennung der Systeme quer durch Europa, erzählt Der geteilte Himmel (1964, Konrad Wolf). Dem psychischen Kollaps der Frau, nachdem ihr Geliebter die DDR in Richtung kapitalistischer Westen verlassen hat, folgt ihre Rückkehr an den Ort ihrer Kindheit: Refugium Heimat – Regression und Besinnung, und der Entschluss, ihm nicht hinterher zu ziehen, bedeutet irreversible Trennung der Liebenden zwischen unvereinbaren Systemen.

Eine wohlhabende Ehefrau, deren Sohn sich aufgrund einer Vernachlässigung das Leben genommen hat, gerät in eine tiefe Schuldkrise. Aus Sühne, Sinnsuche auch, stellt sie fortan ihr Leben mehr und mehr in den Dienst unglücklicher Mitmenschen, übt Demut und Selbstlosigkeit, lernt Armut und Elend der Vorstädte kennen. „Ich glaubte, Gefangene zu sehen“ – so ihre Stimme, als sie auf dem Weg hin zu einer Fabrik eingereiht ist in einen langen Zug von Arbeiterinnen, von denen sie eine Erkrankte vertritt. Sie landet, auf Betreiben ihres Mannes für geistesgestört erklärt, in einer psychiatrischen Klinik: Der Titel, Europa 51 (1952, Roberto Rossellini) stellt das Symptomatische der Handlung, die Geschichte einer Heiligen, die verhaltensauffällig wie ketzerisch Nächstenliebe übt, für den historischen Augenblick heraus, in einem Jahr der Konsolidierung nach dem Krieg.

Mensch und Kapital – ohne Gedächtnis, ohne Vergangenheit

In Confidential Report / Mister Arkadin (1955), dem europäischen Ruinenfilm von Orson Welles, hatte Eric Rohmer „unser Europa in einem eigentümlichen Licht“ erkannt. „In einem Jahrhundert, in dem Memoiren und Reportagen aller Art uns in bezug auf Detailwahrheiten anspruchsvoll gemacht haben, finden wir hier unser vertrautes Europa mit fremdem Antlitz vor, und trotzdem erkennen wir es wieder.“ Es geht um die Rekonstruktion des Falls eines Mannes ohne Gedächtnis, gleichsam aus dem Nichts aufgetaucht in Zürich, im neutralen Zentrum Europas, zugleich zentraler Bankenumschlagplatz des Kontinents. So wie die Vorgeschichte des Mannes eliminiert erscheint, unterliegt auch die Herkunft seines Kapitals der Amnesie, es sucht sich neu zu erfinden – quasi eine creatio ex nihilo – und das Wissen um die eigentliche Identität Arkadins spielt am Ende keine Rolle.

Ein Fremder ohne Namen, M., der seine Vergangenheit nicht kennt, der sich auch neu erfinden muss und dafür einzig auf sein Gefühl vertrauen kann, hat in einer Siedlung von Obdachlosen Unterschlupf gefunden. Gestrandet an Finnlands Küste, dann bewusstlos aufgefunden, scheint hier der Held wiedergeboren wie in US-Genres, die in Aki Kaurismäkis Mies vailla menneisyyttä (Der Mann ohne Vergangenheit, 2002) nicht ausagiert, nur herbeizitiert werden. Hier aber verfolgt der Film seinen Weg von mysteriösem Auftauchen durch die Mühlen der Sozialbürokratie bis ins Paradis social Kaurismäkis.

Epochen- und Grenzübergänge

Eine Gruppe von Flüchtlingen aus verschiedenen Ländern und Milieus versucht im Herbst 1943, vor den deutschen Truppen aus Norditalien in die Schweiz zu  fliehen. Ausgeprägte Mehrsprachigkeit charakterisiert den Film. Die Schweiz erscheint als Die letzte Chance (1944/45, Leopold Lindtberg) für die Verfolgten, jedoch nur, weil aufrechte Menschlichkeit sich in Wahrheit gegen Behördenvorschriften durchsetzen kann. Einmal doziert der Professor der Gruppe über die Schweiz als Modell einer Gesellschaft, in der Menschen verschiedener Sprache und Kultur einträchtig miteinander leben – er hat über „Die Entwicklung des europäischen Minoritätenproblems seit 1815“ geforscht.

Der 8. Mai 1945, der Tag, an dem der Film Popiół i Diament (Asche und Diamant, 1958, Andrzej Wajda) handelt, ist keine Stunde Null. Für den ehemaligen polnischen Widerstandskämpfer (Zbigniew Cybulski) stand nie in Frage, dass er für die Befreiung seines Landes deutsche Okkupanten töten musste; doch kaum ist der Krieg vorbei, erschießt er auf Betreiben seiner nationalistischen Auftraggeber einen kommunistischen Funktionär. Die Besatzer sind vertrieben, der Hauptwiderspruch ist gelöst, da tritt der politische Konflikt im Innern das Erbe an, der Krieg wird als Bürgerkrieg fortgesetzt, und die Partisanen, die eben noch Brüder waren im Kampf, stehen sich auf einmal als Feinde gegenüber. Zu seiner Entstehungszeit, 1958, war der Blick dieses Films auf die Befreiung von der Nazi-Tyrannei bar aller Illusion, ohne jedes Siegespathos; tatsächlich scheinen alle Hoffnungen auf Neubeginn wie geschluckt von den geschlossenen Räumen des Films, die ein existenzialistisches Grundgefühl der Orientierungslosigkeit und vergeblichen Utopien hinterlassen.

Valahol Európában (Irgendwo in Europa, 1948, Géza von Radványi) eröffnet mit einer Europakarte. Zwischen Trümmern streunt eine Gruppe von Kindern durch ein Niemandsland, eine wilde Horde, die Nahrung sucht. Aus der Besserungsanstalt gelingt die Flucht, doch dann, unter Leitung eines Burgherrn und Musikers, der die Rolle des Übervaters annimmt, glückt eine Art Bewährung am kulturellen Erbe, und das Asyl der Burgruine wird wiederaufgebaut, eine neue Heimat, die nicht ohne Läuterung über Opfer errichtet werden kann.

Migrationen in unterschiedliche Richtungen

Die Erzählung vom Schicksal einer Migrantenfamilie aus dem Mezzogiorno in der Industriemetropole Mailand, Rocco e i suoi fratelli (Rocco und seine Brüder, 1960) von Luchino Visconti, ist zugleich eine Sozialstudie über das Leben in den Vorstädten. Angesichts der unterschiedlichen Entwicklung der Söhne handelt sie von Assimilation und Scheitern, zeigt im Verhältnis zweier ungleicher Brüder, des Sünders und des Engels, eine an Stellen schockierende Passionsgeschichte, die auf die zutiefst archaische Seite des süditalienischen Charakters, der Rolle von „Gefühl, Gesetz und dem Tabu der Ehre“ (Visconti) abhebt.

Rätsel einer neuen Generation

Mit Godards Masculin – Feminin (1966) findet sich ein didaktischer Film ins Europa-Programm aufgenommen, der, auf der Basis zweier Geschichten von Maupassant, 15 präzise Ereignisse enthält und dessen Zwischentitelzeile: „Dieser Film könnte auch heißen: Die Kinder von Marx und Coca-Cola“ sprichwörtlich geworden ist. Als Bericht über junge Franzosen, ein Bild vom Bewusstsein einer Generation vor und nach der Wahl De Gaulles, hätte er, so Godard 1967 („Die Durchschnittsfranzösin existiert nicht“), vom Jugendminister subventioniert werden müssen. Die Außenwelt ist als große akustische Kulisse anwesend, und die Aufmerksamkeit gebannt vom sozialen Verhalten und den Mythen des Alltags. Treffend erscheint der Begriff „Conscience-fiction“ – Godard lässt Kino und Wirklichkeit aufeinanderprallen, und er konfrontiert Aktion mit Reflexion. Jene Ereignisse kreisen um die Schwierigkeit, gemeinsam zu sein in diesem historischen Moment, um die Konzentration aufs Private und die Eingebung des Augenblicks.

Auf der Ebene des Sehens ist Robert Bressons Le Diable probablement (Der Teufel möglicherweise, 1977) ein politischer Film, der Partei ergreift und dokumentarische Sequenzen einmischt zu den Horrorszenarien ökologischer Entwicklung, der Verwüstung der Natur, der Zerstörung der Städte. Die Bresson‘sche Hauptfigur, in ihrer Reinheit, Enthobenheit, Erleuchtetheit, auf dem Gipfel des Lebens verkörpert sie das „Wagnis der Jugend“, eine vergeblich bleibende Suche nach etwas, das auch in der Religion nicht zu finden ist.

Im Straßengraben wird die erfrorene Leiche einer jungen Vagabundin gefunden, im Süden Frankreichs: Sans toit ni loi (1985) – „ohne Dach und ohne Gesetz“. Die Rekonstruktion des Falles Mona, eine Erzählung von Agnès Varda über die letzten Lebenswochen der jungen Außenseiterin, stößt weder auf ein Verbrechen noch einen Schuldigen. Die Recherche bringt sie uns nicht näher, es bleibt das Rätsel einer neuen Generation, das sich nicht als bequemer Kontrast zwischen freiem, unglücklichen Antiheldentum des Individuums und der für alles verantwortlichen Gesellschaft darstellen lässt – ein Film, so Serge Daney, „wider den Zeitgeist“.

Fundamente / historische Quellen

Mit Il vangelo secondo Matteo (Das Evangelium nach Matthäus, 1964) steht ein Film im Programm, der dem Bibeltext folgt und für den Pier Paolo Pasolini den Menschen aus der Zeit Christi, sein Antlitz, seine Anmut, seine Landschaft in Süditalien findet, Armut und Stolz in den Gesichtern der Menschen von Apulien und Kalabrien, den Hütten und Werkzeugen, wo es vor zweitausend Jahren nicht sehr viel anders ausgesehen haben mochte. Die Welt und die Worte des Matthäus-Evangeliums erzählt Pasolini durch die Optik anderer Erzähler, in einer indirekten freien Rede.

Des weiteren gehört gewissermaßen zum historischen Fundament der Europa-Retrospektive Geschichtsunterricht (1972) von Danièle Huillet und Jean-Marie Straub, ein Film auf der Grundlage des Romanfragments „Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar“ von Bertolt Brecht. In 55 Einstellungen führt er Perspektiven auf die Geschichte vor, gibt eine Lektion über den Umgang mit den Quellen in Rezitation und Bildkomposition.